Theologie und Reformpädagogik (Schlüsseltexte in 6 Bänden, Bd. 2) (eBook)

Schlüsseltexte Band 2

(Autor)

Richard Kohler (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
188 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-10681-7 (ISBN)

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Theologie und Reformpädagogik (Schlüsseltexte in 6 Bänden, Bd. 2) -  JEAN PIAGET
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Das Denken und Erkennen strebt laut Jean Piaget nach Widerspruchsfreiheit und objektiver Erkenntnis. Den Endpunkt der Entwicklung sowohl beim Individuum als auch in der Wissenschaft identifiziert er mit dem Göttlichen. Piagets Entwicklungspsychologie basiert dementsprechend - wie die anderen wissenschaftlichen Arbeiten auch - auf einem theologischen Prinzip. Dieses gilt indirekt auch für die Pädagogik, da sich Erziehung und Unterricht an den Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie orientieren sollten. Piaget liefert in diesem Band eine entwicklungspsychologische Begründung der Reformpädagogik und einen systematischen Überblick über die für ihn relevanten individualisierenden und kooperativen Methoden.

Jean Piaget (1896 - 1980) gilt als bedeutendster Entwicklungspsychologe des 20. Jahrhunderts. Sein Werk erweist sich als eine umfassende Theorie der Entwicklung des Erkennens, Denkens und Wissens, dem aufgrund des nachhaltigen Einflusses auf die Pädagogik, Psychologie und Erkenntnistheorie der Status eines Klassikers der Humanwissenschaften zukommt. Zusatzmaterial: >> chronologische Bibliographie der veröffentlichten Werke von Jean Piaget: https://www.klett-cotta.de/media/35/Buch_Piaget_Schluesseltexte_Biblioraphie.pdf

Jean Piaget (1896 – 1980) gilt als bedeutendster Entwicklungspsychologe des 20. Jahrhunderts. Sein Werk erweist sich als eine umfassende Theorie der Entwicklung des Erkennens, Denkens und Wissens, dem aufgrund des nachhaltigen Einflusses auf die Pädagogik, Psychologie und Erkenntnistheorie der Status eines Klassikers der Humanwissenschaften zukommt. Zusatzmaterial: >> chronologische Bibliographie der veröffentlichten Werke von Jean Piaget: https://www.klett-cotta.de/media/35/Buch_Piaget_Schluesseltexte_Biblioraphie.pdf Richard Kohler, Dr., geb. 1962, studierte Pädagogik, Soziologie und Philosophie an der Universität Zürich und promovierte über »Piaget und die Pädagogik«. Er lehrt an der Pädagogischen Hochschule Thurgau und leitet dort das Basisstudium der Sekundarstufe I.

EINFÜHRUNG


Richard Kohler

Es mag erstaunen, dass sich Piaget nicht nur mit Entwicklungspsychologie, Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie und anderen Wissenschaftsdisziplinen, sondern auch mit Theologie beschäftigt hat, und noch mehr, dass dazu über achtzig Jahre später zwei Texte erstmals in deutscher Übersetzung veröffentlicht werden. Die beiden Ende der 1920er Jahre gehaltenen Vorträge Immanenz und Transzendenz sowie Immanentismus und religiöser Glaube markieren den Höhepunkt und Abschluss von Piagets Auseinandersetzung mit theologischen Themen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er ein kohärentes, mit seinen vielfältigen Ambitionen und Interessen übereinstimmendes theologisches System entworfen, das ihm als Basis seines Welt- und Selbstverständnisses diente. Der Immanenztheologie liegt die Vorstellung zugrunde, Gott sei nicht ein dem Menschen übergeordnetes Wesen, sondern ein inhärenter Teil des menschlichen Denkens. Für Piaget ist Gott identisch mit den absoluten Normen des Denkens, die sich in der Widerspruchsfreiheit und dem Guten verkörpern. Da er sein Leben lang die Entstehung und Funktionsweise des logischen Denkens untersuchte, hat er, in diesem Verständnis, auch immer Theologie betrieben. Man könnte einwenden, dass er nach 1930 keine theologischen Texte mehr veröffentlicht und die Religion in seinem weiteren Leben daher keine Rolle mehr gespielt habe. Wahrscheinlich hat er sich aufgrund der gefundenen Synthese tatsächlich nicht mehr mit explizit theologischen Fragen befasst, bestätigt aber 1969, er sei »Anhänger des Immanentismus geblieben« (Piaget 1977: 87). Allerdings ist er nicht derart einfach zu diesem Gottesverständnis gelangt, wie in diesem Interview behauptet, hat doch die Frage der Vereinbarkeit von Religion und Wissenschaft während 15 Jahren im Zentrum seiner Identitäts- und Theoriebildung gestanden.

Der kleine Jean wächst auf mit einem eher agnostisch eingestellten Vater, von dem er jedoch eine protestantische Arbeitsethik und einen strengen Wissenschaftsethos übernimmt, und einer devoten und psychisch instabilen Mutter, die ihn streng protestantisch erzieht. Anlässlich eines Konfirmandenkurses beginnt der Fünfzehnjährige, der sich bereits seit längerem mit der Taxonomie der Mollusken beschäftigt hat, die Widersprüche von Schöpfungsund Evolutionstheorie sowie die Fragilität der Gottesbeweise anzuprangern. Piaget deutet heftige Konflikte mit seiner Mutter an (in diesem Band: 30 f.); es entsteht eine moralische Krise, die durch seine Revolte gegen die Paradoxien der christlichen Theologie ausgelöst wird. Diese Konflikte werden so gravierend, dass Piaget die Hälfte der Studienzeit im Kurort Leysin verbringt, wo Tuberkulosepatienten und verwundete Soldaten gepflegt werden und er selbst mehrere Glaubenskrisen durchlebt (vgl. Piaget 1916; 1918). Gestützt auf die Theorien von Auguste Sabatier und Henri Bergson versucht Piaget 1914 erstmals eine Versöhnung von Wissenschaft und Glaube zu erreichen. Gleichzeitig beginnt er sich im Schweizerischen Verband Christlicher Studenten zu engagieren, dem er eine bedeutende Rolle im Aufbau einer moralischeren Nachkriegsgesellschaft zuspricht (Piaget 1915). Angeregt von verschiedensten Lehrern und Denkern entwickelt er sein Projekt zur Versöhnung von Religion und Wissenschaft schrittweise weiter. Die entscheidende religionsphilosophische Radikalisierung wird durch die Lektüre von Nature et liberté (1921) und Le progrès de la conscience dans la philosophie occidentale (1927) von Léon Brunschvicg ausgelöst, dessen Vorlesungen Piaget in Paris besucht, woraus eine langjährige Freundschaft entsteht.

Zusammen mit seinem Freund Jean de la Harpe, der an der Universität Neuenburg bei denselben Professoren studiert und manchmal in Kooperation mit, manchmal in Konkurrenz zu ihm teilweise an denselben Themen arbeitet, präsentiert Piaget im März 1928 an der 31. Tagung der Studenten der französischsprachigen Universitäten in Sarraz mit Immanenz und Transzendenz das Ergebnis seiner theologischen Studien. Auf der soziologischen Ebene versucht Piaget nachzuweisen, dass die gesellschaftliche Entwicklung eine zwangsläufige Transformation der religiösen Vorstellungen bedinge, die ausgehend von den primitiven totemistischen Vorstellungen über den katholischen Symbolismus und die protestantischen Prinzipien zu einem dem Denken immanenten Gott gelange. Dabei stützt er sich weitgehend auf Emile Durkheims Theorie der sozialen Differenzierung, wobei er dessen Säkularisierungstheorie jedoch ablehnt. Auf der psychologischen Ebene argumentiert er mit Pierre Bovet, die transzendentale Gottesvorstellung des Kindes sei das Produkt einer Projektion der durch die Eltern enttäuschten Allmachtserwartungen. Piaget postuliert, dass sich diese Vorstellung, sofern sie nicht durch eine autoritäre Erziehung zementiert wird, aufgrund der in der Kooperation erfahrenen Gegenseitigkeit zwangsläufig zu einer immanentistischen Gottesvorstellung weiterentwickle. Dank der Bewusstwerdung der Werte der Liebe, des Guten und der Wahrheit konvergierten Religion, Moral und Wissenschaft. Gott ist demnach das vom Egoismus, Bösen und Irrtum gereinigte Denken.

Die These eines die absoluten Werte des Denkens verkörpernden Gottes löst intensive Diskussionen aus, zumal nach dem Ersten Weltkrieg konservative Glaubensvorstellungen überwiegen. So kritisiert etwa der junge Theologiestudent Jean-Daniel Burger (1929) Piagets Soziologie der beiden Gesellschaftstypen als zu banal, das Bild des isolierten Wilden als eine Fiktion, seinen Realitätsbegriff als gegenstandslos und paradox und die Bedeutung des wissenschaftlichen Denkens als überschätzt. Da Piaget (1929) auf eine Reihe von Kritikpunkten nicht eingeht, wird er von den ehemaligen Mitgliedern des christlichen Studentenvereins im Juni 1929 zu einem zweiten Vortrag (Immanentismus und religiöser Glaube) eingeladen, der die offenen Fragen zum Verhältnis von Immanenztheologie und christlichem Glauben klären soll. Piaget erweitert seine Argumentation und erklärt, weshalb auch für einen Immanentisten das Gefühl einer Kommunion mit Gott und das Gebet möglich seien. Dazu postuliert er eine innerpsychische Transzendenz, das heißt eine hierarchische Überlegenheit der göttlichen Werte gegenüber dem Ich: Die Identifikation des Ich mit den Werten löst ein Gefühl der Verbundenheit mit Gott aus, während die Unterwerfung des Ich unter die Werte einem Gebet entspricht. Damit schwächt er seine radikale Position ab und entschärft die Debatte.

Die Hartnäckigkeit, mit der Piaget für den Rest seines Lebens die Entstehung des Denkens und die Bedingungen der Erkenntnis erforscht, ist nachvollziehbar, wenn man berücksichtigt, dass er selbst sein Werk als Beitrag zur Genese des Göttlichen versteht. Der Immanentismus bleibt sein grundlegendes Konzept, das alle seine Forschungen und Konzepte prägt: Psychologisch ist er im Begriff der spontanen Aktivität, biologisch in der gerichteten Äquilibration, epistemologisch in der Synthese von Idealismus und Realismus, moralisch in der Autonomie, politisch in der demokratischen Selbstbestimmung, pädagogisch in den Interessen der Schülerinnen und Schüler und sozial in der Kooperation enthalten. Allerdings gibt es in seinem späteren Werk nur wenige Stellen, in denen er diese Überzeugung offenlegt (vgl. etwa Band 5: 121). Diese Zurückhaltung dürfte auf die Konflikte um das Institut Jean-Jacques Rousseau (IJJR) zurückzuführen sein, als konservative Genfer Kreise dessen Finanzierung wegen politischer »Agitation« infrage stellen. Nach heftigen Auseinandersetzungen und Bovets Rücktritt als Institutsdirektor setzt Piaget 1932 eine strikt wissenschaftliche Linie durch, die weltanschauliche Themen und öffentlich politisches Engagement ausspart (vgl. Kohler 2009: 99 ff.).

Diese strikt neutrale Linie vertritt Piaget auch als Direktor des Internationalen Büros für Erziehung, das er von 1929 bis 1967 leitet. Im Rahmen dieser Funktion verfasst Piaget 1935 die Beiträge Die neuen Methoden und ihre psychologischen Grundlagen und Die Überprüfung der neuen Methoden, die 1939 in der renommierten Französischen Enzyklopädie erscheinen. In den beiden Texten fasst Piaget die reformpädagogische Position zusammen, die seine Kollegen und Lehrer Edouard Claparède, Pierre Bovet und Adolphe Ferrière am IJJR erarbeitet haben.

Das 1912 zum zweihundertsten Geburtstag Rousseaus gegründete private IJJR orientiert sich an den child studies von Stanley Halls Children’s Institute an der Clark University in Massachusetts und setzt sich in der Forschung und Lehrerbildung für die ›neue Erziehung‹ ein (Hameline 2004). Die Genfer sind überzeugt, dass eine Wissenschaft des Kindes, die verschiedene Disziplinen zusammenführt, die Gültigkeit der reformpädagogischen Konzepte beweisen würde. Dazu zählen insbesondere der von Claparède als école sur mesure bezeichnete adaptive Unterricht und die von Bovet und Ferrière propagierte école active, die den rezeptiven Unterricht durch das forschende Lernen ersetzen soll. Von solchen Reformen in der Volksschule erwartet man sich nicht nur bessere Lernergebnisse, sondern vor allem die Bewahrung natürlicher und spontaner Eigenschaften und Interessen und in der Folge moralisch bessere Menschen.

Diese Zielsetzungen gewinnen nach der Erfahrung des Ersten Weltkriegs noch an Brisanz, hofft man nun doch, dass eine kindgerechte Schule eine erneute Zivilisationskatastrophe verhindern und eine humane Gesellschaft hervorbringen könne. Eine beachtliche Zahl reformpädagogischer Organisationen (etwa die New Education Fellowship) und Institute...

Erscheint lt. Verlag 19.3.2015
Zusatzinfo mit Register
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie
Technik
Schlagworte Disziplingeschichte • Entwicklungspsychologie • Erkenntnistheorie • Immanenztheologie • Jean Piaget • Moralbewusstsein • Pädagogik • Piaget • Psychologie • Reformpädagogik • Sozialpsychologie • Strukturalismus • Theologie • Wissenschaftstheorie
ISBN-10 3-608-10681-2 / 3608106812
ISBN-13 978-3-608-10681-7 / 9783608106817
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