After Woke (eBook)
105 Seiten
Matthes & Seitz Berlin Verlag
978-3-7518-3019-5 (ISBN)
Jens Balzer, geboren 1969, lebt in Berlin und ist Autor im Feuilleton von DIE ZEIT.
Jens Balzer, geboren 1969, lebt in Berlin und ist Autor im Feuilleton von DIE ZEIT.
1.
Am 7. Oktober 2023 verübt die islamofaschistische Terrororganisation Hamas eine Reihe von Massakern in der Negev-Wüste im Süden von Israel, in Siedlungen, Kleinstädten und Kibbuzen. Die palästinensischen Terrorist*innen überfallen ein Trance-Techno-Festival, das Supernova Sukkot Gathering, das jährlich am Ende des Laubhüttenfests in der Nähe des Kibbuz Be’im abgehalten wird, und erschießen Hunderte der jungen Menschen, die dort gerade noch tanzten und nun vor den Angreifer*innen um ihr Leben fliehen und sich – meistens – vergeblich verstecken. Die Angreifer*innen filmen die Jagd auf ihre Opfer und die Morde mit Bodycams; manche Morde filmen sie sogar mit den Mobiltelefonen der Opfer, um die Aufnahmen anschließend an deren Familien zu senden. Sie reißen Frauen die Kleider vom Leib und vergewaltigen sie im Freien und filmen selbst das. Vom Supernova-Festival und aus den umliegenden kleinen Städten und Kibbuzen verschleppen sie über zweihundert Menschen in den Gaza-Streifen, um sie dort als Geiseln zu halten. Viele der Verschleppten sterben in der Geiselhaft; jene, die überleben und nach Hause zurückkehren können, berichten davon, dass sie gefoltert, vergewaltigt, unter Drogen gesetzt, in Käfige eingesperrt wurden.
Der Terror der Hamas ist von unbeschreiblicher Brutalität, die Bilder ihrer Aktionen sind kaum zu ertragen. Doch sind nicht nur die Mitglieder der Terror-Miliz an den Taten beteiligt, wie Videoaufnahmen zeigen. Es sind auch ganz normale Männer, Frauen, Jugendliche, die an diesem Tag über den Grenzzaun kommen, die Ersten fliegen mit Flugdrachen darüber, die Nächsten fahren mit Motorrädern und Pick-ups heran, manche sind in Jogginghosen gekleidet, tragen Freizeitlatschen, als ob sie von der ganzen Geschichte zufällig gehört hätten, um sich nun, als wäre es eine willkommene Auflockerung ihres Alltags, an den Exzessen der Grausamkeit zu ergötzen und zu beteiligen und um die Bilder dieser Exzesse alsdann in den sozialen Netzwerken um die Welt zu senden. Damit wollen sie der Welt zeigen: Die Menschen, an denen wir uns hier vergehen, sind für uns keine Menschen; es geht uns nicht mehr darum, einen Gegner zu bekämpfen, wir wollen vielmehr diesen Gegner vernichten, entmenschlichen – und um das zu erreichen, ist ihnen gerade auch die sexualisierte Gewalt ein bevorzugtes Mittel. Denn in den Augen der »lachenden Täter«1 stehen die Körper der Frauen symbolisch für den Körper des bekämpften Staats Israel, den es zu zerstören gilt, und für sein Staatsvolk.
Dass die Kämpfer*innen der Hamas sich als Ort eines ihrer Massaker ein Techno-Festival ausgesucht haben, fügt sich in eine Reihe von islamistischen Anschlägen des vorangegangenen Jahrzehnts: auf den Konzertsaal Bataclan in Paris am 13. November 2015; auf den queeren Club Pulse in Orlando, Florida, am 12. Juni 2016; auf das Konzert des Teenie-Stars Ariana Grande in Manchester am 22. Mai 2017; auf den queeren Club London Pub in Oslo am 25. Juni 2022 … Clubs sind vulnerable Orte, an denen Menschen sich gehen lassen, weil sie sich dort sicher fühlen, es sind »safer spaces«, an denen man ohne Angst vor der restlichen Welt eine Nacht lang das Leben feiert. Wer sich solche Orte als Anschlagsziel aussucht, der zeigt damit immer auch: Ihr, die wir als Gegner betrachten – ihr seid an keinem Ort auf der Welt sicher, und schon gar nicht an jenen Orten, an denen ihr Sicherheit sucht, um das Leben zu feiern. Denn für die lachenden Täter der Hamas gilt es nicht, das Leben zu feiern, sondern den Tod. So hat es die Schriftstellerin Elfriede Jelinek beschrieben, in einem Text, der einen Monat nach dem Massaker erschien:
Wenn Fanatiker wüten, denen das Leben gar nichts gilt, und der Tod etwas Erstrebenswertes ist, durch das man Märtyrer werden und sich zu den Jungfrauen begeben darf, dann gibt es keine Übereinkünfte mehr darüber, wovon Leben abhängt und was es braucht, um sich zu erhalten. […] Je mehr sie also das Gerechte ihres Ziels herausschreien, aus der Totalität in die Totalität, diese quasi staatsterroristische Mordlust an diesen unschuldigen, meist jungen, tanzenden und feiernden Menschen (Staatsterrorismus? Kein dazugehöriger Staat in Sicht!, aus solchen Taten entsteht kein Staat, niemals!), desto mehr Leere entsteht, ein saugendes Vakuum, und desto schneller verfallen auch alle Bemühungen zur Aufnahmsprüfung in die Zivilisation. Die Hamas gehört ihr nicht an. Durchgefallen, bevor die Prüfung noch stattgefunden hat.2
Der 7. Oktober 2023 ist ein Zivilisationsbruch, ein Tag, an dem die Werte der Humanität, wie Elfriede Jelinek schreibt, in einem »Ascheregen« aufgegangen sind: »Asche, über uns alle ausgestreut, bis der Wind sie verbläst. Über unsere Köpfe hinweg. Wir sehen nur, wie der schwarze Rauch davongeweht wird und der Schrecken übrigbleibt.« Jeder denkende und jeder empfindsame Mensch, so sollte man meinen, fühlt an diesem Tag mit den Opfern, mit den Toten, mit den Verschleppten.
Aber so ist es nicht.
So ist es nicht im Gaza-Streifen, wo die Entführer*innen und Mörder*innen von begeistert jubelnden Menschenmengen empfangen werden. Nicht in Berlin-Neukölln, wo arabischstämmige Berliner*innen noch am gleichen Tag zur Feier der Ereignisse auf der Sonnenallee Süßigkeiten verteilen. Und auch viele Intellektuelle, die sich der Gedankenwelt des Postkolonialismus zuordnen, bedenken die Opfer mit Kälte und Ignoranz. »Die gewählte Führung in Gaza schlägt zurück«, freut sich etwa der britische Autor Tariq Ali noch am 7. Oktober in einem Text für die New Left Review: »Sie brechen aus ihrem Freiluftgefängnis aus und überqueren die Südgrenze Israels, wobei sie militärische Ziele und Siedler*innen angreifen« – die Massaker, Vergewaltigungen, Verschleppungen werden von Ali verschwiegen – »Sie nehmen die Dinge in ihre eigene Hand […] und stehen auf gegen die Kolonisatoren.«3 Ismail Ibrahim, ein Autor des hippen linken n+1-Magazins, feiert in seinem Kommentar das »Loch in den Grenzen der Welt«, das seiner Ansicht nach am 7. Oktober geschlagen wurde: »Ich spürte den Schock und die Schönheit von etwas Unvorstellbarem, das sich ereignet hatte.«4 Und die Autorin Najma Sharif schreibt wiederum in einem viel diskutierten und zigtausendfach geliketen Kommentar auf X: »What did y’all think decolonization meant? Vibes? Papers? Essays? Losers«,5 was vielleicht mit den »Überlegungen« von Ulrike Meinhof, die der Spiegel im Juni 1970 veröffentlichte, eine deutschsprachige Entsprechung findet:
[W]ir sagen, natürlich, die Bullen sind Schweine, wir sagen, der Typ in Uniform ist ein Schwein, das ist kein Mensch, und so haben wir uns mit ihm auseinanderzusetzen. Das heißt, wir haben nicht mit ihm zu reden, und es ist falsch überhaupt mit diesen Leuten zu reden, und natürlich kann geschossen werden.6
Das sind nur einige der vielen sich ähnelnden Kommentare, die schon am Wochenende nach den Massakern in der Negev-Wüste kursieren.7 Doch nicht nur unter Intellektuellen herrscht angesichts der Geschehnisse eine klirrende Kälte gegenüber den Opfern, die lediglich als »legitime Ziele« im Kampf um Dekolonisierung erscheinen. Diese Verpanzerung, diese Empathielosigkeit gegenüber dem Grauen, gegenüber dem Leid anderer Menschen wird gerade auch unter Künstler*innen geteilt – nicht zuletzt unter solchen, die sich sonst besonders sensibel, »woke« und »aware« geben, die eigentlich allen Grund hätten, mindestens den Angriff der Hamas auf das Supernova-Festival auch als einen Angriff auf ihre eigene Existenz, ihre eigene Lebensart zu begreifen – denn es ist, wie schon oben beschrieben, ja kein Zufall, dass islamistische Terrorist*innen sich immer wieder Konzertsäle und queere Clubs als Angriffsziele auswählen, sind dies doch symbolisch aufgeladene Ziele für all jene, denen Diversität, Freiheit, Rausch, Euphorie bloß als Zeichen der »westlichen« Dekadenz gelten. Während aber auf die Solidarität der Techno-, Club- und Rave-Szene nach den Anschlägen in Paris, Orlando, Manchester, Oslo und so weiter immer Verlass war, stets Mitgefühl bekundet wurde und Soli-Konzerte und Festivals veranstaltet wurden, passiert nach dem Massaker auf dem Supernova-Festival hingegen erst mal: nichts. Kein prominenter DJ, keine Produzentin, kein Club, keine Veranstalterin bezieht in den ersten Tagen Stellung. Wo man sonst spontan die Regenbogen-Pride-Fahnen in den sozialen Netzwerken hisst oder – wie bei Black Lives Matter – nur noch schwarze Quadrate als Zeichen der Trauer postet, herrschen diesmal Schweigen und Leere. Es sei denn, man macht es wie der amerikanische DJ-Superstar Juliana Huxtable, nicht-binäre Symbolfigur des aktuellen Achtsamkeitstechno: Auf Instagram solidarisiert sich Huxtable am Tag nach dem Anschlag ohne weiteren Kommentar...
Erscheint lt. Verlag | 1.8.2024 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 7. Oktober 2023 • Essay • Gender Studies • Identität • Identitätspolitik • Israel • Judith Butler • Kulturkritik • Kulturtheorie • Palästina • Queerfeminismus • Stuart Hall |
ISBN-10 | 3-7518-3019-7 / 3751830197 |
ISBN-13 | 978-3-7518-3019-5 / 9783751830195 |
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Größe: 457 KB
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