Das Glück des Gehens (eBook)
256 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00144-2 (ISBN)
Shane O'Mara ist Professor für Experimentelle Neurowissenschaft am Trinity College der Universität Dublin. Er ist leitender Forscher und war Direktor am Institut für Neurowissenschaften des Trinity College, eines der führenden neurowissenschaftlichen Forschungszentren Europas. Wo und wann immer möglich unternimmt er ausgedehnte Spaziergänge, besonders gerne in fußgängerfreundlichen Städten. Er twittert als @shaneomara3 und schreibt einen regelmäßgen Newsletter (brainpizza.substack.com/).
Shane O'Mara ist Professor für Experimentelle Neurowissenschaft am Trinity College der Universität Dublin. Er ist leitender Forscher und war Direktor am Institut für Neurowissenschaften des Trinity College, eines der führenden neurowissenschaftlichen Forschungszentren Europas. Wo und wann immer möglich unternimmt er ausgedehnte Spaziergänge, besonders gerne in fußgängerfreundlichen Städten. Er twittert als @shaneomara3 und schreibt einen regelmäßgen Newsletter (brainpizza.substack.com/). Hainer Kober, geboren 1942, lebt in Soltau. Er hat u.a. Werke von Stephen Hawking, Steven Pinker, Jonathan Littell, Georges Simenon und Oliver Sacks übersetzt.
1 Warum Gehen gut für uns ist
Sehr zu unserem Nachteil übersehen wir, welche Vorteile uns das Gehen für Gesundheit, Stimmung und für die Klarheit unseres Denkens bringt. Heute leben viele von uns in einer unnatürlichen Umwelt, in der wir lange Zeitabschnitte des Tages sitzend verbringen, die Augen aus einer Entfernung von etwa einem halben Meter auf einen Bildschirm gerichtet. Wenn wir aufstehen und umhergehen, verändert sich unsere Haltung: Rumpf und Wirbelsäule bilden von Kopf bis Rücken eine senkrechte Achse und sind über die Beine und mit den Füßen mit dem Boden in Kontakt. Wenn wir dagegen sitzen, lastet das Gewicht unseres Rumpfes weitgehend auf dem unteren Rücken und insbesondere auf dem Steißbein, dieser kleinen Knochengruppe, die die Rudimente des menschlichen Schwanzes enthält. Das Steißbein ist in einem bemerkenswerten Geflecht von Sehnen und Muskeln verankert, das sich über die Wirbelsäule bis zu den Oberschenkeln und vor allem dem Gluteus maximus, dem Großen Sitzmuskel, erstreckt – Muskelgruppen, die von entscheidender Bedeutung für das Gehen sind. Kein Wunder, dass Schmerzen im unteren Rücken zu den häufigsten Beschwerden in den Industrienationen gehören.
Wie dumm, dass das Heilmittel – regelmäßig aufzustehen und umherzugehen – so wenig bekannt ist oder genutzt wird. Lange Zeiträume ohne Bewegung rufen auch Veränderungen in unseren Muskeln hervor: In den Beinmuskeln bilden sich Fettablagerungen, und wenn wir altern, verlieren wir infolge unserer Unbeweglichkeit Muskelmasse («Sarkopenie»). Es gibt noch weitere Veränderungen: Der Blutdruck wandelt sich, genauso die Stoffwechselrate (das Tempo der Energieverbrennung). Doch wenn wir aufstehen, geht plötzlich ein Ruck durch Gehirn und Körper: Wir werden «kognitiv mobil», das Denken kommt in Bewegung, der Kopf dreht sich hin und her, unsere Augen wandern. Unsere Hirnaktivität wechselt in einen ganz anderen Modus, die eben noch ruhigen, unauffälligen Hirnfrequenzen werden angeregt und aktiver. Wir werden wacher, unsere Atmung beschleunigt sich, Hirn und Körper bereiten sich darauf vor zu handeln. Der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau schrieb: «[…] ich kann […] nur im Gehen denken; sobald ich Halt mache, ist es mit dem Denken vorbei, und mein Kopf hält nur mit meinen Füßen Schritt.»
Eine meiner eigenen Erinnerungen ans Gehen: Während der düsteren und scheinbar endlosen 1980er-Jahre bin ich als Student auf einer Konferenz in Belfast. Ich mache einen langen Spaziergang die Malone Road hinauf, an der Queen’s University vorbei ins Stadtzentrum hinein. Dabei komme ich an mehreren Absperrungen vorbei. Junge Soldaten mit furchteinflößenden Waffen patrouillieren durch die Stadt. Sie kontrollieren Einkaufstaschen auf Waffen und Bomben und sprechen mit englischem Akzent nervös miteinander. Eine enorme Spannung liegt in der Luft. Die Stimmung im Land ist geprägt von dem umstrittenen Politiker Ian Paisley, der gegen das Anglo-Irische-Abkommen agitiert, und von den schrecklichen Grausamkeiten, den vielen Bombenattentaten und Morden im Nordirlandkonflikt. Trotzdem ist die Stadt lebendig. Eine Stadt kann man nur schwer töten.
Wenn ich an diesen Spaziergang während meines ersten Besuchs in Belfast zurückdenke, erinnere ich mich daran, dass ich an dem von Bombenattentaten heimgesuchten Europa Hotel vorbeikam. Von dort wandte ich mich nach Osten durch die Botanic Avenue und ging dann in einer langen Schleife durch die umliegenden Straßen zur Hinterseite des Europa Hotels zurück. Warum diese Route? Einfach weil ich sie gehen konnte. Das ist der Vorteil, wenn man zu Fuß unterwegs ist. Es ist früher Samstagnachmittag, und Regen liegt in der Luft. Während ich so herumwandere, stelle ich plötzlich fest, dass ich mich zufällig in der Sandy Row befinde, Belfasts loyalistischem Epizentrum. Die Wandmalereien sind beeindruckend und ein wenig angsteinflößend für jemanden aus dem beschaulichen und friedlichen Süden. Ich gehe rasch weiter und stoße schließlich auf die Lisburn Road. Von dort gelange ich wieder in die Malone Road, in der wir Studenten alle untergebracht sind. Hier in Belfast ist ein Spaziergang ein Spaziergang in eine Vergangenheit, die immer noch Gegenwart ist. Oder, wie es so treffend heißt: «Die Vergangenheit ist noch nicht einmal vergangen.»
In dieser kleinen privaten Reiseerinnerung sind viele Elemente der verborgenen Geschichten des Gehens enthalten: eine mentale Zeitreise, um sich an Einzelheiten zu erinnern, Reminiszenzen an einen Spaziergang, erfolgreiche Orientierung in einer fremden städtischen Umgebung, der kleine Angstschauer, der mich noch immer überkommt, wenn ich an die Absperrungen und die Wandmalereien zurückdenke. Wir wissen, dass die Hirnsysteme, die für alle diese Funktionen zuständig sind, in ständiger Verbindung miteinander stehen und sich gegenseitig unterstützen. Entscheidend dabei ist, dass diese Systeme nicht vollkommen sind. Mein Gedächtnis hat mich ein bisschen ausgetrickst. Es hat die Route etwas vereinfacht und wichtige Einzelheiten ausgelassen. In meiner Erinnerung liegt die Botanic Avenue dem Europa Hotel fast gegenüber. Das ist nicht der Fall, wie mir ein Blick auf die Karte zeigt. Die Botanic Avenue bildet einen spitzen Winkel mit der Great Victoria Street, und in der liegt das Europa Hotel in Wirklichkeit. Seltsamerweise habe ich auch den größten Teil der Einzelheiten über die relative Lage der Sandy Row und des Europa Hotels ausgeblendet. Nach meiner Erinnerung befindet sich die Sandy Row fast direkt hinter dem Europa. Ganz und gar nicht: Die Sandy Row liegt viel weiter südlich. Mein Gedächtnis speichert die wichtigsten Punkte von Orten, Plätzen, Dingen nur höchst unzuverlässig; leider habe ich in meinem Gehirn keine zuverlässige Videoaufzeichnung von der Route, die ich vor all den Jahren gegangen bin.
Das ist der entscheidende Aspekt des episodischen und des Ereignis-Gedächtnisses: Sie sind unvollkommen, sind auf das Wesentliche beschränkt, sie konzentrieren sich auf die Bedeutung, auf besonders auffällige Punkte und ignorieren andere. In unserer Umgebung gibt es viele Informationen, die unser mobiler Geist aufnehmen kann – viel mehr, als wir wissen müssen. Wie wir uns bewegen, was wir anschauen, mit wem wir sprechen, was wir fühlen, während wir uns bewegen: Das sind zentrale Komponenten unserer Erfahrung. All das wird als Erinnerung aufgenommen und mit entsprechenden Gedächtnisspuren in unserem Gehirn abgespeichert. Wir sind keine körperlosen Gehirne, die durch Zeit und Raum reisen: Wir spüren den Boden unter den Füßen, den Regen im Gesicht; vielleicht starren wir ins Unbekannte, aber dabei erweitern wir den Horizont unserer Erfahrungen in dieser komplizierten Welt. Still und unermüdlich speichern wir die Erinnerungen an die Orte, an denen wir gewesen sind, und legen Karten von der Welt an, die wir kennengelernt haben.
Man kann nachweisen, dass sich bei Menschen, die aufstehen und umhergehen, das Gehirn verändert. Mit einem einfachen Experiment – dem sogenannten Stroop-Test, der von dem amerikanischen Psychologen John Ridley Stroop entwickelt wurde – wird die «kognitive Kontrolle gemessen», mit anderen Worten, die Fähigkeit, Ihre Aufmerksamkeit und Ihr Denken zu steuern. Der Stroop-Test besteht darin, unter erschwerten Bedingungen Farben und Wörter zu identifizieren. Den Teilnehmern wird eine Liste mit Farbnamen dargeboten (Rot, Grün, Blau, Schwarz etc.). Sie werden entweder in der gleichen Farbe gedruckt (beispielsweise das Wort «Rot» in Rot) oder in einer anderen Farbe (das Wort «Rot» in Grün). Die Probanden werden aufgefordert, die Farbe des gedruckten Worts so schnell wie möglich zu benennen. Wenn das gedruckte Wort und die Farbe, die es benennt, übereinstimmen, sind die Reaktionszeiten in der Regel gering und die Angaben sind genau. Wenn dagegen gedrucktes Wort und Farbname nicht zusammenpassen, sind die Reaktionszeiten viel höher.
Häufig ist die Leistung im Stroop-Test bei Dual-Tasking-Bedingungen – Doppelaufgaben – beeinträchtigt. Dabei wird ein Teilnehmer beispielsweise aufgefordert, Farben zu benennen, während er gleichzeitig angewiesen wird zu überprüfen, ob Sätze, die ihm über Kopfhörer zugespielt werden, bestimmte Wörter oder Sätze enthalten, und das gegebenenfalls durch einen Knopfdruck zu signalisieren. Der Stroop-Effekt tritt sehr zuverlässig ein und lässt sich leicht nachweisen. Häufig erklärt man ihn damit, dass er die Teilnehmer dazu bringt, bestimmten Aspekten des visuellen Reizes selektive Aufmerksamkeit zu schenken. Gleichzeitig müssen sie die Tendenz unterdrücken, auf andere (automatische, aufmerksamkeitsheischende, dominante) Aspekte des visuellen Reizes zu achten, eine entsprechende Auswahl treffen und die angemessene Reaktion zeigen.
Aber was geschieht, wenn Sie zu diesem Mix noch Bewegung hinzugeben? Der Experimentalpsychologe David Rosenbaum und seine Kollegen von der Universität Tel Aviv fragten sich, ob bloßes Aufstehen sich in irgendeiner Weise auf die Stroop-Leistung auswirken würde. Sie führten eine Serie von drei Experimenten durch, in denen sie Teilnehmer aufstehen ließen. Dabei fanden sie heraus, dass der Stroop-Effekt für inkongruente Reize – bei denen sich die Leistung eigentlich verlangsamen müsste – bei stehenden Teilnehmern im Vergleich zu sitzenden Versuchspersonen tatsächlich schneller als normal ist. Es ist, als mobilisiere der bloße Akt des Aufstehens kognitive und neuronale Ressourcen, die sonst ungenutzt blieben. Außerdem zeigen neuere Studien, dass Gehen die Blutzirkulation im...
Erscheint lt. Verlag | 24.3.2020 |
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Übersetzer | Hainer Kober |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Naturwissenschaft |
Technik | |
Schlagworte | Gedächtnis • Gehen • Geist • Gesundheit • Kreativität • Kulturgeschichte • Laufen • Neurowissenschaft • Psychologie • Resilienz • Spaziergang • Verstand • Wandern • Wohlbefinden |
ISBN-10 | 3-644-00144-8 / 3644001448 |
ISBN-13 | 978-3-644-00144-2 / 9783644001442 |
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