Die Kontingenz der Moderne
Wolfgang Knöbl unterzieht in diesem Buch die aktuellen soziologischen Großtheorien einer kritischen Analyse. Vor diesem Hintergrund arbeitet er insbesondere die Relevanz weltgeschichtlicher Ansätze für die Makrosoziologie heraus: Die dort betonten Phänomene kontingenter Entwicklungen und kultureller Transfers zwischen Weltregionen haben in soziologischen Vergleichsdesigns bislang keinen Niederschlag gefunden. Anhand von Analysen insbesondere zu China, dem Süden der USA sowie Südamerika beleuchtet Knöbl die Spezifika der europäischen Moderne und zeigt, welchen methodologischen Postulaten eine zeitgemäße, historisch fundierte Makrosoziologie genügen muss, zumal wenn sie ihr zeitdiagnostisches Potenzial nutzen will.
Wolfgang Knöbl ist Professor für Soziologie an der Universität Göttingen.
Vorbemerkung
1. Einleitung
Teil I: Aktuelle Bestandsaufnahme
2. Die gegenwärtige Lage in der Makrosoziologie: Fluchtpunkt "Multiple Modernities"
2.1 Von goldenen Zeiten: Es war einmal - die Modernisierungstheorie!
2.2 Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm - Die Modernisierungstheorie und ihre Erben
2.2.1 Von Talcott Parsons zu John W. Meyer: Stolpersteine auf dem Weg in die "Weltgesellschaft"
2.2.2 Niklas Luhmann und die systemtheoretische Einführung des Weltgesellschaftsbegriffs
2.2.3 ›Hoffnungslose Moderne‹: Die Welt der Globalisierungstheorien
2.3 Fazit
3. Die "Multiple Modernities"-Debatte, ihre religionssoziologische Fundierung und deren Untiefen
3.1 "Zivilisation" als makrosoziologische Kategorie
3.2 Vom Niedergang der Säkularisierungsthese zum Aufstieg der "Multiple Modernities"-Debatte
3.3 Die Makrosoziologie vor der Religion - Shmuel Eisenstadts Zivilisationstheorie, die Achsenzeit und das Problem der Pfadabhängigkeit
3.4 Drei Argumente für eine Ergänzung und Umorientierung der (Eisenstadtschen) zivilisationstheoretischen Analyse
3.5 Fazit
Teil II: Die Eurozentrismus-Debatte und ihre methodologischen Konsequenzen
4. "World History" und die Herausforderung der Makrosoziologie
4.1 Ex Oriente Lux? - Vom noch vagen Versprechen einer nicht-westlich zentrierten historischen Makrosoziologie
4.2 Wallerstein und der Drang nach Osten: Merkwürdigkeiten und unbeabsichtigte Folgen innermarxistischer Diskussionen
4.3 Die Zentralstellung Chinas in der jüngsten makrosoziologischen Diskussion oder: Der Abschied von herkömmlichen "Rise of the West"-Erklärungen
4.4 China und die Folgen - Die Industrielle Revolution und die Frage historischer Kontingenz
5. Methodenprobleme der Makrosoziologie im Zeichen von Transfer und Kontingenz
5.1 Die Makrosoziologie vor dem ›alten‹ Problem kleiner Fallzahlen
5.2 Der (Zivilisations-)Vergleich und das Galtonsche Problem
5.3 Der Stachel der Kontingenz im Fleische der Makrosoziologie
6. Auf dem Weg zu einer kontingenzsensiblen Makrosoziologie
6.1 Theoretische und methodologische Schlussfolgerungen
6.2 Jenseits der Zivilisation: Der Fall Amerika
Teil III: "The Americas" - Von Kontingenzen und Brüchen in regionalen Kontexten
7. Anomalien im Herzen der Moderne: Der US-amerikanische Süden
7.1 "Amerika" und die Fortschreibung modernisierungstheoretischer Interpretationen im "Multiple Modernities"-Paradigma
7.2 Der US-amerikanische Süden als Problemfall der Makrosoziologie
7.3 Dixie oder: Von pfadabhängigen Prozessen und Kontingenzen
7.3.1 Neu-England ist nicht "Amerika": Die Stellung des Südens in der Kolonialgeschichte Britisch-Amerikas
7.3.2 Die Öffnung - nicht: Schließung - der amerikanischen Geschichte durch die Revolution
7.3.3 Der Amerikanische Bürgerkrieg - mehr als ein politischer Konflikt
7.3.4 Modernisierung von ›außen‹ - New Deal und Zweiter Weltkrieg
8. Der ›andere Westen‹: Südamerika und die Moderne
8.1 Südamerika als Friedhof der Großen Theorie
8.2 Das koloniale ›Erbe‹ einer hoffnungslosen Region?
8.3 Die Kontingenz von Revolution und Unabhängigkeit
8.4 Krieg ist nicht gleich Krieg - die politischen Folgen der Staatsgründung im Bürgerkrieg
8.5 Verwerfungen im Modernisierungsprozess: Das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert als wirtschaftliche Wegscheide
9. Zu guter Letzt: Die Zivilisation und "Amerika"
10. Literatur
Sachregister
Personenregister
Die Kontingenz der Moderne - der Titel dieses Buches kann Missverständnisse hervorrufen, die es gleich zu Beginn auszuräumen gilt. Denn wer erwartet, dass in der vorliegenden Arbeit ein weiterer Versuch der in der Soziologie so beliebten Zeitdiagnose unternommen wird, der wird enttäuscht werden: Ob ›wir‹ (wer auch immer das sein soll) in der ersten, zweiten oder dritten Moderne leben, in der Hoch- oder Postmoderne, all dies ist für die folgende Argumentation bedeutungslos. Auch die Frage, ob heute im Unterschied zu früheren Sicherheiten und festen Strukturen alles flüssig und kontingent sei, interessiert hier nicht weiter. Im Mittelpunkt steht vielmehr, wie die Soziologie im Allgemeinen und die Makrosoziologie im Besonderen mit den empirischen Befunden und theoretischen Herausforderungen umgehen, die aus bestimmten Feldern der Geschichtswissenschaft kommen, wo der Begriff der Kontingenz eine ganz entscheidende Rolle spielt. Konkret soll behauptet werden, dass die fruchtbarsten Anstöße für makrosoziologisches Denken derzeit einem Teilbereich der Geschichtswissenschaft entstammen, den man mit dem Begriff "world history" einigermaßen grob umreißen kann. Hier haben Historikerinnen und Historiker, bemerkenswerterweise zumeist solche mit einer ursprünglichen Spezialisierung im Gebiet der Geschichte Asiens, Debatten initiiert, die unmittelbar an bisherigen Gewissheiten soziologischen Denkens über großflächige und -räumige soziale Prozesse kratzen und die allmählich (obzwar noch kaum im deutschen, so aber doch im anglo-amerikanischen Sprachraum) auch in der Soziologie rezipiert werden. Jene hier angesprochenen "weltgeschichtlichen" Debatten hinterfragen ganz massiv bestimmte Vorstellungen, die man sich im Westen von der Sonderrolle und -stellung Europas bisher machte. Darauf spielt eben der Buchtitel "Die Kontingenz der Moderne" an, insofern mit ihm eine klare inhaltlich-empirische These verbunden ist, nämlich dass sich die Entstehung der europäischen beziehungsweise US-amerikanischen Moderne, insbesondere die Industrialisierung, kontingenten Umständen verdankt. Wenn dies so ist, so die Schlussfolgerung, dann ist auch die Makrosoziologie, so wie sie in der Tradition etwa Max Webers oder Emile Durkheims betrieben wird, vor neue Herausforderungen gestellt. Der vorliegenden Arbeit liegt also die Prämisse zugrunde, dass das Entwicklungspotential bestehender makrosoziologischer Großtheorien (der Modernisierungstheorie, der Weltgesellschaftstheorien, der Globalisierungstheorien, der Weltsystemtheorie und auch der Zivilisationstheorien) begrenzt oder ausgeschöpft ist und in der makrosoziologischen Diskussion neue Wege zu gehen sind. Wege freilich, welche die Disziplinengrenzen überschreiten, die also gelegentlich das sichere Terrain der Soziologie verlassen werden! Allerdings, es geht nicht darum, Interdisziplinarität zu predigen und vorschnell auf eine Symbiose zwischen Geschichtswissenschaft und Soziologie zuzusteuern. Stattdessen soll der Leser mittels einer Reflexion über den Zustand gegenwärtiger makrosoziologischer Debatten davon überzeugt werden, dass an theoretisch durchaus signifikanten Punkten der Diskussion erhebliche Probleme auftauchen, welche den Blick in andere Disziplinen, eben vor allem in die Geschichtswissenschaft, ratsam scheinen lassen. Ziel ist also nicht eine Verabschiedung der Makrosoziologie, sondern eine Besinnung auf ihre (ursprünglichen) Stärken, um auch die deutlich zu Tage tretenden Schwächen tatsächlich klar benennen zu können. Allerdings, jenes Aufspüren von Stärken und Schwächen ist nicht ganz einfach, weil allein schon die Diskussionslage im Feld der Makrosoziologie ziemlich unübersichtlich ist. Bestenfalls kann man sie als ›konturlos‹ beschreiben, weil klare Fronten und fokussierte theoretische Auseinandersetzungen fehlen. Die meisten Autoren haben sich nämlich in ihren Theorienischen eingerichtet, weshalb von großer Verve beim Streit um die besseren Argumente nur allzu selten die Rede sein kann: Versprengte Einzelfiguren aus dem ehemals großen Heer bekennender Modernisierungstheoretiker arbeiten weithin unbehelligt neben Verfechtern der Theorie(n) der Weltgesellschaft; Globalisierungstheoretiker unterschiedlichster Provenienz haben es sich neben Weltsystemtheoretikern bequem gemacht, von denen zumindest einige eher Anschluss an Teile der Geschichtswissenschaft suchen als an die übrige Makrosoziologie; und die "Multiple-Modernities"-Protagonisten befinden sich irgendwo dazwischen, wobei auch deren Wille zur Kommunikation mit Vertretern der schon genannten theoretischen Lager nicht allzu groß ist. Besonders überraschend ist die Feststellung der Konturlosigkeit der makrosoziologischen Diskussion freilich nicht, weisen doch die meisten anderen Subdisziplinen und Felder der Soziologie auch keine wesentlich größere paradigmatische Einheitlichkeit auf. Insofern spiegelt sich in der Makrosoziologie nur eine allgemeine Tendenz wider, welche die Soziologie als Ganze betrifft: Die eine allumfassende und weithin anerkannte Theorie gibt es nicht (mehr). Stattdessen besteht eine unübersichtliche Theorienvielfalt, jene ›Multi-Paradigmatase‹, durch die es immer schwieriger zu werden scheint, zu strukturierten Diskussionen zurückzukehren. So werden dann nicht selten Argumente zwar noch pflichtgemäß ausgetauscht, der echte Glaube an ihre Überzeugungskraft ist hingegen längst verloren gegangen. Ein leidenschaftliches Interesse an der Sache - und damit die Hoffnung auf Erkenntnisfortschritt - lässt sich nur mehr selten entdecken. Nun ist eine derart resignative Grundhaltung glücklicherweise nicht in der gesamten Soziologie anzutreffen; lebhafte Debatten, Auseinandersetzungen um der Sache willen, gibt es noch immer, und genau solcher Streit - so die These des vorliegenden Buches - lässt sich dazu nutzen, um die Stagnation in der Makrosoziologie zu beenden. Denn all die zuvor genannten Makroansätze und -theorien ›schweben‹ über höchst lebendigen methodologischen wie meso-soziologischen Diskussionen, die von so manchen Makrotheoretikern ungerechtfertigterweise völlig ignoriert werden. Gemeint sind die methodologischen Debatten um den Vergleich beziehungsweise um Transfer und Beziehungsgeschichten einerseits, die theoretischen Diskussionen um Institutionen und ihren Wandel andererseits - zwei Debatten, die manchmal sogar verschränkt sind und die zudem in einem interdisziplinären Feld geführt werden, in dem die Politikwissenschaft ebenso präsent ist wie die Ökonomie, die Soziologie ebenso wie die Geschichtswissenschaft und die Ethnologie. Auch in diesen Debatten gibt es selbstverständlich keine Einheitlichkeit und keinen Konsens: Weder existiert die Methode des Vergleichens oder des Schreibens von Beziehungsgeschichten, noch die Theorie der Institutionen und ihres Wandels. Aber die wirklich kontroverse, also aufeinander bezogene und vor allem interdisziplinäre Diskussionskultur hatte doch Auswirkungen insofern, als sich mit der Zeit ein größeres Problembewusstsein herauskristallisiert hat bezüglich der Vor- und Nachteile bestimmter Methoden, bezüglich der Stärken und Schwächen spezifischer institutionentheoretischer Argumentationsfiguren. Man muss nicht in gut positivistischer Manier an einen linearen Erkenntnisfortschritt in den Wissenschaften glauben, um feststellen zu können, dass sich das Diskussionsniveau in diesen beiden methodologischen beziehungsweise meso-soziologischen Feldern seit den 1980er Jahren erheblich erhöht hat, dass sich die Argumente deutlich ausdifferenziert und sich durchaus so etwas wie Lerneffekte eingestellt haben. Hier kann von einer Abgeschottetheit der Paradigmen sicherlich nicht die Rede sein. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es nun, diese im Fluss befindlichen und irgendwie dann doch ›fortschreitenden‹ meso-soziologischen und methodologischen Diskussionen wesentlich stärker als bisher auf das eher statisch wirkende makrosoziologische Feld zu beziehen, in dem - wie gesagt - das Verhältnis der Diskutanten untereinander oftmals eher durch wechselseitige Nichtwahrnehmung oder eine fast schon unhöflich wirkende Toleranz gekennzeichnet war. Genau dadurch lässt sich dann auch erreichen, dass die verschiedenen makrosoziologischen Ansätze tatsächlich stärker als bisher in ihrer Konkurrenzsituation gesehen und damit gezwungen werden können, (wieder) einen ernsthaften Dialog miteinander zu beginnen. Gesucht wird also nicht eine neue Großtheorie. Das Anliegen ist viel bescheidener. Die bestehenden makrosoziologischen Ansätze und Entwicklungen sollen lediglich daraufhin untersucht werden, inwiefern sie sich erstens wechselseitig inspirieren können und inwiefern sie zweitens den mittlerweile vorliegenden methodologischen Erkenntnissen gerecht werden beziehungsweise in der Lage sind, institutionentheoretische Argumente produktiv aufzunehmen. Versucht wird, eine Art Schneise durch das Dickicht der Makrosoziologie zu schlagen, die theoretisch wie methodisch begründet ist. Es wird sich dann zeigen, welche der existierenden Makroansätze erhebliche Defizite aufweisen, welche thematische Blindstellen haben, welche Entwicklungstendenzen innerhalb der Makrosoziologie forciert werden müssten und schließlich welche neuen Einsichten und Erkenntnisse aus anderen Fächern, beispielsweise aus der Geschichtswissenschaft, herangezogen werden könnten, um die stagnierende Situation zu überwinden. Damit lässt sich nun auch der dreigliedrige Aufbau der vorliegenden Arbeit vorstellen.
Erscheint lt. Verlag | 5.11.2007 |
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Reihe/Serie | Theorie und Gesellschaft ; 61 |
Verlagsort | Frankfurt |
Sprache | deutsch |
Maße | 140 x 213 mm |
Gewicht | 500 g |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Soziologie ► Allgemeine Soziologie |
Schlagworte | China • Europa • Globalisierung • HC/Soziologie/Soziologische Theorien • Makrosoziologie • Moderne • Modernisierungstheorie • Südamerika • USA • Weltgesellschaft |
ISBN-10 | 3-593-38477-9 / 3593384779 |
ISBN-13 | 978-3-593-38477-1 / 9783593384771 |
Zustand | Neuware |
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