Der einsamste Eisbär (eBook)
312 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-46302-4 (ISBN)
Kale Williams ist Reporter bei The Oregonian / OregonLive, wo er über Wissenschaft und Umwelt berichtet. Zuvor war er für den San Francisco Chronicle tätig. Er teilt sich ein Haus mit seiner Frau Rebecca, den beiden Hunden Goose und Beans, Katze Torta und Stiefkatze Lucas.
Kale Williams ist Reporter bei The Oregonian / OregonLive, wo er über Wissenschaft und Umwelt berichtet. Zuvor war er für den San Francisco Chronicle tätig. Er teilt sich ein Haus mit seiner Frau Rebecca, den beiden Hunden Goose und Beans, Katze Torta und Stiefkatze Lucas.
Kapitel 1
Verlassen
Sie wog kaum mehr als 500 Gramm und war ungefähr so groß wie ein Eichhörnchen. Ihre Augen und Ohren waren fest verschlossen. Nur ihr Geruchssinn verriet ihr etwas über die Welt um sie herum und lenkte sie untrüglich in die Richtung der Körperwärme ihrer Mutter, einer fast 300 Kilogramm schweren Eisbärin namens Aurora.
Die Höhle bestand aus weiß gestrichenem Schlackenbetonstein und wurde von einer einzigen, an der Decke hängenden Rotlichtbirne beleuchtet. Der Boden war dick mit Stroh ausgelegt. Die künstlich gekühlte Luft, die den Temperaturen der Arktis entsprechen sollte, war schwer von beißendem Moschusgeruch und wurde in regelmäßigen Abständen von den Schreien der kleinen Eisbärin Nora durchdrungen, einer zappelnden, weißen und rosafarbenen Kugel, die sich tief in die Pelzfalten ihrer Mutter schmiegte.
Das Junge schlief den Großteil der Zeit, und wenn es aufwachte, dann um zu saugen, was es gierig und häufig tat und was wiederum ein sanftes surrendes Geräusch verursachte, das wie ein winziger Außenbordmotor klang. Selbst im Schlaf nuckelte es und fuhr mit seiner eingerollten Zunge suchend durch die Luft.
Gegen neun Uhr morgens an Noras sechstem Tag stand Aurora auf, streckte sich und trottete aus der Höhle. Das Eisbärenjunge war noch ganz und gar auf seine Mutter angewiesen, ohne sie war es einsam und verletzlich. Als die Kälte sich um Nora herum ausbreitete, drehte sie den Kopf suchend von einer Seite auf die andere und verlangte kreischend nach etwas Vertrautem und Warmem. Als die Antwort auf ihr Schreien ausblieb, begann sie zu wimmern.
Außerhalb des Gebäudes, in dem sich die Höhle befand, verfolgten drei Frauen das Geschehen. Die Zootierärztin Priya Bapodra starrte auf das unscharfe rote Bild des Videos – eine Liveübertragung aus dem Inneren der Eisbärenhöhle – und sah auf dem Bildschirm einer verpixelten Nora dabei zu, wie sie sich hilflos hin und her wand. Die Tierpflegerin Devon Sabo machte sich Notizen. Kuratorin Carrie Pratt sah zu. Seit fünf Tagen arbeiteten die Frauen nun in Wechselschichten, sodass Nora vierundzwanzig Stunden am Tag unter Beobachtung stand. Sie verrenkten sich die Hälse, um auf dem Monitor etwas zu erkennen, und pressten sich die Kopfhörer auf die Ohren, um jedes Anzeichen, das darauf hinweisen könnte, dass Noras Zustand sich verschlechterte, sofort mitzubekommen.
Nora, die am 6. November 2015 zur Welt kam, war das erste Eisbärenjunge, das im 1927 eröffneten Columbus Zoo and Aquarium länger als ein paar Tage überlebte. Die Höhle, in der Nora ihre ersten Tage verbrachte, hatte nur wenig mit ihrem natürlichen Lebensraum in der Wildnis gemein, aber sie war das Beste, was die Menschen ihr am Stadtrand von Columbus bieten konnten. Noras Geburt in jener Betonhöhle war ein Symbol dafür, dass Mensch und Eisbär untrennbar miteinander verbunden waren – im Guten wie im Schlechten. Für die einen wurde Nora eine Art Botschafterin für eine Spezies, die nur wenige je in der freien Natur erleben würden, eine Vertreterin des wilden Nordens, den sie vielen Menschen näherbringen sollte. Für andere verkörperte sie die politische Debatte zu der Frage, ob der Mensch dem Planeten irreparablen Schaden zufügte, eine Frage, die schon lange vor Noras Geburt aufgekommen war. Sie und ihre Spezies waren zum traurigen Gesicht des Klimawandels geworden, ob es ihnen gefiel oder nicht. Sie symbolisierte die Zerstörung, die die Erde durch die Menschen erfuhr, und schenkte gleichzeitig die leise Hoffnung, dass es noch nicht zu spät sein könnte.
Aber für die Pflegerinnen in ihrem Trailer war sie weder eine Botschafterin noch ein Symbol. Nora war ein hilfloses Eisbärenjunges in Not.
Und so versuchten die Frauen, die Nerven zu behalten und ruhig zu bleiben, als Aurora sich um 8:55 Uhr Schritt für Schritt von Nora entfernte. Sie hatte ihr Junges auch zuvor schon allein gelassen, allerdings immer nur für kurze Zeit. In der freien Wildbahn verlässt die Eisbärenmutter niemals die Höhle, nicht einmal, um zu fressen. Die acht Jahre alte Aurora lief einen Gang hinunter, vorbei an der Nahrung, die ihre Pflegerinnen für sie bereitgestellt hatten, und auf das andere Ende des Gebäudes zu. Devon Sabo fügte dem Protokoll einen neuen Eintrag hinzu:
»Aurora steht auf und geht in den Pool-Raum.«
Kurz darauf klingelten überall im Zoo die Telefone. Per Textnachrichten-Thread wurde eine Warnmeldung an den Rest des Tierpflege-Teams geschickt, um ihnen mitzuteilen, dass etwas nicht stimmte. Zehn Minuten verstrichen. Eigentlich haben Tiere angeborene Mutterinstinkte, aber Aurora wirkte unschlüssig.
Priya Bapodra behielt die Uhr genau im Blick. Zwanzig Minuten waren vergangen.
Je mehr Zeit verging, desto größer wurde die Anspannung im Trailer. Noras Schreie erinnerten die Pflegerinnen an die Schreie ihrer eigenen Kinder, bloß lauter und eindringlicher. Solange ihre Stimme kräftig klang, konnten sie warten.
Die meisten Eisbärenjungen, die in Gefangenschaft geboren werden, leben höchstens einen Monat. Nur ungefähr ein Drittel erreicht das Erwachsenenalter. Wenn die Jungtiere von Hand aufgezogen werden müssen, stehen die Chancen sogar noch schlechter. Eisbärenjunge können ihre Körpertemperatur nicht selbst regulieren. Ohne die Fürsorge ihrer Mutter entwickeln sie Krankheiten und Infektionen. Oft leiden sie an Mangelernährung und Knochenbeschwerden, weil es unmöglich ist, die Muttermilch von Eisbären künstlich herzustellen. Die Pflegerinnen wussten um diese Gefahren, als sie lange vor Noras Geburt den Geburtsplan erstellten. Das dreiundzwanzig Seiten lange Dokument befand sich in einem Hefter im selben Gebäude wie die Höhle. Alle Teammitglieder hatten außerdem eine Kopie auf ihrem Smartphone. Der Plan berücksichtigte jede erdenkliche Situation, bis hin zu der Entscheidung, das Eisbärenjunge von der Mutter zu trennen. »Sobald Jungtier und Weibchen einmal getrennt wurden, ist es unmöglich, sie wieder zusammenzubringen, selbst wenn Situation und Zustand der Bären sich stabilisiert haben. Die Mutter würde das Junge nicht mehr akzeptieren«, hieß es im Plan.
Die Frauen im Trailer wussten, dass es kein Zurück mehr geben würde, wenn sie eingriffen, um Nora zu helfen. Ab diesem Moment wären sie für die Aufzucht des Eisbärenjungen verantwortlich. Zusammengenommen hatten die Frauen jahrelange Erfahrung in der Handaufzucht von Raubkatzen, Affen und anderen Zootieren. Aber keine von ihnen hatte je einen Eisbären großgezogen. Es gab nur eine Handvoll Menschen auf der Welt, die sich dieser Herausforderung überhaupt gestellt hatten.
Nachdem eine Stunde vergangen war, musste etwas geschehen. Devon Sabo betrat das Gebäude, mit etwas mehr Stroh unter dem Arm, um die umherstreifende Eisbärenmutter damit wieder zu ihrem Neugeborenen zu locken. Die Pflegerin ging einen schmalen Gang entlang und ließ das Stroh leise neben der Höhle fallen, in der Nora noch immer kläglich vor sich hin schrie.
Aurora reagierte nicht.
Eine weitere Stunde verging, bevor die Pflegerin das Eisbärenhaus erneut betrat. Dieses Mal brachte sie Fisch mit. Über den Thread schilderte Devon das Geschehen. Bald tauchten weitere Pfleger auf, um zuzusehen. In ihren Köpfen schwirrten die Fragen. Was könnte Aurora dazu bewegt haben, die Höhle zu verlassen? Wie konnten sie die Eisbärin dazu bringen, zurück zu ihrem Jungen zu gehen? Wie lange sollten sie noch warten?
Als drei Stunden vergangen waren, setzten die Pflegerinnen Aurora eine Frist: Eine Stunde würden sie noch warten. Falls es Nora schlechter gehen sollte, würden sie schon früher eingreifen. Keine von ihnen wollte die kleine Eisbärin in die Verantwortung der Menschen übergeben. Denn mit der Entscheidung, sie aus der Höhle zu holen, würden ihre Überlebenschancen augenblicklich stark sinken. Aber sie wollten auch nicht einfach dabei zusehen, wie Nora starb. Auf sich allein gestellt, waren die Chancen der kleinen Eisbärin gleich null. Die Pflegerinnen nahmen sich einen Plastikbehälter und legten ihn mit warmen Wasserflaschen und Decken aus. Ohne die Wärme ihrer Mutter würde Nora frieren.
Um 12:43 Uhr, fast vier Stunden nachdem Aurora die Höhle verlassen hatte, wurden Noras Schreie allmählich schwächer, und sie wirkte erschöpft. Es war der 12. November und Priyas Geburtstag. Eigentlich hatte die Tierärztin vorgehabt, den Abend mit ihrem Mann zu verbringen. Nun rief sie ihn an und sagte ihm, dass sie ihre Pläne verschieben müssten.
Es war so weit.
Knapp 500000 Jahre vor Noras Geburt erlebte die Erde eine entscheidende Warmphase.
Damals war es so warm, dass ein Teil des Antarktischen Eisschildes einbrach und der Meeresspiegel dramatisch anstieg, an manchen Stellen sogar über 18 Meter höher als heute. Auch die Meeresoberflächentemperatur stieg, und im milden, seichten Wasser der Ozeane gediehen fortan Korallen. Der Grönländische Eisschild nahm ab, und borealer Nadelwald breitete sich an der Küste der normalerweise vereisten Insel aus. Eine Gruppe Braunbären wanderte nach Norden, ließ sich in diesen Wäldern und ähnlichen Regionen in der Arktis nieder und besiedelte damit nördliche Breitengrade, die dem Braunbären bislang unerreichbar gewesen waren.
Und dann, vor rund 400000 Jahren, veränderte sich das Klima erneut. Die Temperaturen fielen, neue Gletscher entstanden, und die Braunbären im Norden wurden von ihren Artgenossen im Süden getrennt. Der Stammbaum zweigte sich, und eine neue Spezies entstand: der Eisbär.
So lautet zumindest eine der...
Erscheint lt. Verlag | 2.11.2021 |
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Übersetzer | Annika Klapper, Lina Robertz |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Natur / Ökologie |
Technik | |
Schlagworte | 3 Grad mehr • Alaska • Amerika • Amerikanisch • Artenschutz • Artensterben • Artenvielfalt • Bill Gates Klima • Buch Artensterben • Bücher über Tiere • Buch Naturschutz • climate change • Die Geschichte der Bienen • Die Geschichte des Wassers • Die Letzten Ihrer Art • Eis • Eisbär • Eisbärbaby • Eisbär Buch • Eisbären • Erde! • Erderwärmung • Erzählendes Sachbuch • folgen klimawandel • Frank Schätzing Klima • Fridays For Future • Gesellschaftskritik • Gesellschaftskritische Bücher • Globale Erwärmung • Greta Thunberg • Indigene Völker • Inupiat • Kleiner Eisbär • Klima • Klima-Buch • Klimaerwärmung • Klimakatastrophe • klimakatastrophe verhindern • Klimakrise • Klimapolitik • Klimaschutz • Klimawandel • Klimawandel Buch • Klimawandel folgen • Klimawandel Sachbuch • Knut • Krise • Maja Lunde • Mensch • Mensch, Erde! • Mensch und Natur • Natur • Nora • Ohio • Pariser Klimaschutzabkommen • Schnee • Scientists for Future • Spanische Grippe • süßer Eisbär • Tierbücher für erwachsene • tiere buch • Tierrechte • Tierrettung • Tierschutz • Umwelt • Umweltpolitik • Umweltschutz • Ureinwohner • USA • Wales • Welt retten • zoo • zukunft buch |
ISBN-10 | 3-426-46302-4 / 3426463024 |
ISBN-13 | 978-3-426-46302-4 / 9783426463024 |
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