Expeditionen in eine schwindende Welt (eBook)
224 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01290-5 (ISBN)
Stefanie Arndt, geboren 1988, hat Meteorologie in Berlin und Hamburg studiert. Als Meereisphysikerin am Alfred-Wegener-Institut erforscht sie seit einem Jahrzehnt die Entwicklungen in Antarktis und Arktis. Wenn sie nicht gerade die Ergebnisse ihrer Expeditionen ins ewige Eis auswertet, für die nächste große Forschungsreise an Bord der Polarstern packt oder eine Konferenz besucht, ist sie, sooft es geht, vor Ort in der Antarktis, um Schnee und Eis zu untersuchen.
Stefanie Arndt, geboren 1988, hat Meteorologie in Berlin und Hamburg studiert. Als Meereisphysikerin am Alfred-Wegener-Institut erforscht sie seit einem Jahrzehnt die Entwicklungen in Antarktis und Arktis. Wenn sie nicht gerade die Ergebnisse ihrer Expeditionen ins ewige Eis auswertet, für die nächste große Forschungsreise an Bord der Polarstern packt oder eine Konferenz besucht, ist sie, sooft es geht, vor Ort in der Antarktis, um Schnee und Eis zu untersuchen.
Faszination Eis
Mein großer Bruder besaß früher einen Globus. Als Kind hockte ich oft davor, drehte ihn und sah mir die Kontinente an. Die Länder waren in verschiedenen Farben eingezeichnet, doch die vorherrschende Farbe war Blau – das Meer. In weiten Flächen dehnte es sich zwischen dem bunten Stückwerk aus. Oben und unten, dort wo der Globus in der Halterung saß, erstreckten sich große weiße Flächen – das «ewige Eis». Eingerahmt von Landmassen lag die Arktis direkt oben auf. Aber um die Antarktis sehen zu können, musste ich den Kopf weit neigen, so tief unten lag sie. Um sie her: nichts als tiefes Blau.
Dass ich als Erwachsene noch oft an diesen Globus zurückdenken würde, während ich in der Arktis und Antarktis den Schnee erforsche, das konnte ich mir damals nicht vorstellen. Auch heute, zwanzig Jahre später, führt mir diese Erinnerung vor Augen, wie weit mein Arbeitsplatz vom Rest der Welt entfernt ist, wie unwirtlich und entlegen er anderen Menschen erscheinen muss. Weit entfernt nicht nur von dem alltäglichen Leben, das wir führen, sondern auch von der Umwelt, die uns umgibt, den Bedingungen, wie wir sie kennen.
4000 Kilometer liegen zwischen der Antarktis, meiner Forschungsheimat, und den nächsten besiedelten Regionen. Bis nach Berlin, in die pulsierende Hauptstadt Deutschlands und dem Ort, wo meine Familie lebt, sind es über 14000 Kilometer.
Wenn ich heute an Bord der Polarstern, dem deutschen Forschungseisbrecher und Flaggschiff des Alfred-Wegener-Instituts, in den Polarregionen unterwegs bin, bin ich das als Teil einer Gruppe von meist über hundert Expeditionsteilnehmer*innen aus den verschiedenen Ecken dieser Welt, neben der 44-köpfigen Crew des Eisbrechers – darunter der Kapitän, Ingenieure, Stewards und Stewardessen, Koch, Schiffsarzt und Schiffsmechaniker – Wissenschaftler*innen aus der Meteorologie, der Meereisphysik, der Ozeanografie, der Biologie und vielen anderen Forschungszweigen: Gemeinsam forschen wir Seite an Seite in den entlegensten Regionen der Erde, um zu verstehen, wie sich die Polarregionen und mit ihnen der Planet, den wir Menschen unsere Heimat nennen, verändert. Wie schon die ersten Forscher, die zu diesen Reisen aufbrachen, wollen auch wir «verschiedenartige wissenschaftliche Beobachtungen» gewinnen und «zum Verständnis jenes riesigen Erdraumes, wie zum Fortschritt aller Wissenszweige» beitragen.
Auf der Reise in die Polarregionen lösen die ersten am Horizont gesichteten Eisberge auf der Polarstern pure Freude aus – sind sie doch Wegweiser der Natur, die uns zeigen, dass wir auf dem richtigen Kurs sind. Nicht mehr lange, dann verändert sich auch der Ozean, und immer mehr Weiß löst das tiefe Blau ab. Vereinzelte Eisschollen weichen einer nahezu geschlossenen Meereisdecke, und der Bug der Polarstern schiebt sich langsam durch diese so fremde Welt. Das Rauschen des Wassers wird dann durch das Kratzen des Eises am Bug abgelöst – in dünnem Eis ein ganz zarter, leiser Ton, je dicker es wird, desto mehr geht das Kratzen in ein Krachen über. Ein Geräusch, das in mir ein wohliges Gefühl auslöst: Ich bin zu Hause, zurück im Eis. Es geht im Zickzackkurs um größere Eisschollen, dann wieder nimmt der Eisbrecher Anlauf, schiebt sich auf die dicken Schollen und drückt sie mit seinem Gewicht von fast 20000 Tonnen auseinander. Aber manchmal muss sich auch der stärkste Eisbrecher geschlagen geben, wir haben uns festgefahren, und es ist Geduld bis zum nächsten Wetterwechsel gefragt.
Wenn ich dann endlich wieder über das Meereis laufe, stelle ich meist recht schnell fest, dass ich die Rotorengeräusche des Hubschraubers, der mich auf der Scholle abgesetzt hat, nicht mehr hören kann. Ich höre gar nichts mehr. Um mich herum herrscht Stille. Eine Stille, die wir in unserer zivilisierten Welt nicht kennen. Da sind keine Maschinengeräusche, keine Stimmen, kein Handyklingeln, kein Hundegebell, nicht mal das Rascheln von Blättern im Wind. In jenen raren Momenten halte ich inne, denke an den Globus meines Bruders, und langsam sinkt die Erkenntnis ein: Genau dort bin ich. Inmitten des blauen Ozeans, an der Stelle, die man nur sieht, wenn man den Hals verrenkt. Unter meinen Füßen: Ein bis zwei, manchmal nur ein halber Meter Meereis, und darunter: mehrere Tausend Meter Wasser. Über mir und um mich herum: eisige Polarluft und weiter oben das, was wir Himmel nennen und unsere Erde umgibt: mehrere Tausend Meter Atmosphäre. Ich sehe mich für einen Moment als winzigen Punkt im Nirgendwo auf dem bunten Globus. Obwohl ich seit über zehn Jahren die Polarregionen erforsche und solche Situationen inzwischen zu meinem Alltag zählen könnte, sind es diese Momente, die mich tief berühren und mir vor Augen führen, wie einzigartig das ist, was ich in den fernen Polarregionen unserer Erde erleben darf.
Dabei wäre es noch zu Schulzeiten für mich undenkbar gewesen, einmal in Antarktis und Arktis über das Meereis zu laufen. Obwohl für mich schnell klar war, dass ich Meteorologie, die Physik des Klimasystems, studieren wollte, blieb die Frage offen, wo ich das tun könnte. Ein unscheinbares Poster mit dem Titel «Polarmeteorologie» am Tag der offenen Tür an der Universität Hamburg weckte mein Interesse für diesen exotischen Ort. Polarmeteorologie? Polarregionen? Polarforschung? Wäre das etwas für mich? Auch wenn ich mich zuletzt für den Meteorologie-Bachelor in Berlin entschied, hat mich die Polarfaszination durch das Studium getragen. So kam es auch, dass ich mir schon in jungen Jahren einen großen Traum erfüllen konnte: die erste Expedition in die Antarktis. Während meine Eltern anfangs noch hofften, dass es mir im Reich der Pinguine zu kalt, zu weiß und zu einsam sein würde, waren sie spätestens überzeugt, als ich nach jener Expedition mit glänzenden Augen wieder vor ihnen stand: Ich war polarinfiziert.
Für das Masterstudium ging es nach Hamburg, um im Nebenfach Ozeanografie zu studieren, und von dort aus war es nur noch ein kleiner Sprung zum Meereis. Das gefrorene Element, das Ozean und Atmosphäre voneinander trennt, wurde zu meinem Fachgebiet. Seit vielen Jahren untersuche ich es als Meereisphysikerin am Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung, kurz auch AWI, in Bremerhaven. Mein Forschungselement ist die Schneeauflage auf dem antarktischen Meereis. Während für die meisten diese weiße Schicht nur weiß ist, erzählt mir der Schnee seine Geschichte – nicht ohne Grund nennen mich Kolleg*innen und der Kapitän der Polarstern auch liebevoll «die Schneefrau».
Ein großer Teil meiner Arbeit besteht in der Erhebung unzähliger Datensätze im arktischen und antarktischen Meereis, weswegen es mich in der Regel einmal im Jahr in diese Regionen zieht. Dreizehn zum Teil wochenlange Expeditionen liegen inzwischen hinter mir – durch die schier unendlichen Weiten des Südozeans, zu hoch aufragenden Gletschern, die sich zum Meer hin ausbreiten, zur deutschen Forschungsstation Neumayer III auf das Ekström-Schelfeis, an die kältesten und trockensten Orte dieser Erde, über unberührte Schneefelder, so weit das Auge reicht, in der gleißenden Helligkeit des Polarsommers, und an die Spitze der Westantarktis, wo einst die großen Entdecker zum ersten Mal einen Fuß an Land der Antarktis setzten. Aber auch hinauf in den Norden an die raue Küste Spitzbergens und weiter noch hinein in die Polarnacht durch das dünner werdende Meereis der Arktis, hoch bis zum grönländischen Eisschild, weiter noch bis zum geografischen Nordpol.
Und auf diese Expeditionen möchte ich Sie mitnehmen. Es wird eine Reise durch die Sphären des Planeten, hinauf in die Atmosphäre, die in den Polarregionen sichtbar wird, wenn die Aurora borealis in Schwüngen über den Himmel tanzt. Wir lassen einen Ballon steigen und beobachten das sich wandelnde Wetter an den Polen. Wir reisen durch das «ewige» Eis, wandeln auf den Zungen der Gletscher, lesen Geschichten aus dem Schnee und werfen einen Blick unter das Meereis, lernen, dass Weiß nicht gleich Weiß ist. Wir tauchen ab in den «neuen Ozean» – das Südpolarmeer –, wagen einen Abstecher in den engen Spalt zwischen einem frisch gekalbten Eisberg und Schelfeiskante und fahren über den Meeresboden der antarktischen Tiefsee, der sich uns alles andere als karg präsentiert. Von Scholle zu Scholle folgen wir den Königen der Arktis durch ihr schwindendes Reich, sehen in der Antarktis Pinguinen beim Gruppenkuscheln zu und lauschen von Bremerhaven aus dem Gesang der Wale, beobachten das größte Säugetier dieser Erde auf der Jagd nach winzigsten Krebsen – vielleicht den eigentlichen Königen der Polarregionen.
Und immer wieder wandeln wir auch auf den Spuren der einstigen Entdecker, deren Expeditionsberichte mich schon vor meiner ersten Reise in ihren Bann zogen und ein regelrechtes Polarfieber in mir entfachten: von Erich von Drygalski, der die erste Forschungsexpedition in die Antarktis leitete und dessen Forschungsergebnisse noch heute von großer Bedeutung sind, da sie eine wertvolle Grundlage für die Untersuchung der Veränderung durch den Klimawandel bieten. Über Fridtjof Nansen, der mit seinem Schiff, der Fram, in einer drei Jahre währenden Expedition durch die finstere Polarnacht die Theorie untermauerte, dass das arktische Meereis angetrieben durch Wind und Meeresströmungen driftet, und dessen Reise wir 125 Jahre später mit der Polarstern während der MOSAiC-Expedition in nur noch 300 Tagen nachvollzogen. Bis hin...
Erscheint lt. Verlag | 16.8.2022 |
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Co-Autor | Andy Hartard |
Vorwort | Sven Plöger |
Zusatzinfo | Zahlr. 4-farb. Fotos |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Naturwissenschaft |
Technik | |
Schlagworte | Alfred-Wegener-Institut • Antarktis • Antarktisexpedition • Arktis • Eisschmelze • endurance • Expedition • Expeditionsbericht • Forschungsexpedition • Kipppunkte • Klimakrise • Klimawandel • klimawandel einfach erklärt • Meeresbiologie • Meteorologie • Mosaic • Naturwissenschaft • Ökosystem • Polarforschung • Polarstern • Polkappen • Sven Plöger • weltklimakonferenz |
ISBN-10 | 3-644-01290-3 / 3644012903 |
ISBN-13 | 978-3-644-01290-5 / 9783644012905 |
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Größe: 11,5 MB
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