Zur Vehemenz von Abwertung -

Zur Vehemenz von Abwertung (eBook)

Rassismus- und diskriminierungskritische Bildung in Praxis und Diskurs
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
222 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8230-2 (ISBN)
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Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus und andere Ungleichheitsideologien durchziehen alle Bereiche des gesellschaftlichen Alltags. Auch die Pädagogik ist Teil gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse und nicht frei von Diskriminierung. Vielmehr trägt auch sie (bewusst oder unbewusst) zur Reproduktion bestehender Ungleichheitsverhältnisse bei. Der Band spürt den Ursachen und zugrundeliegenden Mechanismen mit Perspektiven aus Praxis, Wissenschaft und Kunst nach, regt zur kritischen Reflexion an und entwirft widerständige Strategien des Umgangs.

Tatjana Kasatschenko ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt »Vielfalt bildet!« (Technische Universität Darmstadt/Institut für Allgemeine Pädagogik und Berufspädagogik). Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich rassismuskritischer Bildung und der Intersektionalität von Differenz- und Ungleichheitsverhältnissen. Katharina Rhein, Dr., ist Ko-Leiterin der Forschungsstelle NS-Pädagogik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Bildungsreferentin in der Bildungsstätte Anne Frank. Dr. Z. Ece Kaya, 1978 in Istanbul geboren, ist u.a. Diplom-Politologin und promovierte Erziehungswissenschaftlerin. Siraad Rosina Wiedenroth, geb. 1986 in Frankfurt, aufgewachsen in Wiesbaden und Frankfurt. Abgeschlossenes Studium der Unternehmensführung in Gießen (Master). Aktivistisch, seitdem sie denken kann und tiefverbunden mit der Schwarzen Bewegung in Deutschland. Olga Zitzelsberger, Dr. phil., wissenschaftliche Leitung des Praxislabors an der Technischen Universität Darmstadt, Institut für Allgemeine Pädagogik und Berufspädagogik, Leitung des Projekts Vielfalt bildet! Rassismuskritische Bildungsarbeit gemeinsam gestalten. Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Universitäre Bildungsforschung, intersektionale Studien im Bildungsbereich, Selbstorganisationen von Migrant*innen, Qualitative empirische Sozialforschung.

Zur Vehemenz von Abwertung


Einleitende Bemerkungen

Tatjana Kasatschenko, Katharina Rhein
und Siraad Wiedenroth1

Wir als Herausgeberinnen hatten uns gerade für den Titel unseres Sammelbands entschieden, da gab es gleich zwei Ereignisse, die bundesweit für Aufsehen sorgten und die Vehemenz von Abwertung im pädagogischen Alltag nur allzu deutlich machten. Zuerst sahen sich Lehrkräfte aus Brandenburg dazu veranlasst, einen Offenen Brief zu verfassen, in dem sie Rassismus und Rechtsextremismus an ihrer Schule anprangerten. Im Brief heißt es u. a.: „Tagtäglich sind wir damit beschäftigt, Schüler vor psychischer und physischer rechter Gewalt zu schützen und demokratische Grundwerte zu vermitteln. Doch, was eigentlich selbstverständlich sein sollte, wird zu einem Spießrutenlauf für Lehrkräfte als auch für Schüler, die demokratische Werte vertreten. Lehrkräfte und Schüler, die offen gegen rechtsorientierte Schüler- und Elternhäuser agieren, fürchten um ihre Sicherheit. Die wenigen ausländischen und toleranten Schüler an unserer Schule erleben Ausgrenzung, Mobbing und Gewaltandrohungen. Es herrscht das Gefühl der Machtlosigkeit und der erzwungenen Schweigsamkeit“.2 Gleichwohl schreckten die Lehrer*innen zunächst davor zurück, ihre Namen öffentlich preiszugeben und verfassten den Brief anonym, aus Sorge vor Repressionen – letztendlich machten sie ihre Haltung und damit sich selbst als pädagogisch Professionelle sichtbar. Dieser Ein- und Widerspruch seitens der Lehrer*innen evozierte Reaktionen der Anfeindung, Abwehr und Einschüchterungspraktiken, sodass die Lehrkräfte eine Versetzung an andere Schulen beantragten. Kurze Zeit später erregte ein weiterer Vorfall mediale Aufmerksamkeit: Schüler*innen einer Berliner Schulklasse wurden in einem Feriencamp von anderen Gästen vor Ort zunächst rassistisch beleidigt und anschließend physisch bedroht. Die Situation verschärfte sich so weit, dass ein Lehrer nachts die Polizei kontaktierte und die Schüler*innen anschließend unter Polizeischutz um 3:00 Uhr von ihren Eltern abgeholt werden mussten.3

Als wir die Tagung Vielfalt bildet! Rassismus- und diskriminierungskritische Bildung in Praxis und Diskurs im September 2022 in Darmstadt veranstalteten und im Anschluss unseren Sammelband konzipierten, hatten wir weniger drastische und augenscheinliche Formen rassistischer sowie rechter Ausgrenzung und Gewalt vor Augen, als vielmehr die Alltäglichkeit rassifizierter Abwertung und Diskriminierung, die sich auch in der pädagogischen Praxis zeigt – und das bisweilen auch, ohne dass sie den jeweiligen Akteur*innen immer unmittelbar bewusst ist.

Dass die bereits genannten Vorfälle hier noch einmal aufgegriffen werden, zielt darauf, sich zu vergegenwärtigen, dass rassismus- und diskriminierungskritische Pädagogik eine kritische Haltung und bisweilen auch Mut erfordert. Und es zeigt, dass es bei der Positionierung gegen Rassismus nicht ‚lediglich‘ um Begriffsdebatten geht – wird doch insbesondere der Rassismuskritik zum Vorwurf gemacht, Sprachverbote unter dem Label von political correctness zu erteilen (vgl. Dirim et al. 2016, S. 89) –, sondern dass es bei Rassismus- und Diskriminierungskritik auch darum gehen muss, sich sowohl sichtbar solidarisch gegenüber denjenigen zu verhalten, die Diskriminierung und Gewalt ausgesetzt sind, als auch denjenigen gegenüber, die angefeindet werden, weil sie sich entsprechend engagieren und widersprechen.

Die skizzierten rassistischen Vorfälle sind seitens der Dominanzgesellschaft (vgl. Rommelspacher 2006) inzwischen wieder fast vergessen, denn die Ereignisse, die die gesellschaftliche Verbreitung von Rassismus und Antisemitismus offen zu Tage treten lassen, überschlagen sich regelrecht. Am 7. Oktober 2023 erfolgte der gewaltsame Überfall der Hamas auf den Staat Israel. Allen öffentlichen Solidaritätsbekundungen zum Trotz, haben antisemitische Anfeindungen und Übergriffe seither drastisch zugenommen.4 Der Bedarf an Fortbildungen für Lehrkräfte und Pädagog*innen zu den Themen Antisemitismus und Nahostkonflikt stieg sprunghaft an, denn die aufgeheizte Stimmung zeigt sich nicht zuletzt auch im Schulalltag. Gleichzeitig erfolgt in vielerlei Hinsicht eine deutsche Selbstvergewisserung als nicht antisemitisch, die den ‚eigenen‘ gesellschaftlichen Antisemitismus ausblendet, und diesen im Umkehrschluss allein bei als arabisch-muslimisch identifizierten/gelesenen Personen ausmacht und ihm umso härter begegnet.

Am 8. Oktober 2023 haben die Landtagswahlen in Hessen und Bayern stattgefunden. In Hessen wurde die rechtspopulistische Partei Alternative für Deutschland (AfD) mit 18,4 Prozent der Stimmen zweitstärkste Kraft nach der CDU und in Bayern mit 14,6 Prozent die drittstärkste Partei – hier führte die CSU direkt gefolgt von den Freien Wählern, die trotz der öffentlichen Debatten um den Antisemitismus des Vorsitzenden Hubert Aiwanger im Vorfeld der Wahl noch an Stimmen zugelegt hatten.

Während der vorliegende Sammelband verfasst wurde, einigten sich die EU-Mitgliedsstaaten auf eine Reform zum EU-Asylrecht und der Deutsche Bundestag verabschiedete das sogenannte Rückführungsverbesserungsgesetz. Getrieben von rechtem Populismus in Europa überbieten sich europäische Staaten mit immer weiteren Verschärfungen, die die Tür für Menschenrechtsverletzungen öffnen und Aushebelungen des Rechts auf Asyl fördern. Europa schottet sich immer weiter ab und verschlechtert die Bedingungen für Geflüchtete auf unterschiedlichen Ebenen. Im Mittelpunkt der europäischen Reform stehen die Grenzverfahren: Diese bedeuten, dass Asylsuchende, die aus Staaten fliehen, die eine niedrige Anerkennungsquote5 haben bzw. über als ‚sicher‘ geltende Drittstaaten an die EU-Außengrenze gelangen, in Zukunft in ‚Lagern‘ an den Außengrenzen festgehalten werden sollen, bis das Asylverfahren abgeschlossen ist. Diese Verfahren sind laut Expert*innen nur unter haftähnlichen Bedingungen durchführbar (vgl. Reinecke/Hilpert 2023). Das deutsche ‚Rückführungsverbesserungsgesetz‘ sieht zudem vor, den ohnehin geringen Schutzraum von Geflüchteten und Asylsuchenden weiter auszuhöhlen. So dürfen Polizeibeamt*innen nun z. B. zu jeder Tages- und Nachtzeit anrücken und in Gemeinschaftsunterkünften künftig auch andere Räume als das Zimmer der ‚Abschiebepflichtigen‘ durchsuchen. Inhaftierungen aufgrund einer Abschiebung sind anstatt bis zu zehn nun bis zu 28 Tage möglich (vgl. Pro Asyl 2024). Die Kritik seitens Politik und Zivilgesellschaft an dieser Aushöhlung des Asylrechts war kaum hörbar. Simultan gehen die Maßnahmen vielen offenbar dennoch nicht weit genug. Der neuste Streich ist die Einführung einer Bezahlkarte für Geflüchtete, die nicht nur einschränkt, wie Geflüchtete einkaufen können, sondern es steht ferner im Raum, auf der Karte den Aufenthaltsstatus sowie den Bildungsabschluss zu speichern.6 So eine Karte kann zu einer Kontroll- und Überwachungssituation im privatesten führen.7

Seitdem im Januar 2024 die Rechercheergebnisse von Correctiv über ein geheimes Treffen von Rechtsextremen bekannt wurden, bei dem u. a. zahlreiche Vertreter*innen der AfD beteiligt waren, finden vermehrt öffentlich wirksame Proteste gegen die rechtspopulistische politische Partei statt. Gegenstand des Treffens waren rassistische Pläne zu Massenausweisungen, die auf eine ‚Remigration‘ von angeblich Nicht-Zugehörigen abzielen.8 Die dem zugrundeliegenden rechten Imaginationen eines völkisch konzipierten homogenen deutschen Staates sind zwar auch für viele AfD-Mitglieder nicht wirklich neu, dennoch erfolgte die breite öffentliche Wahrnehmung und Empörung erst in diesem Zusammenhang – sicherlich auch geprägt durch die letzten Wahlergebnisse und die Umfragewerte für die 2024 anstehenden Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen. Was aus den Protesten noch folgt, wird sich erst zeigen, deutlich wird allerdings, dass es zusätzlich zu den notwendigen politischen und gesellschaftlichen Gegenbewegungen auch einer intensiveren pädagogischen Bearbeitung bedarf – nicht zuletzt, weil sich unter den Wähler*innen der AfD auch viele junge Menschen befinden.

Die im vorliegenden Sammelband veröffentlichten Beiträge wurden fast alle noch vor den hier genannten Ereignissen konzipiert und verfasst, dennoch gewinnen sie durch diese letztlich nur umso mehr an Aktualität, auch wenn sie diese nicht...

Erscheint lt. Verlag 4.9.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik Sozialpädagogik
ISBN-10 3-7799-8230-7 / 3779982307
ISBN-13 978-3-7799-8230-2 / 9783779982302
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