#MeToo. 100 Seiten (eBook)
100 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-962316-0 (ISBN)
Carolina Schwarz, geb. 1991, ist Co-Ressortleiterin »Gesellschaft und Medien« bei der tageszeitung (taz).
Carolina Schwarz, geb. 1991, ist Co-Ressortleiterin »Gesellschaft und Medien« bei der tageszeitung (taz).
Die Bar
Es ist ein eher kühler Abend im Spätsommer 2023, die Vorwürfe gegen Rammstein-Sänger Till Lindemann bestimmen seit Wochen die Nachrichten und Debatten, als ich mit meinen zwei besten Freundinnen in einer Bar in Berlin-Neukölln sitze. Die beiden trinken Rotwein, ich ein Peroni vom Fass, und wir unterhalten uns über alles Mögliche. Irgendwann an diesem Abend kommen wir auf das Thema sexuelle Belästigung zu sprechen. Wir erzählen einander, wie viel Unangenehmes wir in unseren gut 30 Lebensjahren schon erleben mussten. Wie ältere Männer unsere kindlichen Körper mit ihren Blicken und Kommentaren sexualisierten. Wie wir in Bars oder auf Partys gegen unseren Willen begrapscht und geküsst wurden. Wie wir im Netz mit Vergewaltigungen bedroht und unangenehmen Nachrichten geflutet wurden. Wie wir in öffentlichen Verkehrsmitteln bedrängt wurden und niemand dazwischenging, oder wie wir auf der Straße am helllichten Tag verfolgt wurden.
»Das wäre heute so nicht mehr möglich«, sagt eine meiner Freundinnen irgendwann – und wir nicken. Natürlich wissen wir, dass sexuelle Übergriffe nicht einfach aufgehört haben. Noch immer habe ich Freund:innen, die mit dem Schlüssel in der Faust nachts nach Hause laufen oder sich nur in Gruppen in bestimmte Räume trauen. Übergriffe passieren überall und jederzeit. Doch wir teilen das Gefühl oder zumindest die Hoffnung, dass die Gesellschaft in den vergangenen Jahren ihr Bewusstsein für sexualisierte Gewalt in all ihren Facetten verändert hat. Dass Männer ihre Macht nicht mehr so unverfroren missbrauchen oder, falls doch, wir es nicht mehr so hinnehmen. Wir würden aufstehen, laut sein, einschreiten, wenn wir sehen, dass jemand übergriffig wird. »Das wäre heute nicht mehr so möglich«: In dem Satz schwingt mit, dass sieben Jahre #MeToo etwas gebracht haben.
Aber ist das so? Wäre #MeToo ein voller Erfolg, gäbe es keine sexualisierte Gewalt und keinen Machtmissbrauch mehr. Von diesem Zustand sind wir weit entfernt – und ob sich überhaupt etwas zum Besseren verändert, ist auch fraglich. Denn die Zahlen zu sexualisierter Gewalt in Deutschland steigen, und das lässt sich nicht nur mit einer höheren Anzeigebereitschaft der Betroffenen erklären. Hat das Hashtag also wirklich einen gesellschaftlichen Umbruch angestoßen oder war alles nur ein medialer Hype ohne reale Veränderungen?
Antworten auf diese Fragen zu finden, ist nicht einfach. Denn beim Thema #MeToo herrscht vor allem eines: Uneinigkeit. Ist das Ganze bloß ein Hashtag, eine Debatte, oder ist es eine feministische Bewegung? Und selbst wenn es eine Bewegung ist: Für wen oder was kämpft sie eigentlich? Je nachdem, wen man fragt, ändern sich die Antworten. In diesem Buch soll es, wenn überhaupt, nur am Rande um mich gehen, aber natürlich wird es aus meiner Perspektive – aus der einer weißen, in Deutschland lebenden cis Frau – und mit einer linken feministischen Haltung geschrieben.
Meinem Verständnis nach ist aus dem Hashtag längst eine internationale Bewegung geworden. Die Bewegung ist heterogen, sieht in jedem Land anders aus, ist online wie offline aktiv. Vor allem ist sie wenig strukturiert und sich weder in ihren Zielen noch ihren Maßnahmen einig. Im Großen will sie eine Welt ohne Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt, eine Welt mit Geschlechtergerechtigkeit, ja, eine Welt ohne das Patriarchat. Im Kleinen kämpft sie erst einmal dafür, dass wir die Scham überwinden, über das zu sprechen, was wir erleben. Dass wir all die Strukturen benennen, in denen Übergriffe stattfinden, um sie in einem zweiten Schritt aufzubrechen und abzuschaffen.
#MeToo, wie wir es heute kennen, begann in Hollywood, also in der Arbeitswelt der Reichen und Schönen. Doch die Bewegung blieb dort nicht stehen, denn sexualisierte Gewalt findet überall statt. Im Büro und in der Bar beim Feierabendbier, in der Kita, an der Uni und im Altersheim, im Sportverein oder auch beim Chor, in Burschenschaften und bei der Antifa, beim Konzert oder in der Kirche. Und der gefährlichste Ort bleibt gerade für Frauen das eigene Zuhause. Denn in den meisten Gewaltvorfällen kommt der Täter aus dem Nahbereich des Opfers, ist der (Ex-)Freund, der Vater oder der Klavierlehrer.
Eigentlich ist #MeToo keine Frage des Geschlechts, sondern betrifft Macht und Machtmissbrauch. Auch Männer erfahren sexualisierte und häusliche Gewalt, auch Frauen sind Täterinnen – wobei statistisch gesehen ein Großteil der Fälle andersherum gelagert sind. Und natürlich werden auch nichtbinäre, inter und trans Personen Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt, das möchte ich in diesem Buch, soweit es geht, sichtbar machen. Doch in den meisten Studien und Umfragen, aber auch bei staatlichen und gesellschaftspolitischen Vorhaben wird mit binären Strukturen gearbeitet, queere Lebensrealitäten werden weder abgefragt noch berücksichtigt, weswegen ich an den entsprechenden Stellen dann auch von Frauen und Männern schreibe.
Was Studien, Umfragen und Debatten in der Regel ebenso wenig berücksichtigen: Alle Frauen sind bedroht von geschlechtsspezifischer Gewalt, aber nicht alle in gleichem Ausmaß. Denn trans, behinderte, lesbische, BIPOC oder migrantische Frauen sind einer deutlich größeren Gefahr ausgesetzt als eine weiße cis hetero Frau ohne Migrationsgeschichte und Behinderung. Genauso prekär lebende Frauen ohne festes Arbeitsverhältnis und gesicherten Aufenthaltsstatus. Dieser Zustand offenbart, dass nicht nur das herrschende System, sondern auch die feministische Bewegung ihre Schwächen hat.
Wer wissen möchte, wo #MeToo heute steht, muss verstehen, woher die Bewegung kommt. Der Ausdruck ist einige Jahre älter, als viele denken. Die Aktivistin Tarana Burke nutzte ihn seit 2006 als Titel für eine Kampagne gegen Missbrauch von afroamerikanischen Mädchen und Frauen. Erst elf Jahre später forderte die Schauspielerin Alyssa Milano bei Twitter alle auf, die sexuell belästigt oder missbraucht worden waren, mit ›me too‹ auf ihren Tweet zu antworten. Diese zwei Worte reichten aus, um eine Massenbewegung loszutreten. Millionen Menschen nutzten in den vergangenen Jahren das Hashtag, um ihre Erfahrungen zu teilen.
Auslöser für Milanos Tweet waren die Recherchen des New Yorker und der New York Times zum missbräuchlichen Verhalten des US-Produzenten Harvey Weinstein gewesen. Der Name Weinstein war zum damaligen Zeitpunkt in Deutschland vermutlich nur den wenigsten ein Begriff – heute kennt ihn fast jede:r. Denn Weinstein ist der »Fall Null« der #MeToo-Bewegung. Im Oktober 2017 beschuldigten zahlreiche (prominente) Schauspielerinnen und Mitarbeiterinnen ihn der Vergewaltigung und Belästigung, Weinstein stritt alle strafrechtlich relevanten Vorwürfe ab. Gut zwei Jahre später wurde er zu 23 Jahren Haft verurteilt, später kamen in einem weiteren Prozess noch einmal 16 hinzu. Der Prozess, der zum ersten Urteil geführt hat, ist im Frühling 2024 für ungültig erklärt worden, das zweite Urteil bleibt so bestehen. Doch dazu später mehr. Der Fall ist für die Bewegung Glücksfall und Pech zugleich. Der Mut der Frauen und die hartnäckigen Recherchen zu Weinstein haben alles ins Rollen gebracht. Ohne sie gäbe es kein #MeToo. Gleichzeitig müssen sich alle Fälle an diesem Fall Null messen. Doch kaum einer ist so schwerwiegend, so eindeutig und gut belegt wie der von Harvey Weinstein.
Das ist ein Umstand unter vielen, die dazu geführt haben, dass die Bewegung nie mit einer so starken Durchschlagkraft in Deutschland angekommen ist wie beispielsweise in Schweden, Indien oder Spanien. Zwar gab es auch hierzulande mit den durchaus unterschiedlich gelagerten Vorwürfen gegen Dieter Wedel, Siegfried Mauser oder Till Lindemann – alle drei haben jegliche strafrechtlich relevanten Vorwürfe abgestritten – immer wieder Fälle, die zu bundesweiten Debatten über sexualisierte Gewalt geführt haben, doch die Folgen sind deutlich weniger sichtbar als in anderen Ländern.
In der deutschen Gesetzgebung hat sich bislang wenig getan. Dabei ist die juristische Situation für Betroffene sexualisierter Gewalt ziemlich prekär. Nur ein Bruchteil der Taten führen zu einer Verurteilung. Dass ihre juristischen Chancen schlecht stehen, ist vielen Betroffenen bewusst. Oft fehlt es ihnen an Vertrauen in die Polizei und die Justiz, weswegen sie von vornherein auf eine Anzeige verzichten. Manch eine:r geht deswegen den Weg über die Öffentlichkeit: Entweder direkt in den sozialen Medien oder indirekt über die Presse. Doch auch dieser Weg ist voller Hürden. Denn noch immer herrscht die misogyne Erzählung vor, Frauen würden Falschbeschuldigungen öffentlich äußern, um Karriere zu machen. Dabei ist das Gegenteil der Fall: Gehen Betroffene an die Öffentlichkeit, schlägt ihnen meist Hass und Unglaube entgegen.
Für die Presse ist diese Form der Berichterstattung ebenfalls eine Herausforderung. Denn obwohl Journalist:innen in Deutschland immer geübter in Verdachtsberichterstattung über sexualisierte Gewalt geworden sind, wird diese infolge von Einschüchterungsversuchen durch mutmaßliche Täter und verschiedene Gerichtsentscheidungen immer schwieriger.
Allzu oft sieht die traurige Realität also leider so aus: Die Justiz versagt, die Presse scheitert – Betroffene bleiben allein und Täter an der Macht.
Noch immer können Männer, denen sexualisierte Gewalt vorgeworfen wird, recht sicher sein, dass ihnen wenig passiert. Selbst nach schwerwiegenden Vorwürfen wurde Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt, Rammstein füllen weiter Stadien bei ihren Konzerten und Johnny...
Erscheint lt. Verlag | 11.10.2024 |
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Reihe/Serie | Reclam 100 Seiten |
Verlagsort | Ditzingen |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Alyssa Milano • Diskriminierung • Empowerment • Feminismus • Harvey Weinstein • Machtmissbrauch • Medien • Sexuelle Belästigung • Sexuelle Gewalt • Skandal • Social Media • Unterdrückung • Vergewaltigung |
ISBN-10 | 3-15-962316-5 / 3159623165 |
ISBN-13 | 978-3-15-962316-0 / 9783159623160 |
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