Das Reh (eBook)

Über ein sagenhaftes Tier

(Autor)

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2022
224 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27554-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Reh - Rudolf Neumaier
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Verehrt, besungen, gejagt - die faszinierende Kulturgeschichte des Rehs als Inspiration für die Menschen von Hildegard von Bingen bis Franz Marc
Rehe bezaubern. Ihre Anmut hat Maler wie Franz Marc und Dichter wie Christian Morgenstern inspiriert. Und Bambi streift als beliebtester Rehbock durch die Filmgeschichte. Doch jetzt sollen die Rehe an der Misere der Wälder schuld sein. Rudolf Neumaier beleuchtet die Erzählungen und Debatten rund ums Reh über die Jahrhunderte hinweg. Erstmals erzählt er die faszinierende Kulturgeschichte des Rehs vom Wildbret der kleinen Leute zum Emblem von Tattoo-Studios. Eine Hommage an das Reh und ein Weckruf für alle, denen die sagenhaften Waldwesen am Herzen liegen.

Rudolf Neumaier, aufgewachsen im Berchtesgadener Land, studierte Geschichte und Germanistik in Regensburg. Von 1999 bis 2021 war er Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung, im Feuilleton von 2010 bis 2021. Heute ist er Geschäftsführer des Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege in München.

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Warum ich mir über Rehe Sorgen mache und über sie schreibe


Rehe sind herrenlos. Genauso wie Füchse, Dachse, Marder und all die anderen Tiere in unseren Wäldern. Sie gehören weder dem Bauern, auf dessen Feldern sie ihre Kitze zur Welt bringen und schmackhafte Kräuterblumen aus den Wiesen zupfen, sofern überhaupt noch Blumen wachsen, weil sehr viele Bauern ihre Wiesen sechs Mal im Jahr mähen und sechs Mal mit Gülle zudecken — wie soll da überhaupt noch eine schmackhafte Knospe zum Sprießen kommen? Noch gehören die Rehe den Förstern, in deren Wälder sie sich zurückziehen, weil es draußen zu ungemütlich geworden ist wegen der Mähmaschinen und der Gülle — und wegen der Jäger. Rehe gehören auch nicht den Jägern, jedenfalls nicht, solange sie leben. Erst wenn ein Jäger ein Reh erlegt hat, darf er es sich aneignen. Als Geschöpfe, denen Paragraf 960 des Bürgerlichen Gesetzbuchs ihre Herrenlosigkeit garantiert, büßen Rehe ihre Freiheit erst mit dem Tod ein. Bis dahin gehören sie uns allen, sie sind vogelfrei. Wir alle haben ein Recht darauf, dass es Rehe gibt. Und dass wir sie zu sehen bekommen.

Rehe sind die ersten Wildtiere, an die ich mich erinnere. Es gab die Hühner meiner Großmutter, die Hauskatze und die Kühe, Pferde und Schweine der Landwirte in meinem kleinen Dorf und die Spatzen und Schwalben, die ich aber in den Hühner- und Kuhställen als Haustiere wahrnahm. Das Dorf heißt Kulbing und liegt im nördlichsten Zipfel des Berchtesgadener Landes. Als ich in den Siebzigerjahren ein Kind war, wurden die Kühe noch alle auf die Weiden gelassen; ich half manchmal am Abend beim Eintreiben zum Melken. Katzen und Kühe, Hühner und Stallhasen waren okay und lieb und nett, aber nichts Besonderes. Bei Rehen war das anders.

Meine Großeltern hatten in dem vormals kleinen bäuerlichen Anwesen eine Sommerpension eingerichtet. Die Gäste aus Hamburg, Düsseldorf, Wanne-Eickel und München — ich nannte sie »Breißn« (Preußen), auch die Münchner — verbrachten hier ihre Sommerfrische, sie badeten im Abtsdorfer See, und am Abend feierten sie ihren Urlaub mit Bier und Schnaps der Marke Steinhäger. Einer dieser Gäste hatte ein Fernglas dabei. Ich glaube, er hieß Schulze, und bilde mir ein, dass er aus dem Ruhrgebiet kam. Mir klingen noch seine Äußerungen »Dat mussu dir mal ankucken, Rudi« und »Rehe ohne Ende« mit lang gedehnten eeees in den Ohren. Einmal sagte er auch: »Die Rehe stehen da vorm Wald wie der Russe in der Kampflinie.« Mit dem Wald meinte er den Kulbinger Filz, der hinter einer Anhöhe namens Bubenberg vor unserem Haus lag. Nach dem Abendessen, das meine Oma den Gästen kochte und ich oft auftrug, und vorm Steinhäger-Trinken ging Schulze in der Abenddämmerung mit seinem Fernglas Rehe gucken, das war für mich als Sechs-, Siebenjährigen ziemlich spät.

Ob Schulze oder ich meine Mutter überredete, dass ich mitkommen durfte zum »Rehekucken«, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls erinnere ich mich gut, dass mein Großvater, Jahrgang 1903, und meine Großmutter, Jahrgang 1914, es ein wenig irritierte, als ich ihnen von Schulzes Beobachtungen berichtete. »Der Herr Schulze sagt, dass die Rehe vorm Filz stehen wie der Russe in der Kampflinie.« Mein Großvater reagierte interessiert, aber keineswegs erheitert. Er kannte »den Russen« aus dem Zweiten Weltkrieg; an der Ostfront hatte er eine Schussverletzung erlitten. Den Haken an Schulzes Vergleichen kapierte ich erst viel später.

Jedenfalls sah ich die Rehe eines Abends in einem Sommer der Siebzigerjahre vom Bubenberg aus; mit Herrn Schulzes Fernglas. Während ich staunte und zählte, flüsterte Schulze den anderen Begleitern etwas von einem »Battalliong« zu. Ich staunte über Schulze, ich hätte nie gedacht, dass dieser Mann so leise reden kann. Und ich staunte über die Rehe und das Wort Bataillon, das mir neu war. Was es bedeutete, ließ sich ja erschließen. Es waren mehr als zwei Dutzend Rehe. Eine Herde, kann man sagen.

Dieses Bild habe ich nie vergessen. Die Rehe fesselten mich.

Als ich später Werke des Malers Franz Marc sah, musste ich an meine Kindheit denken. An die Tiere vor dem Kulbinger Filz, dieses heilige Idyll, das mir Schulze, der Sommerfrischling, gezeigt hatte.

Wenn ich’s recht bedenke, kam ich mit Franz Marcs Kunst ziemlich genau in den Jahren in Verbindung, in denen ich bei den Besuchen daheim in Kulbing regelmäßig mit meinen Eltern bei Heidi einkehrte, um Reh zu essen. Möglicherweise werden jetzt einige Leserinnen und Leser innehalten und sich fragen, was das soll. Da befasst sich einer jahrelang mit Rehen, er schwärmt von ihnen, er vergöttert sie. Und dann isst er sie auf! Es ist das klassische Dilemma von tierliebenden Fleischessern. Ich bin mit vergleichsweise vielen Vegetariern befreundet, denen ich erspare, ein Schnitzel Wiener Art zu bestellen, wenn ich mit ihnen im Restaurant bin. Besser gesagt, ich erspare es ihnen, weil sie sich empören müssten, und mir erspare ich ihre Blicke. Immerhin achte ich darauf, dass ich kein Billigschwein aus einer Schweinefabrik esse. Pute hat bei mir generell keine Chance; ich habe zu viele Putenhaltungsfilme im Fernsehen gesehen. Gegen Reh haben die meisten Vegetarier allerdings nichts einzuwenden. Es hat sein Leben in absoluter Freiheit verbracht und im besten Fall nicht einmal seine eigene Tötung mitbekommen, weil die Büchsenkugel des Jägers schneller unterwegs ist als der Schall und ein gut getroffenes Reh sofort tot umfällt. Wenn ich bei Heidi ein Schweineschnitzel verzehren würde, wäre das Schweineschnitzelverzehren eine vergleichsweise abstrakte Angelegenheit, weil außer einem panierten oder von Soße bedeckten Stück Fleisch nichts vom Schwein zu sehen ist. Rehe sind präsenter. In vielen bayerischen Gaststätten hängen die Totenschädel von Rehböcken an der Wand. Bei Heidi auch.

Heidi ist Jägerin und Wirtin und Köchin, sie führt ein Gasthaus in Saaldorf nahe Salzburg, aber auf der deutschen Seite. Auf ihrer Speisekarte stehen mindestens sechs Rehgerichte. Rehschnitzel, Rehbraten, Rehmedaillons und und und. Ich nehme Rehragout, nichts anderes. Heidi hatte eine solche Freude an meinem Appetit, dass sie mir immer doppelten Nachschlag gab und einen zweiten Semmelknödel mit gefühlt 15 Zentimetern Durchmesser. Was soll’s, sagte ich mir, Reh hält ganz bestimmt schlank, jedenfalls im Gegensatz zu einer Schweinshaxe. Beim Essen dachte ich nicht an Franz Marc und ausnahmsweise auch nicht an die Rehe vorm Kulbinger Filz, allenfalls kam mir mal das bayerische Volkstanzlied mit dem Titel »Rehragout« in den Sinn. Man kann schon ins Grübeln kommen. War das Rehragout dafür verantwortlich, dass das Lied so bekannt wurde in Bayern? Oder war es umgekehrt — dass dieses Gericht erst durch dieses eingängige Stück aus der traditionellen Volksmusik Popularität erlangte? Der Text ist denkbar schlicht und kurz: »Ja, was gibt’s denn heut auf Nacht? Ja, was gibt’s denn heut auf Nacht? Heut’ gibt’s a Rehragout, a Rehragout, a Rehragout.« Man tanzt im gemütlichen Polkaschritt dazu. Irgendein Spaßvogel dichtete dann eine zweite Strophe dazu, in der die Qualität dieser Speise in Zweifel gezogen und Schweinefleisch als besser oder edler dargestellt wird: »Ich wüsste noch was Feiners, von der toten Sau ein Schweiners.« Klar, über Geschmacksfragen soll man nicht streiten; ich vertrete allerdings die Meinung, dass der beste Schweinebraten nicht mit Rehragout mithalten kann, und schon gar nicht mit dem von Heidi.

Ein Reh zu töten kostet Überwindung. Ich war 47 Jahre alt, als ich die Jägerprüfung absolvierte. Tiere zu töten hatte mir nie Probleme bereitet. Ich war damit aufgewachsen, dass Tiere sterben müssen. Beim Nachbarn auf dem Bauernhof wurde einmal im Jahr die Sau gestochen; wir Kinder waren dabei, und die Nachbarin gab mir den Rüssel und die Ohren des Schweines in einer Schüssel mit nach Hause. Mein Großvater liebte diese knorpeligen Extremitäten, er kaute sie genüsslich mit seinen dritten Zähnen, dass es krachte. Mit sieben oder acht Jahren engagierte mich meine Großmutter zum Hühnerschlachten. Mit dem Hackebeil spaltete ich schon recht versiert Brennholz, da traute sie mir auch das Trennen eines Huhns von seinem Haupt zu. Ich mochte unsere Hühner, aber was sein musste, musste sein: Wenn sie alt waren und keine Eier mehr legten, gehörten sie weg. Oder sagen wir so: Sie waren dann reif für die Suppe. Sentimentalitäten wie ein...

Erscheint lt. Verlag 24.10.2022
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Natur / Technik Natur / Ökologie
Technik
Schlagworte Abschussquoten • Anmut • Bambi • Bayerischer Landesverein für Heimatpflege • Christian Morgenstern • Das Evangelium der Aale • Eleganz • Förster • Franz Marc • Heinz Erhardt • Helen Macdonald • Hildegard von Bingen • Hochsitz • Jagd • Jagen • Jäger • kitz • Kulturgeschichte • Landwirtschaft • Nature writing • Patrick Svensson • Rehleber • Rehrücken • Ricke • Süddeutsche Zeitung • Tiere bei Nacht • Tiere beobachten • Tiergedichte • Trughirsche • Wald • Wärmebildkamera • Zedlers Universal Lexicon
ISBN-10 3-446-27554-1 / 3446275541
ISBN-13 978-3-446-27554-6 / 9783446275546
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