Wagnisse (eBook)
352 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00854-0 (ISBN)
Charlotte Van den Broeck, geboren 1991 in Turnhout, Belgien, besitzt einen Magister in Englische und Deutsche Literatur und Verbal Arts am Konservatorium Antwerpen. 2015 erschien der erste Gedichtband 'Kameleon', der mit dem flämischen Herman-de-Coninck-Preis als bestes Debüt des Jahres ausgezeichnet wurde, 2017 folgte ihr zweiter Band 'Nachtroer', ausgezeichnet mit dem Paul Snoekprijs für den besten Gedichtband in der niederländischen Sprache. Ihre Lyrik wurde u.a. ins Deutsche, Englische, Französische, Spanische und Serbische übersetzt. 'Wagnisse' wurde nach Erscheinen begeistert aufgenommen, stieg sofort in die Bestsellerliste ein. Es erhielt den renommierten Wijnaendts Francken-Preis und stand auf der Shortlist für den bedeutenden Boekenbon Literatuurprijs 2020.
Charlotte Van den Broeck, geboren 1991 in Turnhout, Belgien, besitzt einen Magister in Englische und Deutsche Literatur und Verbal Arts am Konservatorium Antwerpen. 2015 erschien der erste Gedichtband 'Kameleon', der mit dem flämischen Herman-de-Coninck-Preis als bestes Debüt des Jahres ausgezeichnet wurde, 2017 folgte ihr zweiter Band "Nachtroer", ausgezeichnet mit dem Paul Snoekprijs für den besten Gedichtband in der niederländischen Sprache. Ihre Lyrik wurde u.a. ins Deutsche, Englische, Französische, Spanische und Serbische übersetzt. "Wagnisse" wurde nach Erscheinen begeistert aufgenommen, stieg sofort in die Bestsellerliste ein. Es erhielt den renommierten Wijnaendts Francken-Preis und stand auf der Shortlist für den bedeutenden Boekenbon Literatuurprijs 2020.
II. Kirche Saint-Omer (1607–1676), Verchin
Jean Porc (†1611)
Ob auch ich das Glück habe, in der Nähe einer verdrehten Turmspitze zu leben? Ich versuche, ihre Frage mit angemessener Enttäuschung zu beantworten. Madame Maquin ist schließlich niemand Geringeres als die stolze Präsidentin der Association les Clochers Tors d’Europe. Als der frühere Präsident des europäischen Vereins für verdrehte Turmspitzen vor vier Jahren sein Amt niederlegte, schlug er sie als geeignete Nachfolgerin vor. Völlig überraschend. Die Präsidentschaft ist ein siebenjähriges Mandat, nichts, was man auf die leichte Schulter nimmt, in erster Linie jedoch eine Ehre.
«Außerdem ist sie die erste Präsidentin», mischt sich ihr Mann, Monsieur Maquin, ein. Das Ehepaar, beide um die sechzig, hat eine zweieinhalbstündige Autofahrt hinter sich, um mich an der Kirche von Verchin, einem Dorf in Pas-de-Calais, zu treffen. Es versteckt sich zwischen Landstraßen, zwei Kilometer von der Quelle der Leie entfernt, und hat rund zweihundert Einwohner.
Der verdrehte Turm von Saint-Omer hat mich vorhin, von der Straße aus, an einen der kahlen Novemberzweige der Rosskastanien am Rand des Dorfes erinnert. Erst als ich näher an die Kirche herankam und die Perspektive korrigiert wurde, schien der krumme Ast nicht mehr einem Baum zu entsprießen, sondern als schiefer Zaubererhut auf einem Kirchturm zu sitzen.
Das Haus gegenüber der Kirche steht zum Verkauf. Daneben befindet sich ein kleiner Baumarkt mit Parkmöglichkeiten für drei Autos. Ab und zu kommt ein Lastwagen vorbei, der die Hauptstraße als Schleichweg benutzt. Ansonsten ist das Zentrum von Verchin wie ausgestorben. Vermutlich befinden sich hinter den Gardinen und runtergelassenen Rollläden Einwohner. Madame Maquin hat mich auf den ersten Blick erkannt. Sie kann nicht fassen, wie jung ich bin – eine Schriftstellerin aus Belgien, die hat sie sich ganz anders vorgestellt –, aber sie begrüßt mich herzlich. Monsieur Maquin schmiedet, kaum dass er mich gesehen hat, Pläne für eine Verjüngungspolitik des Vereins.
Was macht der Verein genau? Vor allem Kontakte zu den Medien knüpfen, den gegenseitigen Austausch befördern und natürlich: Forschung betreiben. Es müssen so viele Erkenntnisse wie möglich über die verdrehten Turmspitzen gesammelt und verbreitet werden. Europa zählt zweiundachtzig clochers tors. Ungefähr die Hälfte wurde bereits im ersten Band des auf zwei Bände angelegten Kompendiums beschrieben, das der Verein herausgegeben hat. M. Maquin holt das Buch aus dem Kofferraum seines Wagens. Die beiden haben noch nicht alle beschriebenen Türme persönlich in Augenschein nehmen können, aber das ist sicherlich ihr Traum. Bei jedem Turm, den sie besuchen, kommt ein Stempel in das Buch, ein Pilgerausweis ihrer Wallfahrt.
M. Maquin hat vorläufig auch schon ein Lieblingsexemplar: die verdrehte Turmspitze von Chesterfield, ganz aus Blei und sehr robust. Mme. Maquin bleibt in ihrer Eigenschaft als Präsidentin lieber neutral, aber den Turm von Verchin findet sie schon sehr besonders. «Als wollte er jeden, der vorbeikommt, mit einer Verbeugung begrüßen», schwärmt sie.
Wegen Umbauarbeiten befindet sich das Rathaus vorübergehend in einem Container hinter der Kirche. Das zähnefletschende Gebell von zwei Deutschen Schäferhunden hetzt uns über den Sandweg in die richtige Richtung. Der Bürgermeister von Verchin, Monsieur Lamourette, erwartet uns in seinem provisorischen Büro. Kaum haben wir es betreten, verschlägt uns heiße Luft den Atem, eine Elektroheizung bringt den Container auf tropische Temperaturen. Neben der Heizung stehen ein Archivschrank und eine Senseomaschine, gegenüber davon sechs Klappstühle und zwei schlichte Tische. An einem davon verschanzt sich die Sekretärin hinter einem brummenden MacBook Pro – ein Anachronismus in diesem Dorf, an dem die Digitalisierung ansonsten spurlos vorübergegangen zu sein scheint. Hinter dem anderen Tisch erhebt sich der Bürgermeister. Seine Tischplatte ist so gut wie leer, bis auf ein Stempelkissen in der rechten Ecke, auf dem ein Stempel auf Genehmigungen wartet. Bürgermeister Lamourette begrüßt uns mit einem Händedruck, der Respekt abringen möchte. Er betont, dass er sich extra Zeit für unseren Hobbyclub von Turmspitzenbegeisterten freigeschaufelt hat. Gleich darauf schickt er hinterher, dass wir uns keine Illusionen zu machen brauchen: Das Kircheninnere bekommen wir nicht zu sehen. Einsturzgefahr.
Die Sekretärin hat Kaffee gekocht, der in Verbindung mit der stickigen Hitze von der Elektroheizung sofort zu bohrenden Kopfschmerzen führt. Dann betritt ein extrem kleiner Mann, der sicherlich an die achtzig sein dürfte, den Container. Es handelt sich um M. Defebvin, den hiesigen Vereinsabgeordneten und Verchin-Spezialisten. Er spricht auf Ch’ti mit uns. Die harten Laute des Dialekts sorgen dafür, dass sein Französisch unverständlich ist, ganz so, als schlüge er sich bei jedem Wort einen Nagel in den Mund. Ich gehe insgeheim in Deckung und schweife gedanklich ab, hin zur fehlenden Kuppe des Zeigefingers seiner rechten Hand, mit der er meine nicht schüttelt. Defebvin scheint sich nur für die Präsidentin Mme. Maquin zu interessieren. Er überschüttet sie mit etwas, das vermutlich Komplimente sind. Ihr Mann scheint bei diesen Schmeicheleien kein bisschen eifersüchtig zu werden – im Gegenteil, er nimmt die an seine Frau gerichteten Worte entgegen, als gälten sie ihm. Wie Defebvin wohl seine Fingerkuppe verloren hat?
Erst als Mme. Maquin seine Sätze langsam, in lupenreinem Französisch für mich wiederholt, verstehe ich, dass er empört ist über den Grund meines Besuches.
«Das ist ein katholisches Dorf mit einer berühmten Kirche», protestiert Defebvin, «alle sind richtig stolz auf Saint-Omer mit ihrem authentischen, besonderen Turm. Angesichts der damaligen Möglichkeiten ist er gut ausgeführt worden! Sind Sie etwa aus Sensationsgier hergekommen?»
«Ich denke nicht», sage ich. «Aus persönlichen Gründen habe ich ein Interesse an architektonischen Fehlschlägen entwickelt. Vor allem an Fehlschlägen, die für den Architekten zum Verhängnis wurden, ja sich sogar fatal gegen ihn gekehrt haben. Le suicide?»
Hätte er mir das Wort damit in den Mund zurückstopfen können, hätte mir M. Defebvin eine Ohrfeige gegeben. Sein Blick verrät Weißglut, aber er reißt sich zusammen.
«Der Architekt, wer auch immer das gewesen sein mag, hat sich nicht vom Kirchturm gestürzt», sagt Defebvin nachdrücklich. «Warum hätte er das tun sollen?»
In seiner Frage liegt eine gewisse Provokation, seine Vehemenz verhöhnt mich, meine Thesen und romantischen Vermutungen. Aus Scham vom schiefen Kirchturm gesprungen? Schlampige Recherche aufgrund eines bloßen Gerüchts. Ein Gerücht, das mich, wie mir der erfahrene Spezialist klarmacht, nicht das Geringste angeht. Die hundertfünfundsiebzig Kilometer, die ich zurückgelegt habe, um eindeutig eines Besseren belehrt zu werden, sind leider umsonst gewesen.
Der Grund für meine Anwesenheit scheint M. Defebvin persönlich zu kränken, der sich als Heimatforscher schon ein Leben lang mit der Kirche beschäftigt. Genauso gut hätte er sagen können, dass ich hier nichts zu suchen habe, denn genau das ist seine Meinung, aber er geht auch taktisch vor. Unser Treffen gibt ihm Gelegenheit, meine Fehleinschätzung, mein Vorurteil über seine Kirche, geradezurücken. Defebvin möchte meinen Geschmack kultivieren, ja korrigieren, denn er sieht in dem Turm mitnichten ein Scheitern, er ist für ihn ein markantes, einzigartiges Symbol für das ansonsten farblose Dorf, in dem er lebt, und damit auch für ihn.
Bürgermeister Lamourette, der Defebvins stolze Sturheit kennt, wird Zeuge, wie sich sein Besprechungstisch in eine Kampfarena verwandelt, und nimmt eine Mittlerrolle ein. Lamourette bestätigt, dass es diese Anekdote gibt. Einer Legende nach soll sich der Architekt tatsächlich vom Kirchturm gestürzt haben, nachdem er sah, dass die Spitze verdreht war. Hier in der Gegend werde das schon mal im Scherz erzählt. Ob es auch der historischen Wirklichkeit entspreche, wage er jedoch zu bezweifeln. Der Bau der Kirche habe ungefähr siebzig Jahre gedauert. Mehrere Generationen seien daran beteiligt gewesen. Damals habe ein Großvater mit der Errichtung eines solchen Baus begonnen, und erst der Enkel, der das Handwerk von ihm lernte, habe erleben dürfen, wie die Kirche bei ihrer Fertigstellung aussah. Es sei nicht bekannt, ob überhaupt ein einzelner Architekt für diesen Entwurf verantwortlich gewesen sei. In Rom habe es damals alle möglichen Michelangelos gegeben, aber hier in Verchin habe der Bau vermutlich in Händen der lokalen Steinmetzgilde gelegen.
«Ursprünglich war das tatsächlich die Gilde, aber eines muss hier schon erwähnt werden: Die heutige Kirche ist nach dem Brand von 1860 entstanden und wurde von der Gemeinde Verchin erbaut», mischt sich Defebvin ein, der das Gespräch erneut an sich reißt.
«Mein Großcousin, der ein Stück weiter in Teneur lebt, ist ein erfahrener Ahnenforscher. Er erstellt Stammbäume und Familiengeschichten für einen fairen Preis. Außerdem kennt er sich mit den allerneuesten Datierungsmethoden aus. Er hat das Beil und die Säge untersucht, die ich als kleiner Junge von meinem Großvater bekommen habe, der sie wiederum von seinem Großvater bekommen hat. Ihm zufolge – und ich vertraue ihm da voll und ganz, er hat an einer grand école studiert – sind sowohl Beil als auch Säge Originalwerkzeug aus der Zeit des Brandes. Das bedeutet, dass mein...
Erscheint lt. Verlag | 21.4.2021 |
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Übersetzer | Christiane Burkhardt |
Zusatzinfo | Mit 13 s/w Fotos |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Technik ► Architektur |
Schlagworte | Architekten • Architektur • August Sicard von Sicardsburg • Bauwerke • Eduard van der Nüll • Erinnerung • failed architecture • Flämisch • Flandern • Francesco Borromini • Kelvingrove Art Gallery • Lyrik • San Carlo alle Quattro Fontane • Scheitern • Wiener Staatsoper |
ISBN-10 | 3-644-00854-X / 364400854X |
ISBN-13 | 978-3-644-00854-0 / 9783644008540 |
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