Rausch und Klarheit (eBook)
304 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-31566-5 (ISBN)
Mia liebt den Rausch. Drama, Drinks und Exzess sind fester Bestandteil ihrer Identität. So schlimm wie bei ihrer Oma und ihrem Vater, die der Alkohol umgebracht hat, ist es bei ihr aber noch lange nicht, denkt sie. Doch als die Nächte ihren Glanz verlieren, die Kater schlimmer werden, und sich eine diffuse Hoffnungslosigkeit in ihr ausbreitet, ahnt Mia, dass sie ihr Leben ändern muss.
Mit sprachlicher Wucht seziert Mia Gatow, wie sich die Sucht in ihre Familie und dann in ihr eigenes Leben schlich. Sie erzählt von den romantischen Mythen, die wir einander erzählen, um den Drink nicht loslassen zu müssen - und von der ungeahnten Schönheit, die sich eröffnet, wenn wir es doch tun.
Mia Gatow lebt als freie Autorin und Designerin in Berlin. Sie schreibt für den Tagesspiegel, Cosmopolitan, Playboy, das GYM Magazin, verschiedene Corporate Blogs und Werbeagenturen und illustriert für Mode- und Lifestylepublikationen. Zusammen mit Mika Döring moderiert sie wöchentlich den SodaKlub - Podcast für Unabhängigkeit.
»Ich möchte dieses Buch allen Leuten schenken, die ich kenne. Man liest es förmlich mit angehaltenem Atem. Es ist wie eine grandiose Ballade - über Abhängigkeit, Sehnsucht und Liebe und über das Leben, das so viel echter sein kann als gedacht.« - Daniel Schreiber
KLAR
Du trinkst nicht mehr. Und siehst dir selbst fasziniert dabei zu. Du trinkst jetzt Wasser statt Wein. Und kannst nicht fassen, wie leicht das ist. Du kannst nicht fassen, dass das nicht alle machen. Du kannst nicht fassen, dass du so lange gebraucht hast, um das zu kapieren. Du willst es allen erzählen: Hier, Leute, hier ist sie, die Weltformel! Die Tür zu allem, was du jemals wolltest. Das magische Abrakadabra, das Allheilmittel. Die Medizin gegen Schlafprobleme, Rückenschmerzen, Fettpolster, Pickel, Müdigkeit, Pessimismus, Minderwertigkeitskomplexe, Höhenangst, Lampenfieber, Prokrastination, Winterblues, Liebeskummer, Geldmangel, Krankheit, Depression, Hass, Krieg und Tod.
Dieser erste klare, gestochen scharfe Sommer, den du nie vergessen wirst, dieser erste Sommer deines Lebens, als du wieder ein Teenager bist, ein Teenager mit einer tausend Jahre alten Seele, der nichts, nichts, nichts mehr braucht, um glücklich zu sein, als kaltes, klares Wasser und schwarzen Kaffee und dein weißes Bett und deine nackten Beine auf deinem Fahrrad, mit dem du wie ein Pilot über den nächtlich glühenden Asphalt fliegst, die mit Blumenduft und Nachtigallengesang und Benzin getränkte Luft unter deinem Rock und die Elektrizität unter deiner Haut, die unaufhörlich singt: Alles ist lebendig, alles ist lebendig, alles ist lebendig.
Die Transformation findet tief in deinem Inneren statt, so unsichtbar und geräuschlos für die anderen, so fundamental für dich. Jedes einzelne Ding in deinem Leben, groß und klein, ändert sich. Deine Haut, dein Schlaf, dein Atmen, deine Freundschaften, deine Liebschaften, dein Sex, deine Küsse, deine Arbeit, deine Freizeit. Was du isst, was du liest, mit wem du schläfst, wo du abhängst, was dich interessiert, wen du magst, was du tolerierst, wen du im Spiegel siehst.
In diesem ersten Sommer deiner Nüchternheit gehört die Stadt dir. Du hast gesiegt. Jeden Morgen, wenn du in deinem blütenweißen Bett aufwachst, fühlst du dich, als hättest du gerade sehr gute Nachrichten erhalten. Du hast einen brandneuen Körper. Du bist fasziniert, wie leicht und durchlässig und biegsam er ist, wie er sich anfühlt, beim Gehen und Aufstehen, beim Laufen und Sport-Machen und wenn dich ein Mann im Arm hält. Deine Muskeln und Sehnen und Knochen sind lebendig und mit Strom versorgt. Alles ist hell, alles ist elektrisch, alles ist Licht, Energie und Bedeutung. Banalitäten versetzen dich in Ekstase. Ein Kuss macht dich tagelang high. Reden ist ein Rausch. Atmen fühlt sich an wie Sex haben. Fahrradfahren fühlt sich an wie Freiheit. Du bist unbesiegbar. Du bist Superbrain. Deine Gedanken, glasklar und hell, jagen sich gegenseitig wie junge Schwalben. Deine Freunde sagen, du siehst toll aus, hast du irgendwas verändert? (Ja. Alles.) Deine Freunde sagen, du bist lustiger als früher. Du hast Small Talk abgeschafft. Du redest nur noch über die großen Themen, die Liebe, den Tod und den Sinn in alldem. Während du dich mit durchgedrücktem Rückgrat und zehn Zentimeter über dem Boden schwebend vorwärtsbewegst, brechen vermeintliche Sicherheiten links und rechts von deinen Füßen weg wie sich verschiebende Erdplatten, stürzen in den Abgrund und gehen spektakulär in Flammen auf. Du guckst zu und denkst lässig: Na ja, das war wahrscheinlich nötig.
Du verstehst alles. Du hast die Antwort auf alle Fragen. Nichts überrascht dich mehr, nichts schockiert dich. Wenn jemand kommt und einen Mord gesteht, weißt du, was zu tun ist. Alle sind sicher bei dir. Du kannst alles aufnehmen, transzendieren, vereinen, verstehen. Selbsthilfe-Meetings sind wie geheime Zusammenkünfte für Eingeweihte. Du hast das Licht gesehen. Du bist bereit. Du könntest ohne Weiteres eine neue Religion gründen. Du bist der fucking Dalai Lama.
Die Sache mit dem Alkohol
In den Selbsthilfegruppen für Extrinkerinnen, so heißt es oft, ist immer irgendjemand, der einem aus der Seele spricht. Und das stimmt. Doch genau das ist auch das verdammte Problem und einer der Gründe, weshalb ich so lang einen Bogen um die Meetings machte. Wenn mir dort jemand aus der Seele spräche, bedeutete das logischerweise: Ich und diese Person, wir haben die gleiche Krankheit. Ich bin also richtig hier. Und das wiederum hieße: Ich muss mit dem Trinken aufhören. Und die eine verdammte Sache, die eine moderat alkoholabhängige Person am allerdringendsten vermeiden will, ist: mit dem Trinken aufhören.
Erzählt jemand im Meeting etwas, das dir bekannt vorkommt – zum Beispiel, dass er zu Trinkzeiten immer peinlich darauf achtete, seinen Wein in unterschiedlichen Supermärkten zu kaufen, damit keiner der Angestellten auf die Idee käme, er sei möglicherweise Alkoholiker –, dann wird dir klar: Du bist nicht allein. Aber es heißt auch: Deine Geschichte ist nichts Besonderes. Sie ist gewöhnlich, abgedroschen, ein Klischee. Es ist ein regelrechter Witz, dass du dir diese paar banalen Erkenntnisse so hart erarbeiten musstest, dass es dich so unglaublich viel gekostet hat, diese Lektion zu lernen, obwohl doch schon Millionen Leute vor dir genau das Gleiche durchgemacht haben. Das wurde alles schon unzählige Male erzählt. Hast du nicht zugehört?
Und das ist ja auch das grundlegende Missverständnis, mit dem man überhaupt anfängt zu trinken, zu rauchen, Drogen zu nehmen, mit dem Bad Boy mitzugehen, das ist ja genau das Versprechen: Du denkst, es macht dich zu jemand Besonderem. Schneller, wilder, verrückter, tiefsinniger, selbstbewusster, bedeutsamer. Du fühlst dich – und das ist das Unglaubliche daran – wie ein Rebell. Ein Regelbrecher, ein Outlaw, der grinsende Joker in einem Kartenspiel voller langweiliger Spießer.
Und irgendwann, lange nachdem es aufgehört hat, Spaß zu machen, und du aufgehört hast, dir irgendwas davon zu versprechen, erkennst du – Ironie! –: Die Haupteigenschaft der Droge ist es doch, dass sie uns allen einredet, etwas ganz Besonderes zu sein, wie ein erfolgreicher Heiratsschwindler, nur um irgendwann, unvermeidlich, uns alle auflaufen zu lassen, uns alle wie Idiotinnen dastehen zu lassen. Wie konntest du das nicht kommen sehen?
Ich wollte es einfach so gerne glauben.
Während ich noch trinke, nenne ich meine Abhängigkeit nie »Abhängigkeit«. Ich bevorzuge die vage Formulierung »die Sache mit dem Alkohol«. Das hilft mir, das Problem in der Unschärfe zu lassen, die Parallelen zu anderen Abhängigen zu ignorieren, mich selbst als Ausnahme von der Regel zu sehen. Ich muss schon in meinen Zwanzigern zugeben, dass »die Sache mit dem Alkohol« irgendwie optimierungsbedürftig ist. Aber mit einer »Abhängigkeit« hätte ich schnell die tausend Details gefunden, in denen meine Abhängigkeitsgeschichte allen anderen gleicht. Meine Geschichte vom Trinken ist nicht so besonders, wie ich damals denke, denn in Wirklichkeit haben die Geschichten vom Trinken furchtbar viele Gemeinsamkeiten.
Diese Geschichten gehen häufig ungefähr so: Das erste Mal, die Initiation, war wie Magie. Papa hat mich von seinem Bier kosten lassen und gesagt: Nun bist du ein Mann. Ich habe heimlich im Kleiderschrank die Reste vom Wein getrunken und mich an ihm und dem Duft von Mamas Kleidern berauscht. Ich war dreizehn, auf einer Party, und ich gehörte plötzlich dazu. Es war himmlisch. Endlich war ich selbstbewusst, sexy, witzig, entspannt und okay in meiner Haut. Ich konnte das Mädchen küssen, die coolen Kids beachteten mich. Es war alles, was ich je wollte. Und dann wollte ich natürlich mehr.
Lange ist das Trinken junge Liebe, romantischer Rausch. Es liegt noch kein Zwang darin, nur Wärme, Zauber, Möglichkeit. Betrunken als Studentin, mit einem Bier in der Hand auf dem Dach stehen, in der Stadt, von der du immer schon geträumt hast, den Sonnenaufgang betrachten und das unschlagbare Gefühl haben, dass die Zukunft komplett dir gehört, dass du nur die Hand auszustrecken und sie zu nehmen brauchst. Und vielleicht bekommst du sie auch, oder zumindest viel davon. Den Traumjob oder die Traumfrau oder Kinder oder aufregende Reisen. Aber langsam wird alles immer mehr Alltag, mehr Routine, auch die Träume, die sich erfüllen. Manche fahren ihr Trinken jetzt langsam runter, schleichen es aus, weil sie morgens früh rausmüssen. Andere müssen auch früh raus, trinken aber weiter. Sie nehmen mehr Mühe auf sich, um den Drink weiterhin in ihr Leben zu integrieren, obwohl es immer aufwendiger wird. Kater werden schlimmer mit über dreißig – versuche diese zehn Hangover-Hacks! Nun häufen sich für ein paar Jahre lang die Warnsignale. Tropfen von Tinte in einem Glas klaren Wassers, alles wird graduell immer schlimmer. Der Verlust der Unschuld, jeder kennt die Liste, die man checken muss, um sich das Trinken zu versauen: täglich trinken, allein trinken, morgens trinken, heimlich trinken. Und dann, ganz am Ende: es nicht mehr verheimlichen können. Hier wird es headlinewürdig, hier gibt es Dramaporn. Schließlich: der Tiefpunkt. Möglichst ein richtiger Schocker. Mann weg, Kinder weg, Haus weg, Job weg – und dann für die, die es schaffen aufzuhören: Läuterung, Umkehr, Erkenntnis, Beichte. Vorhang. Was danach kommt, weiß niemand so genau, aber es ist wahrscheinlich irgendwie traurig und anstrengend. Unsere Alkoholstorys sind wie Romcoms: vorbei, wenn die eigentliche Geschichte losgeht.
Wenn die Leute in den Meetings immer die gleichen stumpfen Abläufe ihrer persönlichen, dabei jedoch sehr vergleichbaren Suchtverläufe schildern würden – wir würden uns alle zu Tode langweilen. Dramaporn nutzt sich schnell ab. Schon bei der dritten wegen Alkohol erodierenden Ehe und dem vierten Klinikaufenthalt hörst du nicht mehr richtig zu. Erst wenn wir aufhören, wird’s interessant. Erst dann können wir wieder die einzigartigen...
Erscheint lt. Verlag | 1.9.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 2024 • Abhängigkeit • Abstinenz • Alkoholiker • Alkoholmissbrauch • Alkoholproblem • Berlin • Biografie • Biographien • Daniel Schreiber • Drinks • Drogen • dry January • eBooks • eva biringer • Familie • Gesellschaft • Gesundheit • Memoir • Mimi Fiedler • Nathalie Stüben • Neuerscheinung • Nüchtern • ohne Alkohol • Party • Podcast • Problem • sober october • Sucht • toxische Beziehung • Trinken • Trocken • Unabhängig |
ISBN-10 | 3-641-31566-2 / 3641315662 |
ISBN-13 | 978-3-641-31566-5 / 9783641315665 |
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