Psychologie der Intelligenz (Schlüsseltexte in 6 Bänden, Bd. 4) (eBook)

Schlüsseltexte Band 4

(Autor)

Richard Kohler (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
224 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-10683-1 (ISBN)

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Psychologie der Intelligenz (Schlüsseltexte in 6 Bänden, Bd. 4) -  JEAN PIAGET
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Die im Jahre 1942 an der Sorbonne gehaltenen Vorlesungen liefern eine übersichtliche Zusammenfassung von Jean Piagets bisheriger entwicklungspsychologischer Forschung. Insbesondere seine ausführliche Auseinandersetzung mit der Gestalttheorie ermöglicht einen Einblick in seine Theorieentwicklung und Argumentationsmuster. Mit seiner Analyse und Kritik der Gestalttheorie kommt er zu dem Schluss, dass die Wahrnehmung nicht der grundlegende Mechanismus der Intelligenzentwicklung sein kann, sondern dass sie auf Handlungen aufbaut. Da diese in einem Raum stattfinden, haben die Operationen, die verinnerlichten Handlungen, eine mathematische Struktur. Deren Entwicklung zeichnet Piaget in den zentralen Dimensionen und Stufen nach, wobei sowohl die sozialen wie auch die biologisch-psychologischen Faktoren berücksichtigt werden.

Jean Piaget (1896 - 1980) gilt als bedeutendster Entwicklungspsychologe des 20. Jahrhunderts. Sein Werk erweist sich als eine umfassende Theorie der Entwicklung des Erkennens, Denkens und Wissens, dem aufgrund des nachhaltigen Einflusses auf die Pädagogik, Psychologie und Erkenntnistheorie der Status eines Klassikers der Humanwissenschaften zukommt. Zusatzmaterial: >> chronologische Bibliographie der veröffentlichten Werke von Jean Piaget: https://www.klett-cotta.de/media/35/Buch_Piaget_Schluesseltexte_Biblioraphie.pdf

Jean Piaget (1896 – 1980) gilt als bedeutendster Entwicklungspsychologe des 20. Jahrhunderts. Sein Werk erweist sich als eine umfassende Theorie der Entwicklung des Erkennens, Denkens und Wissens, dem aufgrund des nachhaltigen Einflusses auf die Pädagogik, Psychologie und Erkenntnistheorie der Status eines Klassikers der Humanwissenschaften zukommt. Zusatzmaterial: >> chronologische Bibliographie der veröffentlichten Werke von Jean Piaget: https://www.klett-cotta.de/media/35/Buch_Piaget_Schluesseltexte_Biblioraphie.pdf Richard Kohler, Dr., geb. 1962, studierte Pädagogik, Soziologie und Philosophie an der Universität Zürich und promovierte über »Piaget und die Pädagogik«. Er lehrt an der Pädagogischen Hochschule Thurgau und leitet dort das Basisstudium der Sekundarstufe I.

KAPITEL I


INTELLIGENZ UND
BIOLOGISCHE ANPASSUNG

Jede psychologische Erklärung basiert letztlich auf einer biologischen oder logischen Grundlage (oder auf einer soziologischen, die aber zu der gleichen Alternative führt). Für die einen werden die geistigen Phänomene nur in ihrer Verbindung mit dem Organismus verständlich. Diese Art der Betrachtung drängt sich eindeutig beim Studium der elementaren Funktionen (Wahrnehmung, Motorik etc.) auf, von denen die Intelligenz in ihren Anfängen abhängig ist. Es ist jedoch kaum zu erwarten, dass uns die Neurologie jemals erklären kann, warum zwei und zwei vier ist und warum der Geist die Gesetze der Deduktion als notwendig anerkennen muss. Daher die zweite Richtung, welche die mathematischen und logischen Beziehungen als irreduzibel auffasst und ihre Analyse an diejenige der höheren geistigen Funktionen koppelt. Die Frage ist jedoch, ob die Logik, wenn man davon ausgeht, dass sie sich den experimentellen psychologischen Erklärungsversuchen entzieht, ihrerseits noch legitimiert ist, selbst irgendetwas auf dem Gebiet der Psychologie zu erklären. Denn die formale Logik oder mathematische Logik ist nichts anderes als die Axiomatik der Gleichgewichtszustände des Denkens und die reale Wissenschaft, die dieser Axiomatik entspricht, ist nichts anderes als eben die Psychologie des Denkens. Ausgehend von dieser Aufteilung der Aufgaben muss die Kognitionspsychologie alle weiteren Fortschritte der Logik berücksichtigen, die ihr jedoch nur neue Probleme stellen, auf keinen Fall aber deren Lösung diktieren können.

Von dieser doppelten, biologischen und logischen Natur der Intelligenz müssen wir also ausgehen. Die beiden folgenden Kapitel haben die Aufgabe, diese Ausgangsfragen abzugrenzen und vor allem zu versuchen, die bei dem heutigen Stand der Kenntnisse größtmögliche Einheit zwischen diesen beiden grundlegenden, in der Erscheinung aber nicht reduziblen Aspekten des menschlichen Denkens herzustellen.

1. Die Position der Intelligenz in der kognitiven Organisation


Jedes Verhalten – gleichgültig, ob es sich um eine äußere oder eine zum Gedanken verinnerlichte Handlung handelt – stellt sich uns als eine Anpassung, oder, genauer, als eine Wiederanpassung dar. Das Individuum handelt nur, wenn es das Bedürfnis zum Handeln empfindet, wenn also das Gleichgewicht zwischen dem Organismus und der Umwelt für den Augenblick gestört ist. Die Handlung bezweckt die Wiederherstellung dieses Gleichgewichts, d. h. die Wiederanpassung des Organismus (Claparède). Jedes »Verhalten« ist also nur ein spezifischer Fall der wechselseitigen Austauschprozesse zwischen Außenwelt und Subjekt. Im Gegensatz zum physiologischen Stoffwechsel, welcher materiell ist und eine innere Veränderung des jeweiligen Körpers voraussetzt, ist jedoch das von der Psychologie studierte »Verhalten« funktional und vollzieht sich in einem immer größeren Aktionsradius im Raum (Wahrnehmung) und in der Zeit (Gedächtnis etc.) und auf immer komplexeren Bahnen (Rück- und Umwege etc.). Das in Begriffen der funktionalen Austauschprozesse verstandene Verhalten setzt seinerseits zwei wesentliche und eng voneinander abhängige Aspekte voraus: einen affektiven und einen kognitiven.

Über die Beziehungen zwischen Affektivität und Erkenntnis wurde viel diskutiert. Nach Janet muss zwischen der »primären Handlung« oder der Beziehung zwischen Subjekt und Objekt (Intelligenz etc.) und der »sekundären Handlung« oder Reaktion des Subjekts auf seine eigene Handlung unterschieden werden: Diese Reaktion, welche die elementaren Gefühle konstituiert, besteht aus Regulierungen der primären Handlung und sichert den Verbrauch der zur Verfügung stehenden inneren Kräfte. Aber neben diesen Regulierungen, die in der Tat die Energetik, d. h. die innere Ökonomie des Verhaltens bestimmen, muss man unserer Meinung nach auch denen einen Platz einräumen, die seine Finalität oder Werte regulieren. Solche Werte kennzeichnen einen energetischen oder ökonomischen Austausch mit der Umwelt. Laut Claparède weisen die Gefühle dem Verhalten ein Ziel zu, während die Intelligenz sich damit begnügt, die Mittel (die »Technik«) zu liefern. Aber es gibt ein Verständnis der Ziele wie der Mittel, welches selbst die Finalität des Verhaltens ständig modifiziert. Insofern das Gefühlsleben das Verhalten bestimmt, indem es seinen Zwecken einen Wert attribuiert, kann man sich auf die Feststellung beschränken, dass es die für das Handeln notwendigen Energien liefert, während das Erkennen ihm eine Struktur gibt. Daher die von der sogenannten Gestaltpsychologie vorgeschlagene Lösung: Das Verhalten setzt ein das Subjekt und die Objekte umfassendes »Gesamtfeld« voraus, dessen Dynamik die Gefühle bilden (Lewin), während seine Strukturierung durch die Wahrnehmungen, die Motorik und die Intelligenz gesichert wird. Wir werden eine ähnliche Formulierung gebrauchen, mit dem einen Unterschied, dass unserer Meinung nach weder die Gefühle noch die Erkenntnisstrukturen ausschließlich vom gegenwärtigen »Feld« abhängen, sondern auch von der gesamten vorangegangenen Geschichte des aktiven Subjekts. Wir werden also einfach sagen, dass jedes Verhalten einen energetischen oder affektiven und einen strukturellen oder kognitiven Aspekt umfasst, womit die verschiedenen, oben aufgezählten Gesichtspunkte vereinigt werden.

Alle Gefühle bestehen in der Tat entweder aus Regulierungen der internen Energien (»grundlegende Gefühle« bei Janet, »Interesse« bei Claparède etc.) oder aus Regelungen des Energieaustausches mit der Außenwelt (alle Arten von »Werten«, tatsächlichen oder stellvertretenden; vom »Aufforderungscharakter« des Gesamtfeldes bei Lewin und den »Valenzen« Russells bis zu den interindividuellen oder sozialen Werten). Der Wille selbst muss aufgefasst werden als ein Spiel von affektiven und daher energetischen Operationen, die die höheren Werte betreffen und diese zur Reversibilität und Erhaltung befähigen (moralische Gefühle usw.) und die parallel zum System der logischen Operationen mit ihren Beziehungen zu den Begriffen existieren.

Wenn aber jedes Verhalten ohne Ausnahme eine »Energetik« oder eine »Ökonomie« voraussetzt, die seine affektive Seite bildet, so haben die Austauschprozesse mit der Umwelt, die es hervorruft, ebenfalls eine Form oder Struktur, welche die verschiedenen möglichen Kreisläufe bestimmt, die sich zwischen Subjekt und Objekt festsetzen. Genau diese Strukturierung des Verhaltens bildet seine kognitive Seite. Eine Wahrnehmung, eine sensomotorische Aneignung (Gewohnheit etc.), ein Akt des Verstehens, ein logischer Schluss etc., sie alle strukturieren in der einen oder anderen Weise die Beziehungen zwischen Organismus und Umwelt. Deswegen weisen sie alle eine innere Verwandtschaft auf, die sie von den affektiven Erscheinungen unterscheidet. Wir bezeichnen sie, die sensomotorischen Anpassungen mit einbegriffen, daher als kognitive Funktionen im weiten Sinn.

Affektives und kognitives Leben sind also untrennbar, wenn auch verschieden. Sie sind untrennbar, weil jeder Austausch mit der Umwelt gleichzeitig eine Strukturierung und eine Wertung voraussetzt, aber sie bleiben unterschiedlich, weil diese beiden Aspekte des menschlichen Verhaltens nicht aufeinander zurückgeführt werden können. Selbst in der reinen Mathematik ist es unmöglich zu denken, ohne gleichzeitig bestimmte Gefühle zu empfinden, und umgekehrt gibt es kein Gefühlsleben ohne ein Minimum an Verständnis oder Differenzierung. Ein Intelligenzakt setzt also selber eine innere energetische Regulierung (Interesse, Anstrengung, Leichtigkeit etc.) und eine äußere (Wert der gesuchten Lösungen und der untersuchten Objekte) voraus, aber diese beiden Regelungen sind affektiv und mit allen anderen Regulierungen dieser Art vergleichbar. Umgekehrt betreffen die Wahrnehmungs- oder Denkelemente, die man in allen emotionalen Äußerungen wiederfindet, das kognitive Leben wie jede andere perzeptive oder kognitive Reaktion. Was der gesunde Menschenverstand im Allgemeinen »Gefühle« und »Intelligenz« nennt und als gegensätzliche »Fähigkeiten« einander gegenüberstellt, besteht ganz einfach aus Verhaltensweisen, von denen man die ersten auf Menschen, die zweiten aber auf Ideen oder auf Dinge bezieht. Aber beide Verhaltensweisen enthalten dieselben affektiven und kognitiven Aspekte des Handelns, welche in Realität immer vereint sind und daher auf keinen Fall zwei unabhängigen Fähigkeiten entsprechen.

Mehr noch besteht die Intelligenz selbst nicht aus einer isolierten und diskontinuierlichen Klasse von kognitiven Prozessen. Sie ist genau genommen keine Struktur unter vielen anderen, sondern die Gleichgewichtsform, zu der alle Strukturen streben, deren Entstehung bereits in der Wahrnehmung, in den Gewohnheiten und in den elementaren sensomotorischen Mechanismen zu suchen ist. Man muss verstehen, dass die Negation der Intelligenz als Fähigkeit notwendigerweise zur Annahme einer radikalen funktionalen Kontinuität von der Gesamtheit der niedrigsten Typen der kognitiven und motorischen Anpassung bis zu den höchsten Denkformen führt. Die Intelligenz kann dann nur mehr die Gleichgewichtsform sein, zu der die ersteren hinstreben. Das bedeutet natürlich weder, dass ein logischer Schluss eine Koordination von Wahrnehmungsstrukturen noch dass die Wahrnehmungen unbewusste Denkprozesse darstellten (obwohl die eine und die andere These schon vertreten worden ist), denn die funktionale Kontinuität schließt weder die Verschiedenheit noch die Heterogenität der Strukturen aus. Jede Struktur muss als eine besondere, mehr oder weniger stabile Gleichgewichtsform innerhalb ihres engen Feldes aufgefasst werden, an dessen Grenzen sich ihre...

Erscheint lt. Verlag 10.3.2015
Zusatzinfo mit Register
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie
Technik
Schlagworte Disziplingeschichte • Entwicklungspsychologie • Erkenntnistheorie • Immanenztheologie • Jean Piaget • Moralbewusstsein • Pädagogik • Piaget • Psychologie • Reformpädagogik • Sozialpsychologie • Strukturalismus • Theologie • Wissenschaftstheorie
ISBN-10 3-608-10683-9 / 3608106839
ISBN-13 978-3-608-10683-1 / 9783608106831
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