Der Liberalismus gegen sich selbst (eBook)
303 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-78062-6 (ISBN)
Mitte des 20. Jahrhunderts blickten viele Liberale missmutig auf die Welt der Moderne mit ihren verheerenden Kriegen, mörderischen Totalitarismen und der Atomkriegsgefahr. Sie kamen zu dem Schluss, dass die Ideale der Aufklärung Teil des Problems sind, nicht Teil der Lösung. Der amerikanische Historiker Samuel Moyn zeigt in diesem fesselnden Buch, das in der angelsächsischen Welt eine intensive Debatte ausgelöst hat, wie führende Intellektuelle in der Ära des Kalten Krieges den Liberalismus daraufhin transformierten und uns dadurch ein katastrophales Erbe hinterließen.
Feinsinnig und zugleich polemisch zeichnet Moyn nach, wie Hannah Arendt, Isaiah Berlin, Gertrude Himmelfarb, Karl Popper, Judith Shklar und Lionel Trilling den moralischen Kern der Aufklärung zugunsten einer Philosophie preisgaben, die sich einzig und allein um die Bewahrung der individuellen Freiheit dreht. Indem er diese Haltung sowie die jüngste Nostalgie für den Liberalismus des Kalten Krieges zwecks Verteidigung des Westens als moralisch entkernt, ja als gefährlich freilegt, weist Moyn zugleich einer neuen emanzipatorischen und egalitären liberalen Philosophie den Weg. Denn der Schaden jener Epoche muss repariert, das Überleben des Liberalismus muss gesichert werden.
Samuel Moyn, geboren 1972, ist Chancellor Kent Professor für Recht und Geschichte an der Yale University und Autor zahlreicher bahnbrechender Bücher zur Rechts-, Ideen- und Politikgeschichte des 20. Jahrhunderts. Moyn gilt als einer der wichtigsten Intellektuellen der USA und schreibt regelmäßig für <em>The Atlantic</em>, <em>The Guardian</em>, <em>London Review of Books</em>, <em>The Nation, The New Republic</em>, <em>The New York Times</em>, <em>The Wall Street Journal</em> und <em>The Washington Post</em>. Sein Buch <em>Der Liberalismus gegen sich selbst </em>wurde vom<em> New Statesman</em> zu einem der besten Bücher 2023 gekürt.
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Einleitung
Der Kalte-Krieg-Liberalismus war eine Katastrophe – für den Liberalismus.
Als er zeitgleich mit dem Kalten Krieg selbst in den 1940er und 1950er Jahren erstmals in Erscheinung trat, bestimmte er die neue Position des Liberalismus dadurch, dass er seinen Grundsätzen die Gestalt eines bedrängten, aber hehren Credos gab, das die freie Welt im Kampf gegen ein totalitäres Imperium aufrechterhalten müsse. Für seine Verfechter:innen stellten die ersten Jahre des Kalte-Krieg-Liberalismus eine Reaktion auf bittere Erfahrungen dar. In einer gefährlichen Welt voller Grausamkeiten, Torheit, Leidenschaft, Sündhaftigkeit und Bedrohungen schien ein ausdrückliches Bekenntnis zur Befreiung von staatlichen Exzessen in einem Zeitalter der Tyrannei einen Anflug von Weisheit zu bergen. Nach dem Ersten Weltkrieg hatten in ganz Europa ausgemachte Reaktionäre triumphiert, was bewies, dass der Liberalismus sterben kann. Und Revolutionäre, die sich anschickten, den Faschismus im Namen einer über den Liberalismus hinausgehenden Gerechtigkeit zu bekämpfen, würden großes Unheil anrichten, weil sie zu viele Menschen für die terroristische Bedeutung von »Fortschritt« blind machten und andere davon überzeugt sein ließen, dass utopische Versprechungen mittlerweile hauptsächlich als Entschuldigung für teuflisches Verbrechertum fungierten.
Das Schlagwort vom »Kalte-Krieg-Liberalismus« wurde in 10den 1960er Jahren als Epitheton von dessen Feinden geprägt, die ihm seine innenpolitischen Kompromisse und außenpolitischen Fehler vorwarfen. Doch in den letzten 50Jahren ist es rehabilitiert worden und hat die Rahmenbedingungen für eine liberale Perspektive festgelegt. Als die krisenhaften Jahre des Kampfes um Bürgerrechte und des Vietnamkriegs vorüber waren, ermächtigten die Prinzipien des Kalte-Krieg-Liberalismus dazu, die Entspannungspolitik zwischen West und Ost hinter sich zu lassen und die Sowjetunion von neuem in eine bewaffnete Auseinandersetzung hineinzuziehen. Nach dem bipolaren Konflikt, der dem Kalte-Krieg-Liberalismus seinen Namen gab, schien das »Ende der Geschichte« seinen Ansatz einer Vorrangstellung der Freiheit in einer bedrohlichen Welt nachträglich zu rechtfertigen. Dieses Gütesiegel wurde nach dem 11. September 2001 erneuert, als es galt, den »tapferen Kampf« gegen die globalen Feinde des Liberalismus mit vereinten Kräften zu führen. Angesichts von Feinden nicht nur im Aus-, sondern auch im Inland ist die Furcht vor dem Umkippen von Freiheit in Tyrannei, die sein Markenzeichen bildet, zu neuem Leben erweckt worden, um Demokratien zu unterstützen, die fortwährend am Abgrund zu stehen scheinen und zu ihrer Verteidigung moralische Klarheit benötigen.
Die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten hat eine erbitterte Schlacht – oder zumindest eine Polemik – um den Liberalismus entfacht, die Gelegenheit zur neuerlichen Inthronisierung des Kalte-Krieg-Liberalismus bot. Patrick Deneens vieldiskutierter Attacke Warum der Liberalismus gescheitert ist schlug eine Unmenge von liberalen Selbstrechtfertigungen entgegen, die explizit oder implizit fast alle die Sprache des Kalten Krieges sprachen. Diese genauso gegen die Linke wie gegen die Rechte gerichteten Rechtfertigungen klangen nicht nur hohl, sie wendeten die politische Krise, 11die sie zu überwinden versprachen, auch nicht ab. Dennoch wirkte es so, als ob man trotz der vielen Alternativen in der Geschichte des Liberalismus zwischen dem Kalte-Krieg-Liberalismus und einer reaktionären oder revolutionären Nachfolgeordnung wählen müsste. Die Debatte trug keineswegs dazu bei, dass Liberale an Selbstvertrauen gewannen, sondern verschlimmerte ihr Unbehagen und verstärkte ihr Gefühl eines unmittelbar drohenden Vernichtungsschlags und Debakels.
Was inmitten der Behauptungen und Gegenbehauptungen unterging, war das Ausmaß, in dem der Kalte-Krieg-Liberalismus dem Liberalismus als solchem untreu geworden war. In Gestalt einer Überprüfung seiner Hauptdenker:innen lotet dieses Buch einige Dimensionen dieser Untreue aus. Das Wichtigste an der politischen Theorie des Kalte-Krieg-Liberalismus ist, wie gründlich sie mit dem Liberalismus gebrochen hat, den sie vorfand. Daraus folgt, dass es liberale Ressourcen gibt, mit deren Hilfe die Grenzen des Kalte-Krieg-Liberalismus überwunden werden können, die jeden Tag deutlicher werden.
Dabei ist es nicht so, dass es Formen des Liberalismus von vor dem Kalten Krieg gäbe, die man wiederbeleben könnte. Fürs Lebenlernen sind Friedhöfe keine besonders geeigneten Orte. Vor dem Kalten Krieg diente der Liberalismus weitgehend zur Rechtfertigung eines wirtschaftspolitischen Laissez-faire. Außerdem war er auf der ganzen Welt in imperialistische Expansion und rassistische Hierarchien verstrickt. Das heißt jedoch nicht, dass er keine Alternativen zum Kalte-Krieg-Liberalismus für diejenigen bereithält, die nach der von der Moderne verheißenen freien Gemeinschaft von Gleichen streben.
Bei vielen der zentralen Merkmale des Liberalismus von vor dem Kalten Krieg – vor allem bei seinem Perfektionis12mus und seinem Progressivismus – lohnt sich ein zweiter Blick. Der Perfektionismus gibt ein kontroverses öffentliches Bekenntnis zum guten Leben ab. Entgegen der Vorstellung, dass der Liberalismus unter den konkurrierenden Glaubensrichtungen eine neutrale Position einnimmt, rieten viele Liberale vor dem Kalten Krieg zu kreativem Handeln und zur Befähigung zu Handlungsfreiheit als höchsten Werten für Einzelpersonen, Gruppen und die Menschheit. Der Progressivismus wiederum sieht die Geschichte als ein Forum der Möglichkeiten zum Erlangen und Ausüben einer solchen kreativen Handlungsfähigkeit in der Welt. (Die intellektuelle Sünde, die der Kalte-Krieg-Liberale Karl Popper als »Historizismus« titulierte und welche die Geschichte so behandelt, als gehorche sie gesetzesähnlichen Prozessen, ist eine Version des Progressivismus – die allerdings von der Norm abweicht.) Ebenso wichtig ist, dass Liberale im gesamten 19. Jahrhundert gezwungen waren, das Aufkommen demokratischer Selbststeuerung zu akzeptieren. Sie sahen ein, dass die praktischen Verbindungen zwischen Liberalismus und Marktfreiheit generalüberholt werden mussten. Vor dem Kalte-Krieg-Liberalismus trugen die Bemühungen, sich solchen Herausforderungen zu stellen, letztendlich zur Glaubwürdigkeit des allgemeinen Wahlrechts und Mitte des 20. Jahrhunderts zur Vorstellbarkeit des Wohlfahrtsstaats bei.
Dies alles änderte sich durch den Kalte-Krieg-Liberalismus. Die – in dem intellektuellen Aufbruch des 18. Jahrhunderts, der unter dem Namen Aufklärung bekannt ist, wurzelnde – Beziehung des Liberalismus zu Emanzipation und Vernunft bekam im Kalten Krieg Risse. Hoffnungsvolle Erwartungen wurden jetzt als naiv empfunden und das Streben nach universeller Freiheit und Gleichheit als Vorwand für Unterdrückung und Gewalt angeprangert. In Reaktion darauf war 13die Art von Theorie, die von den Vertreter:innen des Kalte-Krieg-Liberalismus in den 1940er und 1950er Jahren erfunden wurde, keineswegs emanzipatorisch, vielmehr pochte sie auf die strikte Beschränkung der menschlichen Möglichkeiten. Der Glaube an ein emanzipiertes Leben sei, wenn nicht vorsätzlich, so doch faktisch, protototalitär. Politische Unterdrückung werde immer wieder durch historische Erwartungen gerechtfertigt. Am wichtigsten sei der Erhalt der bestehenden Freiheiten in einem Tal der Tränen; sie seien brüchig und zerbrechlich und immer kurz davor, verletzt zu werden oder in sich zusammenzufallen. Wo Liberale sich früher zu einer wenn auch zögerlichen und oftmals zähneknirschenden Akzeptanz der Demokratisierung durchgerungen hatten, verabscheuten die Vertreter:innen des Kalte-Krieg-Liberalismus jede Massenpolitik – einschließlich der Massendemokratie.
Und wo der liberale Imperialismus des 19. Jahrhunderts zumindest versprochen hatte, weltweit für die Verbreitung von Freiheit und Gleichheit zu sorgen, gab der frühe Kalte-Krieg-Liberalismus alle globalen Absichten auf, um in einer Welt der Tyrannei den Westen als Fluchtburg für die Freiheit zu erhalten. Als die Völker der Erde sich nach dem Ende der formalen Imperialherrschaft (einschließlich Amerikas philippinischer Besitztümer) aus der direkten Kontrolle transatlantischer Liberaler befreiten, bedrohte der Kommunismus nicht nur...
Erscheint lt. Verlag | 9.9.2024 |
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Übersetzer | Christine Pries |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Liberalism Against Itself. Cold War Intellectuals and the Making of Our Times |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung |
Schlagworte | aktuelles Buch • Arendt • Aufklärung • Bücher Neuererscheinung • Krimi Neuerscheinungen 2024 • Liberalism Against Itself. Cold War Intellectuals and the Making of Our Times deutsch • Neuererscheinung • neuer Krimi • neues Buch • Politikwissenschaft • Politische Philosophie • Raymond-Aron-Preis 2013 • Shklar |
ISBN-10 | 3-518-78062-X / 351878062X |
ISBN-13 | 978-3-518-78062-6 / 9783518780626 |
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