Stadt der Nachtigallen (eBook)

Berlins perfekter Sound
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2020 | 1. Auflage
256 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00568-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Stadt der Nachtigallen -  David Rothenberg
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David Rothenberg hat Musik mit Walen, Insekten, mit Wasser und Wind gemacht: Den perfekten Sound haben ihm dann aber die Berliner Nachtigallen geliefert, die dort im Wettkampf mit dem Stadtlärm über sich hinauswachsen. Der amerikanische Musikologe und Musiker Rothenberg, eine Ikone der Experimentalmusikszene weltweit, hat eine Symphonie der Großstadt geschrieben, das der Nachtigall ein musikalisches Denkmal setzt. Rothenberg, der Wissenschaftler, analysiert den Klang der Tiere, der Musiker Rothenburg jammt mit den Vögeln. So wird sein Buch zu einer poetischen Kulturgeschichte der Nachtigall und zur Erforschung der Beziehung von Geräusch und Musik und Poesie. Dazu setzt sich Rothenburg frühmorgens in die Berliner Hasenheide oder trifft Neuro- und Verhaltensbiologin und Leiterin des Nachtigall-Forschungsstelle an der Freien Universität, lässt sich vom Himmel über Berlin durch die Stadt leiten, trifft Berliner Musiker und Sänger und liest, was Kant zur Nachtigall geschrieben hat. Mit dem Musiker Korhan Erel gab er 2014 das erste Nachtigall-Konzert. Seitdem machen die beiden jedes Jahr im Mai öffentlich Musik - mit immer mehr Musikern aus der ganzen Welt.

David Rothenberg, geboren 1962, ist ein amerikanischer Philosoph und Jazzmusiker. Er studierte an der Harvard University und promovierte an der Boston University. Danach reiste er durch Europa und spielte Jazz-Klarinette. Er spielte unter anderen mit Peter Gabriel und Hamid Drake. Er ist Komponist, Musiker und Professor für Philosophie und Musik am New Jersey Institute of Technology. Von ihm sind die Bücher Why Birds Sing, Survival of the Beautiful und Bug Music: How Insects Gave Us Rhythm and Noise erschienen und 30 Musik- CDs.

David Rothenberg, geboren 1962, ist ein amerikanischer Philosoph und Jazzmusiker. Er studierte an der Harvard University und promovierte an der Boston University. Danach reiste er durch Europa und spielte Jazz-Klarinette. Er spielte unter anderen mit Peter Gabriel und Hamid Drake. Er ist Komponist, Musiker und Professor für Philosophie und Musik am New Jersey Institute of Technology. Von ihm sind die Bücher Why Birds Sing, Survival of the Beautiful und Bug Music: How Insects Gave Us Rhythm and Noise erschienen und 30 Musik- CDs.

Überrascht es Sie, dass es in Berlin Nachtigallen gibt? Sie sind nach ihrem Start in Afrika Tausende von Meilen geflogen bis hierher, sind übers Meer gekommen wie Flüchtlinge der Lüfte. Ihr Gesang steigt aus tiefer Stille auf, ihre Stimmen brechen durch den Lärm der Stadt. Jeder hat einen Lieblingsast, zu dem er alle Jahre zurückkehrt. Das ist uns bekannt, und doch erscheint uns ihr Gesang, wenn sie wieder da sind, wie ein Wunder.

Aus allen Tagen, die man für ein Mitternachtskonzert im Treptower Park in Betracht ziehen könnte, haben wir aus irgendeinem Grund den 9. Mai ausgewählt, den Abend, an dem die Menschen zu Tausenden in den Park einfallen. Vor neunundsechzig Jahren endete der Zweite Weltkrieg, und der Park wird voller Menschen sein, wenn die Vögel zu singen beginnen. Der Ort selbst verleiht dem Datum noch größere Bedeutung. Hier wird der Schlacht um Berlin gedacht, während der in weniger als zwei Monaten hunderttausend Menschen den Tod fanden. Hier steht ein monumentales Kriegsdenkmal, von den Sowjets zur Erinnerung an ihren Sieg im einstigen Ostdeutschland errichtet.

Beim Betreten des Ehrenmals passiert man ein abstraktes konstruktivistisches Tor, bedrohlich, mit Hammer und Sichel. Am anderen Ende der Allee, circa einhundertfünfzig Meter weit entfernt, steht, mit Sockel und Hügel insgesamt dreißig Meter hoch, die Bronzestatue eines russischen Soldaten in einem langen Militärmantel, der ein Kind auf dem Arm hält, so als wolle er ihm versichern, dass ihm von dem Grauen, an das hier erinnert wird, keine Gefahr droht. Auf dem breiten Weg zu der hoch aufragenden Skulptur befinden sich sechzehn schwere Sarkophage aus Kalkstein, verziert mit realistischen Reliefs, auf denen der Verlauf der Schlacht und der Mut ihrer Kommandeure geschildert wird, darunter mehr als einmal ein Bildnis von Stalin persönlich.

Das wiedervereinigte Deutschland renovierte das Denkmal in Erfüllung seiner in den Zwei-plus-vier-Verträgen festgehaltenen Unterhaltsverpflichtungen, der erklärende Text am Eingang deutet jedoch auf eine gewisse Distanzierung von der ästhetischen Gestalt des Bauwerks hin: «Das heute in seiner Symbolkraft pathetisch übersteigert wirkende Denkmal ist vom Geschichts- und Kunstverständnis der Sowjetunion unter Josef Stalin geprägt, das sich durch Monumentalität, Heldenverehrung und Personenkult sowie den Anspruch auf Ausschließlichkeit auszeichnete.»

Die Geschichte lastet schwer auf diesem Ort, und doch gibt es hier stille Wälder, einen See und einen wunderschönen Fahrradweg längs der Spree. Der Treptower Park mit seinem Mix aus Bepflanzung, breiten Alleen und bröckelnden Überresten des Kommunismus ist die zweitgrößte städtische Parkanlange Berlins. Und hier ist der Ort, wo jedes Frühjahr einige Dutzend Nachtigallenmännchen ihr Revier besiedeln und wir durch die dunklen Schatten greifbarer Geschichte streifen und in Kontakt mit der ältesten Musik der Welt treten.

Berlin ist die europäische Großstadt, in der man den Gesang der Nachtigall am häufigsten hören kann, und die beste Zeit dafür ist von Ende April bis Ende Mai. In diesem Zeitraum kehren die männlichen Vögel von ihrem Zug nach Afrika zurück, errichten ihre Reviere und singen für ihre Partner, mit denen sie dann zusammen nisten und ihre Jungen aufziehen. Anfang Juni wird der Gesang seltener; die Vögel bleiben bis August in den Bäumen, sind jedoch wesentlich stiller. Werden die Abende wieder kühler, brechen sie in den Süden auf und sind bis zum folgenden Jahr nicht zu sehen. Doch dann kommen sie pünktlich zurück, oft zu exakt dem Nistplatz, den sie im Jahr zuvor eingerichtet haben.

Nachtigallen genießen Geräusche. Der Lärm von uns Menschen macht ihnen offenbar nichts aus, möglicherweise ist er für sie sogar ein willkommener Ansporn. Von allen Singvögeln sind die Nachtigallen – Luscinia megarhynchos – und ihre Schwesterart, die Sprosser – Luscinia luscinia – die beiden einzigen Spezies, die tendenziell eher in der Dunkelheit singen und nicht im Licht des frühen Morgens. Insofern sind sie auch Symbole für die Abenteuer und Sehnsüchte der klandestinen, unziemlichen Dunkelheit.

Nachtigallen werden in Mythen, in Liedern, Gedichten und Geschichten gepriesen, und ich hatte schon viel über sie gelesen, bevor ich das erste Mal ihren Gesang hörte. Der Dichter Matthew Arnold, für den die Nachtigall einen alten, allwissenden Reisenden verkörperte, schrieb 1853:

O Wanderer von Griechenlands Gestaden,

Nach vielen Jahren noch, in fernen Landen,

Hegst du verwirrt in Hirn und Herz

Den ungestillten wilden alten Schmerz …

Arnold hörte erst den schwachen Widerhall eines antiken Mythos, bevor er zugeben konnte, dass es ein echter Vogel war. So geht es den meisten von uns, wenn wir zum ersten Mal eine Nachtigall hören. Als ich schließlich einer echten Nachtigall begegnete, konnte ich nicht glauben, was ich da hörte. Der Gesang war äußerst merkwürdig. Eine Reihe von abgehackten Phrasen, ein Mischmasch aus rhythmischen Zwitscherern, in die Länge gezogenen Pfiffen und kuriosen kontrastierenden Geräuschen. Es war weder lieblich noch melodisch wie die vielgepriesenen Gesänge der Einsiedlerdrossel in Nordamerika oder der Amsel in Europa. Dies ähnelte eher einer Attacke mit seltsamen Rhythmen. Musik war es zweifellos, aber eine fremdartige Musik, der Groove einer anderen Spezies, eine an das menschliche Ohr ergehende Aufforderung, sich erst einmal einzuhören. Ich wollte ergründen, was die Nachtigall da tat, und in mir regte sich der Wunsch, eines Tages mit ihr zu spielen.

Können wir ihren Gesang also ernsthaft als Musik auffassen? Mit einer Transkription in Noten und Takte wird man ihm nicht gerecht werden. Sonogramme können helfen, doch solche Abbildungen wirken wie wissenschaftlicher Geheimcode. Johann Matthäus Bechstein, Pionier des Naturschutzes und Zoologe, unternahm in seinem Werk Die Naturgeschichte der Stubenvögel von 1795 den Versuch, den Gesang der Nachtigall in Worten wiederzugeben:

Tiuu tiuu tiuu tiuu

Spe tui squa

Tio tio tio tio tio tio tio tix

Qutio qutio qutio qutio

Squo squo squo squo

tsü tsü tsü tsü tsü tsü tsü tsütsü tsi

Quorror tiu squa pipiqui.

Sosososososososososososo Sirrhading!

Tsisisi tsisisisisisisisi

Sorre sorre sorre sorre hi;

Tsatn tsatn tsatn tsatn tsatn tsatn tsatn si,

Dlo dlo dlo dlo dlo dlo dlo dlo dlo dlo

Quiro tr rrrrrrrr its

Lü lü lü lü ly ly ly ly li li li li

Quio didl li lulyi …

Das klingt und liest sich nicht wie menschliche Laute. In der Natur singt eine Nachtigall auch längst nicht so melodiös, wie es oft geschildert wird. Der Literaturwissenschaftler John Elder war ebenso überrascht wie ich, als er den Vogel auf seiner ersten Europareise hörte, und schloss daraus, dass unsere Begeisterung für den Gesang der Nachtigall gleichermaßen auf den Tonumfang und die Kraft des weithin durch die Bäume getragenen Lieds zurückzuführen ist wie auf dessen musikalische Eigenschaften. Der Vogel singt mit so viel Leidenschaft, dass man den Eindruck gewinnt, er würde, wenn es denn sein müsste, an seiner Musik sterben, wie die antiken Mythen implizieren.

Ich musiziere mit anderen Spezies und spüre ihnen auf der ganzen Welt nach, begleite sie mit der Klarinette, lebe in ihren Habitaten und kreiere Musik mit Klängen, die ich vielleicht niemals verstehen werde, aus Tönen, die nicht für mich gesungen werden. Ich passe mein Spiel so an, dass Klarinette und Nachtigall einen Klang entstehen lassen, den keiner von uns beiden allein hervorbringen könnte.

Dass ich das in der zweitgrößten Stadt Westeuropas tun kann, einer Stadt, in der fast vier Millionen Menschen leben, erfüllt mich mit besonderer Hoffnung. Am Londoner Berkeley Square singen zwar keine Nachtigallen mehr, wie es einst in einem berühmten Song hieß, doch im Treptower Park, in der grünen Oase an der Spree, wo Ost und West einst geteilt waren, sind sie überall.

In Berlin sind es nicht nur die Parks, in denen man auf Nachtigallen stößt: manche ziehen Bäume in stillen Stadtvierteln vor, hinter einem Spielplatz oder auf einer Brache, wo ihr Gesang durch den Amphitheater-Effekt der umgebenden Gebäude verstärkt werden kann. Ein Vogel ist berühmt dafür, dass er sich allnächtlich auf einer Ampel an der Hauptkreuzung in Alt-Treptow niederlässt, direkt neben der S-Bahn-Station und dem Eingang in den Park gelegen, so als habe er sich absichtlich die lauteste Stelle ausgesucht und wolle beweisen, dass sein Gesang durchdringender und ausdauernder ist als der Lärm ringsherum.

Berlin ist heute eine internationale Stadt, in der alle, die unbedingt Kunst machen wollen, heimisch werden. Du kannst dich jeder beliebigen Szene anschließen oder eine eigene begründen – es gibt ständig ein neues, noch nicht hippes Viertel, das darauf wartet, von der nächsten Gruppe besiedelt zu werden, die ein ausgebranntes Haus instand setzt oder ein verfallendes Fabrikgebäude bewohnbar macht. Berlin ist nach wie vor die erschwinglichste Hauptstadt für Menschen, die sich in Europa niederlassen wollen. Es ist eine Stadt, in der Menschen etwas Neues beginnen und nicht verlangen, dafür bezahlt zu werden. Man braucht nicht zwischen zwei Jobs hin und her zu hetzen für das Privileg, Kultur zu schaffen, wie man es in New York müsste. Die Stadt macht die Musik für dich. Vielleicht empfinden die Nachtigallen das genauso. Auch sie sind Außenseiter mit ihrem Gesang, der so seltsam und komplex ist, wie ihn kaum ein anderer Vogel auf der Welt hervorbringt. Er hat bestimmte...

Erscheint lt. Verlag 21.4.2020
Übersetzer Silvia Morawetz
Zusatzinfo Mit 14 4-farb. Abb. u. zahlr. s/w Abb.
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Natur / Technik Natur / Ökologie
Technik
Schlagworte Berlin • Musik • Nachtigall • Vogelkonzert
ISBN-10 3-644-00568-0 / 3644005680
ISBN-13 978-3-644-00568-6 / 9783644005686
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