Ermordet in Bethel? -

Ermordet in Bethel? (eBook)

Neue Forschungen zu Säuglingssterblichkeit und Hirnforschung in der NS-Zeit
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
254 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8928-8 (ISBN)
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Die neuesten Forschungsergebnisse zu Säuglingssterblichkeit und Hirnforschung in der NS-Zeit werden in diesem Band präsentiert. Marion Keßler stellt in einer Dokumenten- und Faktorenanalyse fest, dass bis Ende 1943 ausschließlich »eugenische« Einflüsse auf die erhöhte Säuglingssterblichkeit in Bethel bedeutsam waren, während Nahrungs- und Medikamentenmangel sowie Infektionen nicht nachgewiesen wurden. Barbara Degen präsentiert bahnbrechende Forschungsergebnisse zur Säuglingseuthanasie, Hirnforschung und zu Medikamentenversuchen. Claus Melter beleuchtet die grausamen Morde an als jüdisch, Rom*nja, Sinti*zze und »behindert« kategorisierten Säuglingen sowie das systematische Töten von Säuglingen im Kinderkrankenhaus »Sonnenschein« in Bethel im Nationalsozialismus.

Claus Melter ist Professor an der Fachhochschule Bielefeld am Fachbereich Sozialwesen.

Gemeinsames Vorwort Barbara Degen, Marion Keßler und Claus Melter

Der Schrecken des Nationalsozialismus, der in Deutschland gewütet hat, ist nun beinahe 80 Jahre her. Mehrere Millionen Menschen wurden Opfer dieser Zeit. So hatten sich die Nationalsozialisten zum Ziel gesetzt, Juden und Jüdinnen60, Pol*innen und Rom*nja und Sinti*zze zu vertreiben und auszurotten. Auch andere Teile der eigenen Bevölkerung wurden nicht von ihrer Tötungsmaschinerie verschont. Bis heute ist es in Deutschland nicht gelungen, allen Angehörigen und Opfern Gerechtigkeit und Aufarbeitung zukommen zu lassen. Diese Geschichte lebt in den Menschen weiter, in den Angehörigen der Opfer und der Täter*innen.

Dass Säuglinge und Kinder Opfer des Nationalsozialismus geworden sind und an ihnen experimentiert und sie getötet wurden, ist eine Realität, die kaum vorstellbar ist. Dass ausgerechnet Ärzt*innen, Pflegekräfte und Sozialarbeitende in der Lage waren, diese grausamen Taten zu unterstützen, geschweige denn umzusetzen, ist mittlerweile eine belegte Tatsache. Als „krank“, als „behindert“, als „lebensschwach“ und als „lebensunwert“ eingeordnete Säuglinge und Kinder wurden im Nationalsozialismus tausendfach getötet, begleitet von perfiden Erklärungen und „Rechtfertigungen“.

Mit Blick auf die Säuglingssterblichkeit zeigt sich, dass diese vor der Zeit des Nationalsozialismus bereits sichtlich zurückgegangen ist (Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (Hrsg.) 2022, o. S.). Dies gelang trotz der Krisen der Weimarer Republik und des ersten Weltkriegs.

Die erschreckend hohen Zahlen an Säuglings- und Kindersterblichkeit in Bethel, auf die Barbara Degen bereits 2012 gestoßen ist, werfen Fragen auf. Der leugnende bzw. verweigernde Umgang Bethels mit diesen Ergebnissen jedoch noch mehr. Zumal der von ihnen eigens beauftragte Forscher Karsten Wilke im Buch „Bethels Mission (4)“ (Benad/Schmuhl/Stockhecke, 2016) darauf hinweist, dass die Quellenlage lückenhaft ausfällt und dass eine Aufklärung der damaligen Umstände weiterer Forschungen bedarf.

Das vorliegende Buch beschäftigt sich mit weiteren Forschungen, vor allem nach 2016. Diese setzen sich mit weiteren Faktoren auseinander, welche die Sterblichkeit im Nationalsozialismus beeinflusst haben können. Die neuen Forschungen belegen auch Nahrungsmittel-Experimente und Forschungen, die zu der Zeit des Nationalsozialismus und danach in Bethel durchgeführt und dokumentiert wurden.

Die Sterblichkeit von Säuglingen und Kindern im Nationalsozialismus ist sicherlich ein Tabuthema, weil kaum mehr Grausamkeit ausgeübt werden kann. Eine Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit bedeutet, sich bewusst zu machen, wie viel Kaltherzigkeit und Skrupellosigkeit Menschen ausüben können.

Sich dieser Gräueltaten heute gewahr zu werden und zu ihnen zu stehen, ist sicherlich kein einfacher Schritt, dennoch der einzige Weg für eine Gesellschaft und eine damalige Täter-Einrichtung, die sich auf demokratische, menschenrechtliche und christliche Werte beruft. Der Weg, Reue zu zeigen, der Weg den Opfern, klein und groß, zu gedenken und an sie zu erinnern, der Weg, sie und die Angehörigen um Vergebung zu bitten, der Weg endlich die Vergangenheit aufzuarbeiten: All das kann nur geschehen, indem die Orte der Verbrechen und die Verbrechen selbst bekannt gemacht werden und sich die heutigen Verantwortlichen diesem Geschehen stellen und zu den Taten der Vergangenheit stehen. Diese Aufarbeitung sorgt nicht für ein schlechtes Licht auf die heutigen Einrichtungen. Es zeigt, dass die Opfer nicht vergessen sind, dass Mitgefühl mit ihrem Leiden vorhanden ist und dass die heute Verantwortlichen und die Einrichtungen in der Lage sind, um Verzeihung zu bitten, für die Verbrechen der Vergangenheit.

Sich diesem Aufarbeiten, dem Gedenken und um Verzeihung-Bitten, diesem Mitfühlen zu verschließen und die vergangenen Taten verleugnen zu wollen, führt dazu, die mörderischen Taten zu relativieren und sich den Logiken und Praxen der Vernichtung, der Logik der Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ anzupassen, dieses fortzuführen.

Mit Blick auf das heutige Deutschland ist es Zeit, zurückzuschauen und sich bewusst zu machen, was damals passiert ist. Und es geht darum aufzustehen, um Sorge zu tragen, dass solche grausamen Taten nicht noch einmal passieren dürfen.

„Nie wieder ist jetzt!“ so heißt die zutreffende Analyse angesichts neuerlicher rassistisch/„völkischer“ Deportationsplanungen und Vernichtungsfantasien der AFD. Aber auch angesichts der COVID-19-Pandemie gab es u. a. in Schweden Gedanken und Praxen, als „alt“, „krank“, „schwach“ oder „behindert“ angesehene Personen nicht zu schützen und sterben zu lassen. Auch in Deutschland wurden diese Gedanken diskutiert. Menschen, mit Beeinträchtigung, die durch Barrieren in ihrer Teilhabe behindert werden, klagten erfolgreich vor Gericht, weil sie bei Behandlungsengpässen („Triage“) nach geltenden Regelungen schlechter als andere Gruppen behandelt werden würden.

Zudem ist der „schreckliche Traum vom vollkommenen Menschen“ (Kappeler 2000) auch nach dem Nationalsozialismus im Gewande von Arbeits- und Leistungsfähigkeit, von gesunden und optimierten Körpern und sich weiter entwickelnder Genforschung weiter lebendig und gefährdet alle Menschen, die nicht diesen alten/neuen Normen entsprechen.

Umso bedeutsamer ist es, sich mit der Gleichwertigkeit aller Menschen, mit dem gleichen Wert, der gleichen Würde und den gleichen Rechten aller Menschen auseinander zu setzen, denn für diese gilt es gemeinsam zu streiten und für ihre Umsetzung zu kämpfen.

Denn auch europäische und deutsche Planungen und Gesetze im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Asyl Systems (GEAS) und der Verschärfung des Asylrechts brechen Menschen- und Kinderrechte auf brutale Weise: Begleitete Kinder sollen mehrere Wochen in „Internierungslagern“ (sic) untergebracht und um ihre Rechte auf Kindeswohl, Gesundheit, Bildung und Bewegungsfreiheit gebracht werden. Wie damals wurden Menschenrechtsverletzungen zuerst bei den schwächsten Personengruppen ohne Lobby angewandt, um sie dann auf andere Gruppen auszuweiten. Im schlimmsten Fall stehen wir vor einer weiteren Faschisierung von Gesellschaft und Politik. Umso dringlicher ist die Auseinandersetzung mit den Verbrechen in der Zeit des Nationalsozialismus, um nicht wieder die gleichen Verbrechen wie damals zu begehen oder geschehen zu lassen. Und heute reicht es nicht, gegen die AFD aufzustehen, auch gegenüber demokratischen Parteien müssen Menschenrechte für alle erstritten werden.

In diesem Sinne hoffen wir, dass Sie zum einen das Vorwort von Margret Hamm, für welches wir uns sehr herzlich bedanken, zum anderen auch die folgenden Texte mit Geduld und Muße zur Kenntnis nehmen:

Marion Keßler belegt in einer Dokumenten- und Faktorenanalyse, dass vor allem bis Ende 1943 ausschließlich „eugenische“ Faktoren die Säuglingssterblichkeit im Kinderkrankenhaus „Sonnenschein“ in Bethel zur Zeit des Nationalsozialismus maßgeblich beeinflusst haben, während Nahrungs-, Medikamenten- oder Personalmangel oder Infektionen und Seuchen nicht belegt wurden.

Barbara Degen legt neue Forschungsergebnisse zur Säuglingseuthanasie in Bethel sowie zu Versuchen der Hirnforschung und Medizin- und Medikamentenversuchen vor.

Claus Melter weist nach, dass im Nationalsozialismus als „jüdisch“ sowie als Rom*nja und Sinti*zze eingeteilte Säuglinge, die Kinder von Zwangsarbeiterinnen und „kranke“ wie „behinderte“ Kinder ebenso spätestens ab 1940 auch „arische“ Kinder in Säuglings- und Kinderkrankenhäusern, u. a. in Bethel, ermordet wurden.

Ermordet in Bethel lautet die Inschrift auf dem Stolperstein von Hilda Sommer in Rheda und soll als Buchtitel eine Verbindung von Erinnerungskultur und Forschungen zur „Euthanasie“-Forschung herstellen. Das Fragezeichen im Buchtitel kann zum einen Lesende neugierig machen, zum anderen ist es einem ansonsten eventuell drohenden Rechtsstreit geschuldet und nicht...

Erscheint lt. Verlag 20.11.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik Sozialpädagogik
ISBN-10 3-7799-8928-X / 377998928X
ISBN-13 978-3-7799-8928-8 / 9783779989288
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