Die Politik der großen Zahlen (eBook)

Eine Geschichte der statistischen Denkweise
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2005 | 2005
XIII, 434 Seiten
Springer Berlin (Verlag)
978-3-540-27011-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Politik der großen Zahlen - Alain Desrosières
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Statistik ('Staatenkunde'), Wahrscheinlichkeitsrechnung und die Philosophie der Wahrscheinlichkeit sind auch als 'siamesische Drillinge' bekannt. Das Buch analysiert den Werdegang der Statistik und zeigt Verbindungen zwischen der internalistischen Geschichte der Formalismen und Werkzeuge sowie der externalistisch orientierten Geschichte der Institutionen auf. Der Spannungsbogen erstreckt sich vom Vorabend der Französischen Revolution bis hin zum Ende des Zweiten Weltkriegs, wobei Frankreich, Deutschland, England und die USA ausführlich behandelt werden. Was haben Richter und Astronomen gemeinsam? Wer waren die 'politischen Arithmetiker'? Was ist ein 'Durchschnittsmensch'? Wie ändert sich im Laufe der Zeit das, was man 'Realismus' nennt? Kann man vom Teil auf das Ganze schließen? Und wenn ja, warum? Welche Rolle spielt der Franziskanerorden? Wir begegnen Adolphe Quetelet, Karl Pearson, Egon Pearson, Francis Galton, Emile Durkheim und vielen anderen. Glücksspiele, Zufall, Bayesscher Ansatz, das St. Petersburger Paradoxon, der Choleravibrio, Erblichkeit, das Galtonsche Brett, Taxonomie, Wahlprognosen, Arbeitslosigkeit und Ungleichheit, die Entstehung der Arten, die Ordnung der Dinge und die Dinge des Lebens - das sind die Themen des Buches.

Vorwort des Übersetzers 7
Inhaltsverzeichnis 10
Einleitung: Soziale Tatbestände als Dinge 13
Eine anthropologische Sicht auf die Wissenschaften 16
Beschreibung und Entscheidung 19
Wie man dauerhafte Dinge macht 22
Zwei Arten der historischen Forschung 26
1 Präfekten und Vermessungsingenieure 31
Deutsche Statistik: Identifizierung der Staaten 34
Englische politische Arithmetik:Entstehung der Expertise 38
Franz¨osische Statistik des Ancien R´egime:Intendanten und Gelehrte 42
Revolution und Erstes Kaiserreich:Die”Adunation“ Frankreichs 48
Peuchet und Duvillard: schreiben oder rechnen? 52
Wie man Diversität durchdenkt 58
2 Richter und Astronomen 63
Aleatorische Verträge und faire Abmachungen 64
Konstruktiver Skeptizismus und Überzeugungsgrad 70
Der Bayessche Ansatz 76
Der "goldene Mittelweg" :Mittelwerte und kleinste Quadrate 82
Messungsanpassungen als Grundlage für Übereinkünfte 87
3 Mittelwerte und Aggregatrealismus 89
Nominalismus, Realismus und statistische Magie 91
Das Ganze und seine Trugbilder 93
Quetelet und der ”Durchschnittsmensch“ 96
Konstante Ursache und freier Wille 100
Zwei kontroverse F¨alle aus der medizinischen Statistik 105
Eine Urne oder mehrere Urnen? 111
Der angefochtene Realismus: Cournot und Lexis 115
Durchschnittstyp und Kollektivtyp bei Durkheim 120
Der Realismus der Aggregate 126
4 Korrelation und Ursachenrealismus 129
Karl Pearson: Kausalität, Kontingenz und Korrelation 132
Francis Galton: Vererbung und Statistik 139
Schwer zu widerlegende Berechnungen 150
Fünf Engländer und der neue Kontinent 156
Kontroversen über den Realismus der Modelle 164
Yule und der Realismus der administrativen Kategorien 168
Epilog zur Psychometrie:Spearman und die allgemeine Intelligenz 174
5 Statistik und Staat:Frankreich und Großbritannien 177
Französische Statistik – eine diskrete Legitimität 181
Entwurf und Scheitern eines Einflußnetzwerks 187
Statistik und Wirtschaftstheorie – eine späte Verbindung 194
Britische Statistik und öffentliche Gesundheit 198
Sozialenqueten und wissenschaftliche Gesellschaften 205
6 Statistik und Staat:Deutschland und die Vereinigten Staaten 211
Deutsche Statistik und Staatenbildung 212
Historische Schule und philosophische Tradition 218
Volkszählungen in der amerikanischen politischen Geschichte 223
Das Census Bureau: Aufbau einer Institution 230
Arbeitslosigkeit und Ungleichheit: Die Konstruktion neuer Objekte 234
7 Pars pro toto: Monographien oder Umfragen 247
Die Rhetorik des Beispiels 250
Halbwachs: Die soziale Gruppe und ihre Mitglieder 255
Die Armen: Wie beschreibt man sie und was macht man mit ihnen? 258
Von Monographien zu systematischen Stichprobenerhebungen 263
Wie verbindet man ”was man schon weiß“ mit dem Zufall? 269
Wohlfahrtsstaat, Inlandsmarkt und Wahlprognosen 270
8 Klassifizierung und Kodierung 275
Statistik und Klassifikation 276
Die Taxonomien der Lebewesen 278
Die Durkheimsche Tradition:sozio-logische Klassifizierungen 282
Die Zirkularität von Wissen und Handeln 286
Gewerbliche Tätigkeiten: instabile Verbindungen 289
Vom Armen zum Arbeitslosen:Die Entstehung einer Variablen 295
Ein hierarchischer, eindimensionaler und stetiger sozialer Raum 300
Vom Gewerbe zur qualifizierten T¨atigkeit 305
Vier Spuren der Französischen Revolution 309
Eine Urne oder mehrere Urnen: Taxonomie und Wahrscheinlichkeit 314
Wie man einer Sache Zusammenhalt verleiht 318
9 Modellbildung und Anpassung 323
Wirtschaftstheorie und statistische Beschreibung 326
Glaubensgrad oder Langzeithäufigkeit 329
Zufälligkeiten und Regelmäßigkeiten: Frisch und der Schaukelstuhl 335
Mittel gegen die Krise: Das Modell von Tinbergen 340
Ingenieure und Logiker 345
¨Uber den richtigen Gebrauch der Anpassung 348
Autonomie und Realismus von Strukturen 355
Drei Methoden zur Berechnung des Nationaleinkommens 359
Theorien testen oder Diversität beschreiben? 363
Schlußfolgerung: Das Unbestreitbare in Zweifel ziehen 371
Ein zu praktischen Zwecken konstruierter kognitiver Raum 372
Mittelwerte und Regelmäßigkeiten, Skalen und Verteilungen 375
Ein Raum für Verhandlungen und Berechnungen 380
Statistische Argumentation und soziale Debatten 384
Nachwort: Wie schreibt man Bücher, die Bestand haben? 387
Einige zwischen 1993 und 2000 veröffentlichte Arbeiten 387
Wie verbindet man die Aspekte der Geschichte der Statistik? 390
Wie bedienen sich die Sozialwissenschaften dieser Aspekte? 392
Kritiken und Diskussionsthemen 397
Anhang: Abkürzungen 401
Literaturverzeichnis 405
Namensverzeichnis 425
Stichwortverzeichnis 433

5 Statistik und Staat: Frankreich und Großbritannien (S. 165-166)

Der Begriff der Statistik im ältesten Sinne des Wortes geht ins 18. Jahrhundert zurück und beinhaltet eine Beschreibung des Staates durch ihn und für ihn (vgl. Kapitel 1). Zu Anfang des 19. Jahrhunderts kristallisierte sich in Frankreich, England und Preußen um das Wort "Statistik" eine Verwaltungspraxis heraus und man entwickelte Formalisierungstechniken, bei denen die Zahlen im Mittelpunkt standen.

Spezialisierte Bureaus wurden damit beauftragt, Zählungen zu organisieren und die von den Verwaltungen gef¨uhrten Register zu kompilieren, um für den Staat und für die Gesellschaft Darstellungen zu erarbeiten, die den Handlungsweisen und dem Ineinandergreifen von Staat und Gesellschaft in angemessener Weise entsprachen. Die Formalisierungstechniken bestanden aus Zusammenfassungen, Kodierungen, Totalisierungen, Berechnungen und Konstruktionen von Tabellen und gra.schen Darstellungen. Diese Techniken ermöglichten es, die durch die Staatspraxis gescha.enen neuen Objekte mit einem einzigen Blick zu überschauen und miteinander zu vergleichen. Man konnte jedoch keine logische Trennung zwischen Staat, Gesellschaft und den Beschreibungen vornehmen, die von den statistischen Bureaus geliefert wurden.

Der Staat setzte sich aus besonderen – mehr oder weniger organisierten und kodiffizierten – Formen von Beziehungen zwischen den Individuen zusammen. Diese Formen ließen sich – vor allem mit Hilfe der Statistik – objektivieren. Aus dieser Sicht war der Staat keine abstrakte Entität, die außerhalb der Gesellschaft stand und in den verschiedenen Ländern identisch war. Es handelte sich vielmehr um eine singuläre Gesamtheit von sozialen Bindungen, die sich verfestigt hatten und von den Individuen in hinreichender Weise als Dinge behandelt wurden. Und zumindest für den Zeitraum, in dem der betreffende Staat existierte, waren diese sozialen Tatbestände tatsächlich Dinge.

Innerhalb der Grenzen, die durch diese historische Konsolidierung der staatlichen Zusammenhänge abgesteckt waren, stellen die statistischen Bureaus und ihre Tabellierungen Quellen für den Historiker dar. Aber der Historiker kann auch die Peripetien und Besonderheiten der allmählichen Errichtung dieser Bureaus als Momente der Bildung moderner Staaten betrachten, wie sie im Laufe des 19. Jahrhunderts entstanden sind. In den beiden vorhergehenden Kapiteln hatten wir – vom Standpunkt der wissenschaftlichen Rhetoriken und deren Darlegung – die Konsistenz der von der Statistik produzierten Dinge untersucht und unsere Untersuchung erstreckte sich von Quetelet bis hin zu Pearson. Aber diese Konsistenz hing auch mit der Konsistenz der staatlichen Einrichtungen und deren Solidität zusammen, und sie hing mit dem Umstand zusammen, der die Individuen veranlaßte, diese Institutionen als Dinge zu behandeln, ohne sie ständig infrage zu stellen. Diese Solidität kann ihrerseits das Ergebnis einer Willkürherrschaft oder einer konstruierten Legitimität sein, wie es in unterschiedlichen Formen in den Rechtsstaaten der Fall war, die gerade im 19. Jahrhundert aufgebaut wurden.

Diese Legitimität war nicht per Dekret vom Himmel gefallen. Vielmehr wurde sie Tag für Tag geformt und gewoben, vergessen, bedroht, infrage gestellt und unter erneuten Anstrengungen wiedererrichtet. Innerhalb dieser Legitimität der staatlichen Institutionen nahm die Statistik eine Sonderstellung ein: sie setzte einen allgemeinen Bezugsrahmen, der mit zwei Garantien ausgestattet war – der Garantie des Staates und der Garantie von Wissenschaft und Technik. Das subtile Ineinandergreifen von Staat, Wissenschaft und Technik verlieh der amtlichen Statistik eine besondere Originalität und Glaubwürdigkeit.

Erscheint lt. Verlag 12.12.2005
Übersetzer Manfred Stern
Zusatzinfo XIII, 434 S.
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Mathematik / Informatik Mathematik Statistik
Mathematik / Informatik Mathematik Wahrscheinlichkeit / Kombinatorik
Technik
Wirtschaft
Schlagworte 20. Jahrhundert • Codierung • Demoskopie • Empirische Sozialforschung • Kausalität • Korrelation • Medizinische Statistik • Mittelwert • Statistik • Wahrscheinlichkeitsrechnung
ISBN-10 3-540-27011-6 / 3540270116
ISBN-13 978-3-540-27011-9 / 9783540270119
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