Nägel mit Köpfen (eBook)
336 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27862-2 (ISBN)
Ohne die antike Pumpe keine Herz-Lungen-Maschine, ohne Rad kein Helikopter. Seit Jahrtausenden macht der Mensch Erfindungen und entwickelt sie weiter. Roma Agrawal beleuchtet die 7 Dinge, die die Basis unserer Welt ausmachen: Nagel, Faden, Rad, Linse, Magnet, Feder und Pumpe. Jedes Objekt eröffnet einen tiefen Einblick in die Historie menschlicher Innovationskraft. Gleichzeitig erzählt Roma Agrawal ihre eigene Familiengeschichte zwischen Indien und Europa und zeigt, wie technische Entwicklungen die menschlichen Schicksale prägen. Ein Buch, das den Blick auf die Welt verändert und beweist, dass das Rad eben doch immer wieder neu erfunden wird.
Roma Agrawal, geboren 1983 in Mumbai, ist Physikerin und Bauingenieurin. Sie gilt als profilierteste britische Vertreterin der 'Women in Science'. Für ihre Arbeit erhielt sie diverse Preise, u. a. den Women in Construction Award Engineer of the Year (2014) und den Diamond Award for Engineering Excellence (2015). Bei Hanser erschien zuletzt Die geheime Welt der Bauwerke (2018).
Der Nagel
»Rot? Noch nicht heiß genug!«, übertönt Rich den Lärm der Werkstatt.
In der bloßen Hand halte ich das obere Ende einer dünnen Stahlstange, die etwa die Länge meines Arms hat. Ihre Spitze lag bis eben in glühendem Koks, der bei über tausend Grad Celsius in einem Steinofen brennt. Ein Ventilator bläst Luft hinein, damit die Flamme noch heißer wird. Der Stab glüht wütend rot, aber Rich, der Schmied, sagt mir, das reiche noch nicht. Also schiebe ich ihn zurück ins Feuer, bis er ein sengendes Orangegelb angenommen hat. Jetzt kann ich versuchen, aus dem leuchtenden Stück Stahl einen Nagel werden zu lassen.
Dafür benötige ich Werkzeuge. Vor mir steht ein Amboss — der traditionelle wuchtige Stahlblock, bis heute unverzichtbar in jeder Schmiede. Ganze 102 Kilo schwer, wie die Gravur an der Seite angibt. Ich lege das glühende Stabende auf seinen flachen Teil und schlage mit einem schweren Hammer darauf, bis das Metall flacher wird. Noch ein paar Schläge, dann drehe ich das Werkstück um neunzig Grad und bearbeite es weiter. Doch bald darauf wird das Stabende dunkler, und ich spüre, wie der Hammer abprallt. Die Schläge werden härter. Das Metall hat sich abgekühlt. Also zurück ins Feuer damit, bis es wieder orangegelb glüht. Und dann nochmals hämmern, drehen, wieder aufheizen. Ich brauche drei Durchgänge, um eine halbwegs gelungene Spitze herauszuarbeiten. (Rich schafft es in einem.) Doch irgendwann nimmt das Stabende die Form eines Nagels an.
Als Nächstes stecke ich einen Meißel, die »Abschrot«, mit dem scharfen Ende nach oben in ein Vierkantloch im Amboss, die »Gesenkaufnahme«. Ich lege den glühenden, nun spitz zulaufenden Stab über die Klinge des Meißels und schlage von beiden Seiten Kerben hinein, damit ich das bearbeitete Stück leichter abtrennen kann. Das letzte Werkzeug, das ich benötige, ist das Locheisen: eine Metallplatte mit Griff, die mit unterschiedlich großen Löchern versehen ist. Ich wähle ein Loch, das die Stabspitze bis auf ein kleines Kopfstück aufnimmt. Mit einer kräftigen Drehung breche ich meinen nahezu fertigen Nagel vom Stab ab. Jetzt hängt die Spitze des Nagels nach unten durch das Loch, wobei das restliche Stabstück etwa ein Zentimeter oben herausschaut. Die Spitze des Nagels versenke ich in einem kreisförmigen Ausschnitt im Amboss, dann schlage ich schnell auf das herausstehende Ende und stauche es zu einem Nagelkopf.
Zum Schluss wird »gelöscht«: Ich tauche den immer noch im Locheisen steckenden Nagel in einen Wassertrog, worauf es ordentlich zischt und dampft. Dann ziehe ich ihn heraus, klopfe ihn mit einem sanften Hammerschlag aus der Form, und er fällt mit einem hübschen Pling! zu Boden. Ich halte einen etwas groben, noch leicht warmen fertigen Nagel in der Hand.
Nägel mögen nicht wie ein Meisterstück der Ingenieurskunst daherkommen, aber wenn wir uns mal umblicken, entdecken wir sie nahezu überall. Wenn ich von dem Tisch aufschaue, an dem ich diese Seiten schreibe, sehe ich Bilder, die an Nägeln hängen, und Regale, die mit Nägeln zusammengebaut sind. Auch der Tisch und selbst die Schuhe, die ich unter ihm abgeworfen habe, würden ohne sie auseinanderfallen. Die Wände aus verputzten Holzpaneelen, der von Holzbalken gestützte Boden — all das wird durch Nägel verbunden. Die meisten dieser Nägel kann ich gar nicht sehen, da sie in Holz, Leder oder Mauersteinen stecken, aber ich weiß um ihr stilles und beruhigendes Vorhandensein.
Nägel ermöglichen uns, Dinge miteinander zu verbinden. Das hört sich nicht großartig an, doch brachte ebendiese Möglichkeit einen radikalen Wandel. Fast alles Menschengemachte, das uns umgibt, ist eine Zusammenfügung verschiedener Teile und Materialien — ein Umstand, über den wir heute nicht mehr nachdenken. Das war nicht immer so. Vor vielen Jahrtausenden bestand die Schaffung von etwas Neuem darin, einem Material eine zweckgerichtete Form zu geben: Unsere Vorfahren gruben eine Höhle in einen Fels, sie spitzten Steine, um sie als Werkzeug zu gebrauchen, oder sie legten einen Baumstamm als Brücke über einen Fluss. All das waren wichtige und nützliche technische Entwicklungen. Für komplexere Behausungen aber, Speere mit Steinspitze oder eine Brücke, die länger war als ein Baumstamm, mussten Teile verbunden werden — was eine enorme Differenzierung der vom Menschen geschaffenen Dinge erlaubte.
Natürlich kann man eine Brücke auch mit Steinstapeln stützen. Oder Dinge mit Seilen oder Lederriemen verbinden. (Seit geraumer Zeit auch mit Klebstoff.) Aber Nägel und ihre Abkömmlinge — Niete, Schrauben und Garnituren aus Mutter und Schraube — ermöglichten die stabile Verbindung von verschiedenen Materialien, und zwar auf ganz unkomplizierte, für jeden zugängliche Art und in allen möglichen Größenordnungen: Pfosten und Balken zimmerte man zu Häusern zusammen, aus verbundenen Holzplanken entstanden Boote, später aus Stahlblechen Schiffe. Aus zusammengefügten Teilen wurden Skulpturen, Schlösser, Uhren. Eine Welt ohne Nägel ist kaum vorstellbar: Wir können schließlich nicht mit Schnüren zusammengebundene Satelliten ins All schicken oder die beweglichen Teile von Uhren zusammenkleben.
*
Meinen Nagel habe ich in dem Dorf Much Hadham in Hertfordshire geschmiedet. Die dortige Schmiede ist seit 1811 in Betrieb. Das Ergebnis meiner Bemühungen war ziemlich kantig, dick und schief, außerdem hatte es mich ordentlich Kraft gekostet. Vom Hämmern hatte ich Blasen an den Händen und Muskelzittern in den Armen. Heutzutage werden die allermeisten Nägel natürlich maschinell hergestellt, aber über Tausende Jahre, angefangen bei den Ägyptern und Römern, haben die Menschen sie so wie ich in Much Hadham handgeschmiedet.
Dass mir das Werkstück so viel Mühe gemacht hat, hängt mit der Formbarkeit des Materials zusammen. Zur Geschichte des Nagels gehört die Geschichte des Metalls. In seltenen Fällen kann es von Vorteil sein, Nägel aus anderen Materialien wie Holz herzustellen, doch erst der Eisennagel brachte den Umschwung. Metall hat zwei Eigenschaften, deren Zusammenspiel es zum unübertroffenen Material für die Nagelherstellung macht. Zum einen ist es fest genug, um mit Hammerschlägen in andere Materialien getrieben zu werden. Und zum anderen kann es in eine spitze Form gebracht werden, da Metalle eine kristalline Struktur haben, die ihnen eine besondere »Duktilität« oder Zähigkeit verleiht. Die Kristalle können sich nämlich bis zu einem gewissen Grad übereinanderschieben. Aus diesem Grund können wir eine Büroklammer auseinanderbiegen, ohne dass sie zerbricht. (Duktilen Werkstoffen stehen spröde oder brüchige Werkstoffe gegenüber, welche bei Krafteinwirkung leicht bersten — wie etwa Glas.)
Metall wird durch hohe Temperaturen verformbar. Die Hitze des Schmiedefeuers regt die schwebenden Elektronen und die Atome in der kristallinen Struktur an, sodass sie in heftige Bewegung geraten. Da Metalle gute Wärmeleiter sind, verteilt sich die zugeführte Energie rasch. Die verschiedenen Metalle unterscheiden sich bezüglich ihres Schmelzpunkts und ihrer Leitfähigkeit, doch immer gilt: Je heißer das Metall wird, desto mehr gleiten die Atome und Elektronen übereinander und lassen das Material weich und geschmeidig werden, sodass es in Form gehämmert werden kann. Erstaunlicherweise verändert sich durch die Hitze und die Hammerschläge auch die eigentliche Struktur des Metalls, da die großen, groben Kristalle in kleinere, regelmäßigere Kristalle umgewandelt werden: Auf diese Weise erhält man beim Abkühlen ein festeres, härteres und beständigeres Material.
Schon in der Steinzeit, also vor rund 8000 Jahren, begannen Menschen mit der Bearbeitung von Gold. Im Anschluss entdeckten sie Kupfer, Silber und Blei. Die meisten dieser Metalle sind zu weich, als dass man Nägel aus ihnen herstellen könnte, doch Kupfer war das erste in dieser Hinsicht vielversprechende Material. Einfallsreiche Köpfe unter unseren Vorfahrinnen fanden heraus, wie man aus einer Mischung aus Kupfer und Blei Bronze fertigen konnte, und schufen damit ein Material, aus dem sich haltbarere Werkzeuge,...
Erscheint lt. Verlag | 25.9.2023 |
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Übersetzer | Ursula Held |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Nuts and Bolts |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Naturwissenschaft |
Technik | |
Schlagworte | Das geheime Leben der Bauwerke • Entdeckungen • Erfindungen • Europa • Faden • Feder • Helikopter • Herz-Lungen-Maschine • Indien • Ingenieurwesen • Kugel • Kulturgeschichte • Linse • Magnet • MINT • Nagel • Physik • Technik • women in science |
ISBN-10 | 3-446-27862-1 / 3446278621 |
ISBN-13 | 978-3-446-27862-2 / 9783446278622 |
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