Internationale Soziale Arbeit -

Internationale Soziale Arbeit (eBook)

Perspektiven aus der Global Community. 6. Sonderband Sozialmagazin
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
222 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8215-9 (ISBN)
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Das Buch ist als internationales Projekt konzipiert, das verschiedene Perspektiven auf die Internationale Soziale Arbeit in Ausbildung, Praxis und Wissenschaft analysiert. Dabei werden Fragen nach dem Verhältnis zwischen nationalen Praktiken und internationalen Ansprüchen, der kritisch-reflexiven Betrachtung der Entwicklung des Internationalitätsanspruchs, dem Einfluss auf nationale Soziale Arbeit und der Rolle im Rahmen der 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen untersucht. Der Fokus liegt dabei auf disziplinären Zugängen zur Verortung der Internationalen Sozialen Arbeit, professionellen Zugängen im Studium, der Qualifizierung und dem Austausch, sowie ihrer Rolle als Teil globaler Entwicklung im Kontext der Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen.

Jörg Fischer, Jg. 1975, Prof. Dr. phil., Professor für Bildungs- und Erziehungskonzepte an der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften der Fachhochschule Erfurt. Christine Rehklau, Dr., vertritt die Professur »Soziale Problemlagen im interkulturellen und internationalen Kontext« (Institut für Soziale Arbeit) an der Fachhochschule Erfurt.

2Das Internationale – Ausgangspunkt Sozialer Arbeit


Walter Lorenz

Die Soziale Arbeit ist ein Produkt der Moderne. Obwohl Verbindungslinien zu vormodernen Formen der persönlichen Unterstützung in sozialen Notfällen gezogen werden können, die häufig mit dem (im Gegensatz zur Gemeinde- und staatsbezogenen Armenhilfe) international agierenden Klosterwesen verbunden waren, ist die Entwicklung einer organisierten professionellen Berufsgruppe unmittelbar verbunden mit den fundamentalen Umschichtungen, die die industrialisierenden Staaten im Verlauf des 19. Jahrhunderts ergriffen (Eßer 2018). Die industrielle Revolution hatte eine massive Auflösung traditioneller Bindungs- und Unterstützungsstrukturen verursacht, indem sie nationale, aber auch internationale Migrationsbewegungen in die industriellen Zentren auslöste, in denen Menschen großteils als „Fremde“ zusammenlebten. Durch die Einbindung aller Familienmitglieder in den industriellen Produktionsprozess konnten in Krisen die Einzelnen weder auf familiäre Hilfe zurückgreifen, noch die traditionellen Unterstützungsangebote anrufen, die immer noch auf die Ursprungsgemeinden beschränkt waren. Gleichzeitig erhöhten sich die Risiken, in soziale Notlagen zu geraten etwa durch das gedrängte Zusammenleben in urbanen Ballungszentren, die zunächst jeglicher hygienischen Infrastruktur entbehrte, durch die gefährlichen Arbeitsbedingungen in Fabriken und Bergwerken oder durch die prekären Lohnbedingungen, die die kapitalistische Führung von Betrieben charakterisierten.

Dieser fundamentale „Entbettung“ (Giddens 1996), die unausweichlich die „soziale Frage“ als gesamtgesellschaftliche Aufgabe aufwarf, traten grundsätzlich drei Formen von Hilfemaßnahmen entgegen: Von staatlicher Seite wurden diese zumeist auf Gesetze und Einrichtungen begrenzt, die auf die Arbeitswilligkeit der Bevölkerung abzielten, indem sie Hilfe nur in den äußersten Notlagen vorsahen, und auch dann nur unter strafähnlichen Bedingungen, wie etwa die der berüchtigten britischen „work houses“, die die Notleidenden weiterhin zur Arbeitswilligkeit motivieren sollten. Fast alle modernen „staatlichen Sozialeinrichtungen“ wie Armenhäuser, Gefängnisse, aber auch Krankenhäuser und Schulen waren von diesem Kriterium der Kontrollausübung geprägt, mit dem Zweck, Konformität mit den neuen Lebensbedingungen zu erzwingen, nicht nur um Unruhen und Rebellion sowie wachsende Kriminalität einzudämmen, sondern um damit generell das noch zu entwickelnde Gefühl der Loyalität zu den Staaten zu erzeugen, das nicht mehr auf traditionelle kulturelle oder religiöse Elemente (allein) zu gründen war (Sachße/Tennstedt 1980, S. 92).

In einem gewissen Gegensatz zu diesen staatlichen Strategien entwickelten sich gleichzeitig Initiativen auf der Ebene der sich unter diesen modernen Bedingungen herausbildenden Zivilgesellschaft, die entweder die Mittel der Kontrolle ablehnten oder sie zumindest ergänzen wollten in Fällen, die diese Behandlung „nicht verdient hätten“. Zu diesen Initiativen zeigten sich zunächst die religiösen Gemeinschaften bereit, auch im Bewusstsein, durch soziales Engagement wieder etwas Fuß fassen zu können im Strom der Säkularisierung, der sich vor allem in der Arbeiterklasse ausbreitete und dort auch institutionelle, kirchen- und staatsfeindliche Formen anzunehmen begann. Neue Konfessionsgruppen wie die Heilsarmee gründeten sich sogar ausschließlich auf ihre soziale Hilfefunktion. Neben diesen als karitativ zu beschreibenden Bewegungen traten humanistisch orientierte Organisationen unter der Bezeichnung der Philanthropie in Erscheinung, denen es insgesamt ein Anliegen war, menschenwürdigere Lebensbedingungen zu schaffen, die Menschen auch ohne religiöse Bindung ein Gefühl des Eingebundenseins in eine werteorientierte Gemeinschaft vermitteln konnten. Die Philanthropie fand Ausdruck in zahlreichen Stiftungen, die zumeist von Industriellen „mit einem sozialen Gewissen“ eingerichtet wurden und die die beispiellosen Gewinne, die aus der kapitalistischen Industrialisierung erzielt werden konnten, für „gemeinnützige Zwecke“ zur Verfügung stellten.

Diese Bewegungen bedurften aber zur Umsetzung ihrer Ziele der Mitarbeit zahlreicher Freiwilliger, die wiederum nur im Bereich der Mittelklasse zu finden waren, in der vor allem die bürgerlichen Frauen Zeit für wohltätiges Engagement zur Verfügung stellen konnten. Aufgrund ihrer humanitären oder religiösen Werteorientierung bauten diese Initiativen eher auf ein „allgemeines Menschenbild“ als auf das des „angepassten Staatsangehörigen“ (obwohl bei vielen dennoch eine nationale Orientierung zum Vorschein kam). Vor allem die katholische Kirche war schon immer international organisiert und viele der auf einem nationalen Gebiet operierenden religiösen Orden oder Initiativen hatten ihren Ursprung in einem anderen Land und waren den entsprechenden hierarchischen Strukturen unterworfen. Aber auch die protestantischen Kirchen hatten durch Migration und Mission internationale Verbindungen entwickelt, die dem Austausch von Erfahrungen und Methoden dienten. Vor allem entwickelte sich durch diese internationalen Beziehungen ein grundsätzliches Verständnis für die strukturellen Zusammenhänge (wenn auch nicht Ursachen) der dringendsten sozialen Fragen wie etwa Armut.

Die internationale Dimension trat vor allem in Erscheinung bei der Suche, wie die individuelle humanitäre Hilfe so systematisiert werden könnte, dass sie nicht zur permanenten Abhängigkeit von ständig neuen Hilfeleistungen führen würde, was sich bald als zentrales Problem der unabhängig voneinander fungierenden Stiftungen erwies. Diesbezüglich machte etwa das „Elberfelder System“ international und vor allem bei der britischen „Charity Organisation Society, COS“ (und darauf auch bei ihrem amerikanischen Äquivalent in Buffalo, New York, Chicago und anderen Städten) Schule, die sich zur Aufgabe gestellt hatte, das nichtstaatliche Almosenwesen in den Industriezentren zu koordinieren, um den pädagogischen Effekt der Interventionen bei den Empfängern zu verstärken (McMillan 2022). In Elberfeld, dem heutigen Wuppertal, hatte wie in anderen deutschen Städten die napoleonische Besatzung das Armenwesen im Sinne der Aufklärung an die Kommune übertragen. Um dieses effizient zu gestalten (im Sinne der Kostenersparnis und der Konformität der Empfänger mit gestellten Bedingungen), wurde die Stadt in 252 Quartiere unterteilt, denen je ein sogenannter „Provisor“ zugeteilt wurde, eine ehrenamtliche Position, die engen persönlichen Kontakt („von Mensch zu Mensch“) mit den etwa zehn Familien im Quartier zu halten hatten, die „Armenhilfe“ beantragten (Wendt 1990). Die Londoner COS, unter Führung von Figuren wie Helen Bosanquet, Octavia Hill und Charles Loch, entwickelte die personalisierte Form der Armenpflege zum Prinzip, nach dem die freiwilligen Mitarbeiterinnen ausgebildet wurden. Sie wurden angehalten, minutiöse „Fallnotizen“ (case notes) zu führen, die dann als Ausbildungsmaterial für das Personal der angeschlossenen Einrichtungen dienten und damit deren beginnenden Professionalisierung Vorschub leisteten, woraus das „case work“-Modell abgeleitet wurde, das sich zu einem der internationalen Erkennungszeichen professioneller personalisierter Sozialhilfe entwickelte, vor allem durch das Lehrbuch Mary Richmonds (1917) über „Soziale Diagnose“.

Die dritte Art der Reaktionen auf die „Entbettung“, die allerdings die soziale Frage klar in einem politischen Kontext beantworten wollte, war die Welle der Selbsthilfe- und Selbstrepräsentationsbewegungen wie der internationalen Arbeiterbewegung, der kooperativen Bewegung in ihren verschiedenen Ausprägungen der Arbeitsorganisation, der Lebensmittelversorgung und der Versicherung bzw. Darlehensverwaltung. Während etwa Wilhelm Raiffeisen seine kooperativen Prinzipien für ländliche Darlehensvergabe unabhängig entwickelte, gab es viele internationale Parallelentwicklungen in Großbritannien und Frankreich, die sich allmählich international vernetzten. Aber am deutlichsten wirkte sich die internationale Orientierung auf die Arbeiterbewegung aus, die sich schon ...

Erscheint lt. Verlag 20.11.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
ISBN-10 3-7799-8215-3 / 3779982153
ISBN-13 978-3-7799-8215-9 / 9783779982159
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