Die Forstwissenschaftlerin Suzanne Simard nimmt uns mit in ihre Welt, ins Zentrum des Waldes, und zeigt, dass Bäume viel mehr sind als bloße Rohstofflieferanten: Lebendige Wesen mit hochspezialisierten Aufgaben, die soziale Strukturen bilden und über ein Geflecht aus unterirdischen Netzwerken miteinander kommunizieren. Sie lernen, passen ihr Verhalten an die Bedingungen ihrer Umwelt an, erkennen Nachbarn, haben Erinnerungen und sogar einen Sinn für Zukunft. Sie konkurrieren miteinander und unterstützen sich gegenseitig auf erstaunlich hochentwickelte Weise - Eigenschaften, die normalerweise menschlichen Gesellschaften zugeschrieben werden. Im Zentrum von Simards Forschungen stehen die »Mutterbäume«: alte, mächtige und geheimnisvolle Bäume, welche die anderen um sie herum versorgen, verbinden und beschützen.
Während sie ihre wissenschaftliche Suche nachzeichnet, die zu ihrer bahnbrechenden Entdeckung des »Wood Wide Web« führte, erzählt Suzanne Simard auch von ihrer eigenen Reise. Von ihrer Kindheit in den Wäldern von British Columbia, von Liebe und Verlust, von Beobachtung und Veränderung und von der zutiefst menschlichen Eigenschaft, verstehen zu wollen, wer wir wirklich sind und welchen Platz wir in der Welt einnehmen. So verstehen wir letztlich nicht nur, was eine der spannendsten Wissenschaftlerinnen der Gegenwart antreibt, sondern auch, dass uns mehr mit den Wäldern dieser Welt verbindet, als wir denken. Denn um zu überleben, sind wir aufeinander angewiesen.
Suzanne Simard stammt aus einer Familie von Holzfällern an der Westküste Kanadas. Sie ist heute Professorin für Forstökologie an der University of British Columbia und gilt als weltweit führende Expertin auf dem Gebiet nicht-menschlicher Kommunikation und Intelligenz. Sie wird von vielen Kolleginnen und Kollegen aus der Community als eine der zugänglichsten und verständlichsten Referentinnen für komplizierte wissenschaftliche Zusammenhänge bezeichnet und inspirierte mit ihren Arbeiten zum »Wood Wide Web« zahlreiche Künstler, darunter auch den Regisseur James Cameron zum »Tree of Souls« in seinem Film »Avatar«. Ihre TED-Talks sind legendär und wurden inzwischen über 10 Millionen mal angesehen.
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Waldgespenster
Ich war allein unterwegs in Grizzlyland, bibbernd vor Kälte an einem verschneiten Junitag. Zwanzig Jahre alt, von nichts eine Ahnung, hatte ich einen Ferienjob bei einer Holzfirma in den zerklüfteten Bergen der Lillooet Range im Westen von Kanada ergattert.
Der Wald war düster und totenstill. Und, wie mir schien, voller Gespenster. Eins davon schwebte geradewegs auf mich zu. Ich öffnete den Mund zu einem Schrei, doch kein Laut kam heraus. Das Herz schlug mir bis zum Hals, verzweifelt versuchte ich, meinen Verstand in Gang zu bringen – und dann lachte ich laut.
Das Gespenst war bloß ein dicker Nebelschwaden, der sich durch den Wald wälzte und die Baumstämme mit seinen Tentakeln umschlang. Keine übernatürlichen Erscheinungen, nur ein ganz gewöhnlicher Wirtschaftsforst. Die Bäume waren einfach nur Bäume. Und doch hatte ich schon immer das Gefühl, dass es in den kanadischen Wäldern spukt, dass dort ganz besonders die Geister meiner Vorfahren umgehen, der Menschen, die das Land verteidigt oder erobert hatten, die gekommen waren, um zu fällen, zu roden, neu anzupflanzen.
Anscheinend kennt der Wald kein Vergessen.
Auch wenn wir uns noch so sehr wünschen, dass er unsere Übergriffe aus seinem Gedächtnis löscht.
Es war schon recht spät am Nachmittag. Ein feiner Sprühregen waberte durch die Gruppen von Felsentannen und überzog sie mit einem schimmernden Film. Wassertröpfchen, in denen sich das Licht brach, bargen ganze Welten. An den Zweigen prangten smaragdfarbene frische Triebe über einem dichten Vlies aus jadegrünen Nadeln. Was für ein Wunder, mit welcher Beharrlichkeit die Knospen jedes Frühjahr zu neuem Leben schwellen und die länger werdenden Tage mit ihrem Überschwang begrüßen, ganz gleich wie hart der Winter war. Knospen programmiert, ihre ersten zarten Blätter genau zu dem Zeitpunkt zu entfalten, den die Erfahrung früherer Sommer sie gelehrt hat. Ich berührte einige der fedrigen Nadeln, freute mich, wie weich sie sich anfühlten. Ihre Stomata – die winzigen Öffnungen, die Kohlendioxid aufnehmen, um daraus in Verbindung mit Wasser Zucker und reinen Sauerstoff zu erzeugen – strömten die frische Luft aus, und ich sog sie tief in mich ein.
Zwischen diese riesenhaften, geschäftigen Älteren schmiegten sich die Jungbäume, Teenager, und an sie gedrückt die noch jüngeren Sämlinge, allesamt aneinandergekuschelt wie die Mitglieder einer Familie, wenn ihnen kalt ist. Die verwitterten alten Tannen reckten ihre Spitzen in den Himmel, ein Schutzdach für die jüngeren. Genau wie meine Mutter und mein Vater, meine Großmütter und Großväter mich beschützten. Und ich hatte ja weiß Gott auch genauso viel Schutz gebraucht wie ein Sämling; immer hatte ich mich in Schwierigkeiten gebracht. Mit zwölf war ich einmal auf einem Ast eines Uferbaums bis über den Shuswap River geklettert und wollte sehen, wie weit ich kam. Beim Versuch zurückzuklettern rutschte ich ab und fiel ins reißende Wasser. Grampa Henry sprang in sein selbstgezimmertes Boot und konnte mich gerade noch am Kragen packen, sonst wäre ich in den Stromschnellen verschwunden.
Der Schnee lag hier oben in den Bergen tiefer als ein Grab, neun Monate im Jahr. Die Bäume waren mir haushoch überlegen, denn sie hatten ihre Gene den Extremen des Kontinentalklimas angepasst, das mich mit Haut und Haaren zu verschlingen drohte. Ich tätschelte an einem der alten einen Ast, wollte ihm sagen, wie dankbar ich ihm dafür war, dass er die verletzlichen Nachkommen unter seine Fittiche nahm, und steckte einen gefallenen Zapfen in eine Astgabel.
Ich zog mir die Mütze über die Ohren, dann verließ ich die Forststraße und stapfte durch den Schnee tiefer in den Wald hinein. Obwohl nur noch wenige Stunden bis zum Einbruch der Dunkelheit blieben, verweilte ich bei einem Stamm, der ein Opfer der Sägen geworden war, welche den Weg zuvor gebahnt hatten. Das bleiche, runde Gesicht seiner Schnittfläche zeigte Jahresringe so fein wie Wimpern. Das blonde Frühholz, die Frühlingszellen prallvoll mit Wasser, waren abgesetzt mit den dunkelbraunen Ringen des Spätholzes, entstanden im August, wenn die Sonne hoch am Himmel steht und die Trockenheit kommt. Ich zählte die Ringe, markierte jede Dekade mit dem Bleistift – der Baum war zwei Jahrhunderte alt. Mehr als das Doppelte der Zeit, die meine Familie bisher in diesen Wäldern lebte. Wie hatten die Bäume den zyklischen Wechsel von Wachstum und Winterruhe gemeistert, wie war das im Vergleich mit den Freuden und Entbehrungen, die meine Familie in einem Bruchteil dieser Zeit erlebt hatte? Manche Ringe waren breiter, sie waren in Regenjahren mächtig gewachsen, vielleicht auch in Sonnenjahren, nachdem ein Nachbarbaum gestürzt war, andere waren so schmal, dass man sie kaum erkennen konnte, sie waren langsam gewachsen während einer Trockenzeit, in einem kalten Sommer oder unter anderer Belastung. Diese Bäume trotzten Klimakapriolen, mörderischen Konkurrenzkämpfen und verheerenden Feuern, Insektenangriffen und Stürmen – Bedrohungen, die so etwas wie Kolonialismus, Weltkriege und das runde Dutzend Premierminister, die meine Familie erlebt hatte, bedeutungslos erscheinen ließen. Sie waren die Vorfahren meiner Vorfahren.
Ein keckerndes Eichhörnchen flitzte den Stamm entlang und versuchte, mich von seinem Beuteversteck an der Basis des Baumstumpfs zu verscheuchen. Ich war die erste Frau, die für die Holzfirma arbeitete. Für einen Betrieb in einem rauen, gefährlichen Gewerbe, das gerade erst begonnen hatte, seine Türen für die eine oder andere Studentin zu öffnen. An meinem ersten Arbeitstag wenige Wochen zuvor hatte ich mit meinem Vorgesetzten Ted einen Kahlschlag inspiziert – ein dreißig Hektar großes Areal, auf dem sämtliche Bäume gefällt worden waren und wo wir uns nun vergewissern wollten, dass die neuen Setzlinge gemäß den amtlichen Vorgaben gepflanzt worden waren. Ted hatte sehr klare Vorstellungen davon, wie man ein Bäumchen pflanzt und wie nicht, und mit seiner sanften Art spornte er selbst die erschöpftesten Arbeiter noch an. Mir war es peinlich, dass ich den Unterschied zwischen einer J-förmig abgeknickten und einer angemessen tief eingepflanzten Wurzel überhaupt nicht sah, aber Ted hatte mir geduldig alles erklärt, und ich hatte aufmerksam zugesehen und zugehört. Schon bald vertrauten sie mir die Aufgabe an, bestehende Schonungen zu kontrollieren – Neuanpflanzungen als Ersatz für gefällte Bäume. Ich hatte nicht vor, mich zu blamieren.
Camping am Shuswap Lake bei Sicamous, British Columbia, 1966. Von links nach rechts: Kelly, drei Jahre alt; Robyn, sieben; dann Mum, Ellen June, neunundzwanzig; ich bin fünf. Bei der Fahrt dorthin mit unserem 1962er Ford Meteor waren wir auf dem Trans-Canada Highway nur knapp einem Erdrutsch entgangen; Steinbrocken kamen die steile Bergflanke heruntergepoltert, durchschlugen das Autofenster und landeten bei Mum im Schoß.
© Peter Simard
Die Schonung, zu der ich heute unterwegs war, lag auf der anderen Seite dieses alten Waldes. Dort hatte die Firma eine große Parzelle mit samtigen alten Felsentannen abgeholzt und im letzten Frühjahr Stechfichtensetzlinge gepflanzt. Deren Wachstumsfortschritt sollte ich nun überprüfen. Die Forststraße zu dem Kahlschlag hatte ich nicht nehmen können, weil sie zu stark ausgewaschen war – ein Segen, denn das hatte mir den Umweg vorbei an diesen nebelverhangenen Schönheiten beschert. Doch dann ließ mich ein großer Haufen frischer Grizzlykot innehalten.
Die Bäume waren noch immer in Nebelschwaden gehüllt, und ich hätte schwören können, dass sich in der Ferne etwas bewegte. Ich sah genauer hin. Es waren die blassgrünen Strähnen einer Flechte, die wegen der Art, wie sie von den Ästen herabhängt, Baumbart genannt wird. Alte Flechten, die besonders auf alten Bäumen wachsen. Ich gab Laut mit meiner Drucklufthupe, um das Gespenst der Bären zu vertreiben. Die Angst vor ihnen hatte ich von meiner Mutter geerbt, die als Kind nur knapp einem Bären entronnen war, der sie auf der Veranda bedroht hatte; ihr Großvater, mein Uropa Charles Ferguson, hatte ihn kurz darauf mit einem beherzten Schuss erlegt. Uropa Charles lebte um die Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert als Pionier in Edgewood, einer vorgeschobenen Siedlung im Inonoaklin Valley an den Arrow Lakes, im Columbia-Becken von British Columbia. Mit Äxten und Pferden rodeten er und seine Frau Ellen das Land der Sinixt-Indianer, auf dem sie sich niedergelassen hatten und wo sie Heuwiesen anlegten und Vieh züchteten. Charles hatte einen Ruf als Bärentöter, und er schoss Wölfe, wenn sie sich an seinen Hühnern vergriffen. Er und Ellen zogen drei Kinder groß: Ivis, Gerald und meine Großmutter Winnie.
Gemäßigter Regenwald, typisch für die Gegend in British Columbia, in der Mum und Dad aufwuchsen
© Sterling Lorence
Ich kletterte über moos- und pilzüberwucherte Baumstämme, atmete tief das Aroma der immergrünen Natur. Über einen der Stämme zogen sich wie ein Rinnsal die winzig kleinen Helmlinge, folgten in ihrem Lauf über die gesamte Länge den Rissen der Rinde, bis ihre Bahn sich schließlich verzweigte und einen Fächer entlang der Baumwurzeln bildete, bis hin zu den verrotteten dürren Enden. Mich beschäftigte schon lange die Frage, was Wurzeln und Pilze mit dem Wohlergehen des Waldes zu tun hatten – mit dem Gleichgewicht der großen und kleinen Dinge, auch derer, die im Verborgenen wirkten und leicht zu übersehen waren. Baumwurzeln faszinierten mich seit Kinderzeiten; damals hatte ich die unbändige Kraft der...
Erscheint lt. Verlag | 16.5.2022 |
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Übersetzer | Manfred Allié, Gabriele Kempf-Allié |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Finding the Mother Tree |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Natur / Ökologie |
Technik | |
Schlagworte | 2022 • Draussensein • eBooks • Feminismus • Geographie • Kanada • Nachhaltigkeit • Natur • Netzwerk • Neuerscheinung • Peter Wohlleben • Starke Frauen • Umweltbewusstsein • Vorbilder • Waldbaden • Wood Wide Web |
ISBN-10 | 3-641-24277-0 / 3641242770 |
ISBN-13 | 978-3-641-24277-0 / 9783641242770 |
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