Ungefiltert (eBook)

Spiegel-Bestseller
Bekenntnisse von einem, der den Mund nicht halten kann
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
320 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-32383-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ungefiltert -  Thomas Gottschalk
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Er ist eine Klasse für sich: Thomas Gottschalk. Für seinen spitzen und schlagfertigen Humor wird er vom Publikum geliebt - doch die Zeiten haben sich geändert. Was früher für Lacher sorgte, kann heute Empörung auslösen. Selbstkritisch und selbstironisch zugleich geht er der Frage nach, warum er sich heutzutage manchmal wie aus der Zeit gefallen vorkommt, und er versucht, die Regeln und Fallstricke unserer Gesellschaft zu verstehen: Was hat sich in seinen Augen verändert und warum? Wie kann man sich einen Weg durch das Dickicht an Geboten und Verboten bahnen, auf dem man sich selbst treu bleibt und zugleich anderen mit Respekt begegnet? Wie ticken die unterschiedlichen Generationen und wie kann man zu gegenseitigem Verständnis beitragen? Dafür hat Thomas Gottschalk in seinem Buch auch mit Generationenforscher Dr. Rüdiger Maas gesprochen.

»Ungefiltert« ist nach seinen autobiografischen Bestsellern »Herbstblond« und »Herbstbunt« erneut eine sehr persönliche Bestandsaufnahme und zugleich ein Plädoyer für mehr Gelassenheit im Umgang miteinander.

Thomas Gottschalk wurde am 18. Mai 1950 in Bamberg geboren. Er startete seine Karriere beim Bayerischen Rundfunk. Mit der Sendung »Na sowas!« gelang ihm der Durchbruch im Abendprogramm des ZDF. 1987 übernahm er das Unterhaltungs-Flaggschiff »Wetten, dass..?« und moderierte 2023 seine 154. und letzte Sendung. Er hat zwei Söhne und zwei Enkel und lebt mit seiner Frau Karina in München.

Kapitel 1

Alter weißer Mann

Da gibt es nichts dran zu rütteln: Jeder, der mich in die Schublade »Alter weißer Mann« einsortiert, hat die Fakten auf seiner Seite. Ich bin die Erstausgabe des »Babyboomers«, den man – ordnet man nach Geburtsjahren – von 1950 bis 1965 im ewigen Generationenkalender abgeheftet hat. Das ist für die aktuelle »Generation Alpha« (2010 bis Mitte der 2020er) irgendwann kurz nach dem Paläozoikum, für die bin ich ein Steinzeitmensch.

Dazwischen liegen noch die »Generation X« von 1965 bis 1979, die »Millennials« von 1980 bis 1995 und die »Zoomer«, auch »Generation Z« genannt, von 1996 bis 2010.

Die Generation der Spätgeborenen (Alpha) lassen wir mal außen vor, von denen weiß ich gar nichts, und höchstens die Erstausgabe von ihnen kennt mich. Und von denen erinnern sich alle, die in ihrer Kindheit nur privates Fernsehen geschaut haben, wahrscheinlich gerade mal schemenhaft an den »Gummibären-Mann«. Ihre Mütter lassen sich gerne mit mir fotografieren, und die Kinder rätseln dann, wer der seltsame Kerl ist, in dessen Arme sich Mutti gerade erfreut geworfen hat. Bis diese Generation alt genug ist, ihre Vorfahren zu beschimpfen, haben diese noch Zeit, nach unten, in Richtung ihrer eigenen Vorfahren zu treten. Dabei treffen sie oft mich.

Im Moment gibt es eine trotzige Fehde zwischen meiner Generation und dieser Generation Z, die gerade den Arbeitsmarkt umkrempelt. Wir sind nach dem Grundsatz groß geworden, dass »Lehrjahre keine Herrenjahre« sind, und erleben fassungslos, wie uns diese Altersklasse erzählt, dass eine ausgewogene Work-Life-Balance wichtiger sei als die Karriere.

Ihre Vertreter fordern mehr Lohn für weniger Arbeitszeit und wissen dabei die Statistik auf ihrer Seite. Es gibt einfach nicht genügend Nachwuchs, um die Lücke zu schließen, die entsteht, wenn die Babyboomer sich demnächst vom Arbeitsmarkt in die Rente zurückziehen. Ich muss zugeben, dass ich auch zu denen gehöre, die sich bang fragen: »…und wie soll das bitte weitergehen?« Wer schafft das zukünftige Bruttosozialprodukt, das meine Generation aus dem spöttelnden Song von Geier Sturzflug kennt. Sorgen darum mussten wir uns keine machen, denn meine Generation war es, die »in die Hände gespuckt« hat, und trotzdem wurden wir von unseren Eltern als »Gammler« und »Faultiere« beschimpft. Wir haben uns den Schuh nicht angezogen und uns von der Kriegsgeneration nichts sagen lassen, aber wir haben durchaus begriffen, dass wir Leistung zeigen mussten, um was zu werden und später, im Alter, was zu haben.

Die neue Generation ist jetzt am Ruder und schafft es locker, sich gleichzeitig über eine mögliche und für sie eher wahrscheinliche Altersarmut den Kopf zu zerbrechen und im selben Atemzug eine Senkung der Arbeitszeit zu fordern und entsprechend weniger Einsatz zu bieten. Mag sein, dass es einige aus meiner Generation in Richtung Karriere übertrieben haben – bei mir finde ich in dieser Hinsicht keine Schuld. Ich habe den Erfolg nie krampfhaft gesucht, aber habe mich auch nicht versteckt, wenn er mich eingeholt hat. Natürlich habe ich aus den Augenwinkeln meine Altersgenossen dabei beobachtet, wie sie in Behörden oder Betrieben die Erfolgsleiter hochgeklettert sind. Ich habe die einen runterfallen und sich wieder berappeln sehen, andere haben erschöpft aufgegeben oder den privaten Preis für beruflichen Erfolg bezahlt – das war dann halt die andere Seite der Medaille. Es wäre mir aber selbst nie in den Sinn gekommen, irgendwann ein Sabbatical einzuschieben, eine Auszeit, die man sich heute gerne nimmt, um der Seele die Zeit zu geben, zu regenerieren und Geist und Körper wieder in Einklang zu bringen. Wir haben uns die innere Balance im 2CV zurechtgeschaukelt und brauchten kein Yoga dazu.

Ich wäre auch nie auf die Idee gekommen, nach dem Abitur erst mal ein Jahr auszusetzen, um die Welt kennenzulernen. Hätte ich vielleicht tun sollen. Aber meine Mutter hätte mir was erzählt, und ich hätte mir mit dieser Schnapsidee die letzte Ohrfeige nach meiner Pubertät eingefangen. Ich hatte auch gar keinen Appetit auf Australien oder Südafrika, es gab ja das Interrailticket der Bundesbahn, mit dem man durch Europa reisen konnte, ferne Kontinente musste mir meine Mutter gar nicht ausreden, ich wollte da eh nicht hin. Sie hat schon genug schlaflose Nächte verbracht, als ich nach dem Abitur mit meinem Freund Gaggi aus Presseck zwei Wochen durch Skandinavien getrampt bin und dabei gelernt habe, dass die Würstchen dort »Pölzer« heißen (na gut, die Dänen schreiben »pølser«) und wesentlich teurer sind als bei uns. Aber was weiß ich schon. Als ich überraschenderweise körperlich und seelisch unversehrt wieder von meiner Skandinavienrundfahrt zurückkam, hatten größere Entfernungen für mich ihren Schrecken verloren. Also legte ich mutig die 250 Kilometer zwischen Kulmbach und München zurück und begann dort das Studium der Germanistik. Die London School of Economics hätte ich mir gar nicht leisten können, selbst wenn ich gewusst hätte, dass es sie gibt, und für »irgendwas mit Medien« gab es damals noch kein Studienfach.

Es gab auch keinen Bachelor und kein Masters Degree, die ich hätte erwerben können oder müssen. Ich hatte die Wahl zwischen dem Staatsexamen als Studienrat für Deutsch und Geschichte oder zumindest der Kurzfassung als Germanist in Form des Magister Artium. Ich warf auch nie im schwarzen Talar ein Barett in die Luft, um es, als Zeichen gewonnener Reife, wieder aufzufangen. Ich schrieb mich in Proseminare ein, nahm an Studentenprotesten teil (ein Sit-in habe ich souverän geschafft) und dachte ungefähr eine halbe Stunde daran, mich dem Marxistischen Studentenbund anzuschließen. Auf Empfehlung von zu Hause wurde es dann doch der Cartellverband der katholischen Studenten, und die »Katholische Deutsche Studentenverbindung« Tuiskonia München, eine nichtschlagende Verbindung, machte mich bereits 1978 zu ihrem »Alten Herrn«. Gerade hat man mir im Tuiskonenhaus, das immer noch dort steht, wo es damals stand, das »Hundertsemesterband« überreicht. Der Alte Herr, den man dort vorzeitig aus mir machte, bin ich heute wirklich, und bei einer ehrlichen Selbstanalyse kommt vieles zutage, was, unsere Generation betreffend, bereits in dem wegweisenden Film der Sechzigerjahre Zur Sache, Schätzchen weitsichtig festgestellt worden war und von uns häufig zitiert wurde: »Das wird böse enden!«

Überhaupt fußte meine Sozialisierung eher im schlichten Bereich der Unterhaltungsindustrie als auf Platon und Seneca, was bei einem Gymnasiasten der Sechzigerjahre des vorigen Jahrhunderts durchaus angemessen gewesen wäre. Als ich am Kulmbacher Markgraf-Georg-Friedrich-Gymnasium eingeschult wurde, zählten viele Lehrkräfte mich noch zu den Sextanern. Bis zur Oberprima und dem Abitur würde noch viel Zeit vergehen. Es war aber nicht die humanistische Bildung, die mir die Dinge des Lebens näherbrachte, sondern die Trivialitäten aus dem Kino und dem Radio. Die ersten James-Bond-Filme mit Sean Connery als 007 beeindruckten mich ebenso nachhaltig wie die internationalen Hitparaden dieser Zeit. Klar war es für uns ein Thema, ob Dave Dee oder Dave Davies von den Kinks ihre Hosen über oder auf der Hüfte trugen, aber wir waren keine »Follower«, die in Schnappatmung gerieten, wenn unsere Stars etwas von sich preisgaben. Ob weibliche Popstars sich mit Sportgrößen oder wem auch immer paarten, war uns egal, interessiert hat uns weniger die dazugehörige Person als vielmehr die Musik, die sie machte. Die Bravo mochte das anders sehen, aber der Hype um Taylor Swift und ihren Boyfriend Travis Kelce wäre zur Zeit meines Fandaseins undenkbar gewesen. Was mich viel mehr geprägt hat, war das fromme Gesülze, das mir in den Sonntagspredigten während des Hochamtes von der Kanzel um die Ohren flog.

Mein Zeitgefühl wurde damals maßgeblich vom Kirchenjahr beeinflusst. Zur Adventszeit hing ein riesiger Adventskranz von der Decke der St.-Hedwigs-Kirche, und zu Fronleichnam zog ich Ende der Fünfzigerjahre im Ministrantenrock noch voller Stolz und gemeinsam mit mehreren Blaskapellen durch die Kulmbacher Innenstadt, bis irgendwann in den Sechzigern Herr Härtel, der steifbeinige Organist, der sich, während die Prozession sich durch das evangelische, aber tolerante Kulmbach bewegte, allein auf der Empore der leeren Stadtpfarrkirche Zu unserer Lieben Frau an der Orgel verausgabte, an allen Freiluftaltären mit seiner Kunst zu hören war. Aus den Lautsprechern am Marktplatz ertönte seine festliche Begleitung von »Fest soll mein Taufbund immer stehen« genauso klar wie bei »Ein Haus voll Glorie schauet, weit über alle Land« am Altar der Wolfskehle. Für mich damals ein technisches Wunder und ein Beweis für Gottes Allmacht.

Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, dass James Bond jeder Masseurin, die er vor oder nach ihrer Dienstleistung ohne ihre Einwilligung auf die Bretter legte, Gewalt antat, und wenn Connie Francis »Barcarole in der Nacht« sang, empfand ich es als normal, dass für Frauen das Leben nicht mehr lebenswert war, sobald der geliebte Mann als Matrose oder aus anderen nachvollziehbaren Gründen weltweit unterwegs war und sich ohne sie in den diversen Häfen dieser Erde vergnügte. Während er sich irgendwo zwischen Japan, Chile, Hongkong und Shanghai herumtrieb, stand die Geliebte weinend am Piräus oder sonst irgendwo am Kai. Das fand ich ganz normal, bis mir der Irrsinn dieser Denkweise, bewusst gemacht wurde – mit Sicherheit von einer Frau. Musste...

Erscheint lt. Verlag 16.10.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
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ISBN-10 3-641-32383-5 / 3641323835
ISBN-13 978-3-641-32383-7 / 9783641323837
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