Wider den Unverstand! (eBook)
100 Seiten
S.Hirzel Verlag
978-3-7776-3117-2 (ISBN)
Unser Leben, unser Alltag ist voll von Wissenschaft. Aber wenn es um Gravitation oder Quantentheorie, DNA oder Schwarze Löcher geht, fühlen sich sehr viele Menschen wie wissenschaftliche Analphabeten - und sind es auch. »Ich verstehe das nicht mehr«, sagen viele. Zu viele, für Ernst Peter Fischer. Sein mitreißendes und herausforderndes Plädoyer dafür, wie wichtig, faszinierend und lebendig Wissenschaft ist, will unsere Neugier wieder wecken. Denn wollen wir wirklich unmündig sein in Bezug auf die Wissenschaft? Fischer kämpft in seinem Buch dafür, dass das Licht der wissenschaftlichen Vernunft endlich hell leuchten kann.
ist Wissenschaftshistoriker und -publizist. 1977 Promotion in Biologie bei Max Delbrück, 1987 Habilitation in Wissenschaftsgeschichte, danach Lehrtätigkeit in Konstanz und Heidelberg.
Ein Problem der Gegenwart
»Ich verstehe die Welt nicht mehr!« Diesen Satz legt der dem Realismus verpflichtete Dramatiker und Lyriker Friedrich Hebbel am Ende seines 1843 uraufgeführten Schauspiels »Maria Magdalena« der Figur Meister Anton in den Mund, und auch wenn der Dichter und seine Figur damit nicht die Wissenschaft ihrer Tage direkt ansprechen wollten, so hätten sie durchaus deren erstaunliche Fortschritte im 19. Jahrhundert meinen können. Denn diese ließen selbst die Philosophie hinter sich, deren sich im reinen Denken verlierende Vertreter nur staunend zuschauen konnten, als Chemiker wie Amedeo Avogadro lernten, die Zahl der Moleküle in Gasen zu bestimmen, als Physiker wie Michael Faraday und James Clerk Maxwell sich daran machten, elektromagnetische Kräfte zu entfesseln, und als sich Mathematiker wie Carl Friedrich Gauß in der Lage zeigten, die Wahrscheinlichkeit von Irrtümern und die Zuverlässigkeit von Rentenzahlungen zu berechnen. Während sich die Philosophen in der »Phänomenologie des Geistes« verhedderten und ohne jeglichen praktischen Nutzen Hegels vertrackt formulierte Ansichten über »dasjenige, was An-sich ist« begrübelten, konnte die Wissenschaft eine Errungenschaft nach der anderen feiern. Dem Astronom Friedrich Wilhelm Bessel war es gelungen, die Entfernung zu einem Stern außerhalb des Sonnensystems in Lichtjahren zu bestimmen. Erfinder und Ingenieure wie David Alter konstruierten erste funktionierende Telegrafen, deren Signale in kaum merklicher Zeit Entfernungen von mehreren Kilometern zu überbrücken vermochten, und dem Chemiker Friedrich Wöhler war der Nachweis gelungen, dass sich organische Substanzen wie Harnstoff ohne Niere im Reagenzglas herstellen lassen – was die Frage aufwarf, die auch den Zeitgenossen Goethe in seinem Faustdrama beschäftigte, ob man bald auch Menschen in der Retorte machen könne. Und schließlich konnte die Physik nach sorgfältigen Himmelsbeobachtungen mit Präzisionsinstrumenten, die von Joseph von Fraunhofer stammten, mit einer weiteren Glanztat auftrumpfen. Durch die Messung einer Parallaxe konnte sie erstmals den Nachweis liefern, dass Kopernikus im 16. Jahrhundert recht gehabt hatte, als er die These formulierte, dass die Erde keineswegs im Mittelpunkt der Welt mit ihren planetaren Sphären steht. Sie bewegt sich stattdessen um die Sonne herum, und zwar ziemlich schnell. Die Erdenmenschen schauen seit dieser Zeit nicht mehr in den Himmel, einige von ihnen haben gelernt, dass sie sich vielmehr am Himmel befinden und in ihm unterwegs sind. Und ihr Heimatplanet kurvt nicht nur auf einer ellipsenförmigen Bahn um das Zentralgestirn herum, sondern er dreht sich zudem um seine eigene Achse und ist mit seinen Bewohnern auch sonst viel im All unterwegs, wie im 19. Jahrhundert allmählich unübersehbar wurde, selbst wenn sich die damit verbundene rasante kosmische Bewegung so vollzieht, dass wir sie im Alltag nicht bemerken, was dazu führt, dass dieser Sachverhalt nicht wenigen Menschen bis heute unfassbar zu sein scheint oder sogar ganz verborgen bleibt.
Dass wir von dieser seit Kopernikus bekannten eigenen Bewegung im Kosmos nichts merken, hat Galileo Galilei im 17. Jahrhundert übrigens zu der Einsicht geführt, dass die Gesetze der Natur, die Bewegungen beschreiben, eine bestimmte Symmetrie aufweisen müssen. Man spricht dabei von der Galilei-Invarianz, und sie war es, von der aus Einstein seine kosmische Sicht zu entfalten vermochte. Es bleibt unbegreiflich, warum so viele Menschen, darunter auch die meisten Philosophen, derlei tiefe Einsichten in das Weltgeschehen bis heute bestenfalls achselzuckend zur Kenntnis nehmen.
Für größte Verunsicherung sorgte die bereits im 16. Jahrhundert vom Domherrn Kopernikus vorgeschlagene Vorstellung eines ungemein rasch bewegten und von einem zentralen Sonnenfeuer erwärmten und bestrahlten Heimatplaneten allerdings bei der Kirche. Diese wollte nichts wissen von der mutigen Erhöhung des Menschen durch die Verlagerung der Erde an den Himmel mit der dazugehörigen Annäherung an Gott, der doch über allem zu schweben hatte. Mit noch größerem Argwohn begegnete die damals mächtige Institution Menschen, die sich mit eigener Geisteskraft aus der bislang eingenommenen tiefliegenden Mitte der Welt – Kant bezeichnete den alten Platz der Erde als Abtritt der Welt, in dem sich ihr Schmutz sammelte – in kosmische Höhen aufschwingen konnten, weshalb sich Galileo Galilei mit einem irritierten Papst und seiner wütenden Inquisition anlegen musste. Doch selbst wenn dieses klerikale Brett vorm Kopf bei einigen kirchlichen Würdenträgern inzwischen dünner geworden ist und in manchen Fällen sogar abmontiert werden konnte, haben selbst viele grundsätzlich säkular orientierte Zeitgenossinnen und Zeitgenossen bis heute weder verstanden, was die Einsicht des Kopernikus allgemein besagt, noch bedacht, was die damit verbundene Wende konkret in ihrem individuellen Dasein bedeutet, das irdisch und kosmisch zugleich ist, auch wenn dies komisch klingt. Wer ist sich schon darüber im Klaren, dass er die Hälfte seines Lebens mit dem Schädel nach unten hängend im Weltall verbringt und ebenso wenig wie ein seine Bahnen ziehender Raumfahrer sagen kann, wo ihm gerade der Kopf steht und ob er nach oben oder unten zeigt?[6] Und wie lange muss man sich noch im Feuilleton der Zeitungen mit Artikeln von naturwissenschaftsfremden Intellektuellen herumschlagen, die immer noch den auf Sigmund Freud zurückgehenden Unsinn verbreiten, dass Kopernikus die Menschen erniedrigt und gekränkt habe, als er sie aus der dunklen Mitte des kosmischen Aborts befreite und dem göttlichen Licht in der Höhe zuführte?
Man würde die an ihren iPhones festklebenden Menschen gerne fragen, ob sie ohne Google wissen, mit welcher Geschwindigkeit sie gerade auf ihrem Planeten unterwegs sind, während sie an einer Straßenecke stehen und gelangweilt mit einem Finger über das Display wischen. Man könnte den gleichgültigen Spaziergängern mit ihren Handys und Hunden begeistert davon erzählen, dass Erdbewohner am Äquator alleine durch die Drehung des Planeten um seine Nord-Süd-Achse mehr als 1500 Kilometer pro Stunde und damit fast 500 Meter pro Sekunde zurücklegen, während zugleich die Erde um die Sonne kreist, die selbst wiederum um das Zentrum der natürlich auch nicht still stehenden Milchstraße herumjagt – und kaum jemand würde aufhorchen oder gar staunend von seinem iPhone aufblicken. Wer würde versuchen, sich eine Vorstellung von der rasenden Bewegung im Weltraum zu machen, an der er selbst teilhat? Wollen die Leute überhaupt etwas wissen von der Eigenrotation der Erde, ihrem Rundlauf um die Sonne und der Dynamik der Milchstraße in einem expandierenden Universum, bei dem das Sonnensystem mit Millionen von Kilometern pro Sekunde mitgerissen wird, während sich Menschen in aller Ruhe auf der Erde die Bilder der Welt anschauen, ohne sich zu fragen, woher die offenbar seit Ewigkeiten wirkende Energie für solch eine Erddynamik und die Welt überhaupt kommt.
Die Beschwerde eines Schriftstellers
Viele verstehen ihre Welt allein in diesen kosmischen Bezügen schon längst nicht mehr, was zu Hebbels von der Bühne aus ins Publikum gesprochenem Satz zurückführt, der sich zu seiner Zeit nur mittelbar auf die Erkenntnisse der Wissenschaft bezog. In diese Richtung stieß dann aber im 20. Jahrhundert gezielt ein anderer Dichter vor, nämlich Alfred Döblin, der in den Jahren der Weimarer Republik versuchte, die damals entstehende Physik von Einstein mit ihren dynamischen Gravitationsfeldern und dem Verschmelzen von Raum und Zeit zu verstehen, wobei er die zeitgleich gemachte Einsicht zu berücksichtigen hatte, die von der Unmöglichkeit handelte, Ereignisse als gleichzeitig zu erfassen.[7] Döblin knüpfte vor hundert Jahren an Hebbels Seufzer aus der Mitte des 19. Jahrhunderts an, nur dass sich der Autor von »Berlin Alexanderplatz« konkret darüber beschwerte, dass er trotz emsigen Bemühens die zu seinen Lebzeiten aufkommende und als Relativitätstheorie bezeichnete wissenschaftliche Beschreibung des Universums nicht mehr verstehen konnte. Die Welt, in der er lebte, war ihm fremd geworden, und schuld daran war ausgerechnet die Wissenschaft selbst, die doch das Verstehen fördern möchte und mit ihren vielfältigen Einsichten und technischen Anwendungen die Lebensbedingungen der Menschen seit dem 19. Jahrhundert immer stärker bestimmt, auch wenn Historiker das nicht ausreichend zur Kenntnis nehmen und sich durch den Sachverhalt eher belästigt fühlen. So konnte noch 2020 ein Buch über »Europa« erscheinen, das sich anschickt, eine »Geschichte seiner Kulturen« zu erzählen[8] und dabei mit keinem Wort auf Einstein eingeht. Der Goethepreisträger Max Planck findet in besagtem Werk nur deshalb Beachtung, weil er 1914 einen unglücklichen und politisch verlogenen »Aufruf an die Kulturwelt« unterschrieben hat, wobei das Buch unerwähnt lässt, dass der große Physiker später dafür ausdrücklich die Kriegsgegner um Verzeihung gebeten hat (und sich nicht einfach nur entschuldigen wollte, was auch keiner kann, der das Wort ernst nimmt). Und wer heutige Geschichtsschreiber – ökonomische wie kulturelle und politische – darüber informieren würde, dass die moderne Welt ihre Entstehung zu einem guten Teil dem gefährlichen Gedanken des Infinitesimalen aus der Mathematik verdankt, müsste bei vielen wohl feststellen, dass sie überhaupt nicht wüssten, wovon die Rede ist.[9] Sie wissen nicht, was sie alles nicht wissen, und was schlimm ist: Es kümmert sie auch nicht, da sie im...
Erscheint lt. Verlag | 21.4.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Naturwissenschaft |
Technik | |
Schlagworte | Albert Einstein • blödem Volke • Christian Morgenstern • Galgenberg • Galgenlieder • Naturwissenschaft • Physik • Public Understanding of Science • Sachbuch • Sinn von Wissenschaft |
ISBN-10 | 3-7776-3117-5 / 3777631175 |
ISBN-13 | 978-3-7776-3117-2 / 9783777631172 |
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Größe: 321 KB
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