Chaos (eBook)
208 Seiten
Haymon (Verlag)
978-3-7099-8438-3 (ISBN)
Yassamin-Sophia Boussaoud wurde 1990 in Prien am Chiemsee als Kind eines Tunesiers und einer Deutschen geboren. Das Aufwachsen im zutiefst konservativen Chiemgau war eine emotionale Herausforderung. Unter dem Namen @minoandtheirchaos schreibt Yassamin heute über ebendiese Erfahrungen. They hat mehrere Gedichtbände herausgebracht, ordnet sich sprachlich zwischen radikaler Sanftheit und sanfter Radikalität ein. Yassamin-Sophia identifiziert sich als queere, dick_fette, nicht binäre Person, ist Elternteil, verheiratet und lebt mit deren Familie in München. 'Chaos' ist deren Verlagsdebüt.
Yassamin-Sophia Boussaoud wurde 1990 in Prien am Chiemsee als Kind eines Tunesiers und einer Deutschen geboren. Das Aufwachsen im zutiefst konservativen Chiemgau war eine emotionale Herausforderung. Unter dem Namen @minoandtheirchaos schreibt Yassamin heute über ebendiese Erfahrungen. They hat mehrere Gedichtbände herausgebracht, ordnet sich sprachlich zwischen radikaler Sanftheit und sanfter Radikalität ein. Yassamin-Sophia identifiziert sich als queere, dick_fette, nicht binäre Person, ist Elternteil, verheiratet und lebt mit deren Familie in München. "Chaos" ist deren Verlagsdebüt.
Von der Unruhe
Als ich noch nicht wusste, wie diese Welt
sein kann,
da war es so viel einfacher zu sein.
Ohne nachzudenken.
Nur ich selbst. Getragen von Füßen,
die keine Angst davor hatten, Unbegangenes
zu begehen.
Geleitet von Gedanken, die nicht davor
zurückscheuen,
meine zu sein.
Als ich noch nicht wusste, wie viel Schmerz
möglich ist,
da war es so viel einfacher zu lieben.
Ohne nachzudenken.
Einfach zu fühlen.
Geleitet von einem Herzen, das keine Angst
kennt,
das zu erkunden, was man* Leben nennt.
Als ich noch nicht wusste, wie unschön es
sein kann,
sich zu erinnern, da war es noch wichtig,
immer alles zu erleben. Nichts auszulassen.
Um jeden Preis dabei zu sein.
Als ich noch nicht wusste, wer ich bin,
war ich traurig.
Ich wusste nicht, dass der Kummer die Freude
umarmen kann.
Und dass sie, für immer verbunden,
meinen Weg mir weisen.
Vielleicht weiß ich manches.
Vielleicht weiß ich nichts.
Aber doch, dass meine Füße mich auch tragen,
wenn die Angst mich überkommt.
Dass mein Herz so vieles verstehen und vergeben
kann, aber nicht muss.
Ich weiß, dass all meine Fehler mir zeigen,
dass es das ist, was wir Leben nennen.
Dieses Chaos aus Versuchen, Fehlern und Gefühlen.
Unter dem Begriff Unruhe verstehen wir einen Zustand, in dem Ruhe fehlt oder auch einen Zustand ständiger Bewegung. Unruhe kann innerlich stattfinden oder äußerlich sichtbar sein.
Die Unruhe, die ich meine, ist jene, die sicherlich viele Menschen mit Migrationshintergrund kennen und ebenso wie viele marginalisierte Menschen, Menschen, die in der Gesellschaft Diskriminierung erfahren, sie kennen. Die unruhige Suche nach Antworten, nach einem Zuhause. Die Sehnsucht danach, Boden unter den Füßen spüren zu können.
Kantaoui, Osttunesien, 1. August 2022
Die Sonne ist vor wenigen Minuten erst aufgegangen, die Hitze jedoch bereits deutlich zu spüren. Ich laufe die wenigen Meter von meinem Zimmer zum Strand. Da liegt es vor mir. Das glänzende Mittelmeer, sanft, regelmäßig atmend. Der salzige Duft neckt mich.
Ich schlüpfe aus meiner Jibba, lege meine Chleka ab und gehe ins Wasser. Es empfängt mich, umhüllt mich, trägt mich. Ich muss aufpassen, denn hier in der Bucht gibt es jede Menge dieser kleinen, durchsichtigen, harmlos wirkenden Quallen, deren Stiche so brennen. Seit ich hier bin, hat mich die ein oder andere schon erwischt. Ich schwimme ein Stück weiter hinaus, wo es weniger werden. Wie lange ich nicht mehr hier war, kann ich kaum fassen. Mehr als 15 Jahre. So viele heimatlose Jahre. Ich versuche, nicht so viel nachzudenken. Nur zu fühlen. Das salzige Wasser auf meinen Lippen, den angenehmen Druck auf meiner Haut, die Morgensonne auf meinen raspelkurzen Haaren. Mein Atem in meinen Lungen. Meine Schwimmbewegungen. Das hier, ja, das ist der Ort, an dem ich gerade sein soll.
Das letzte halbe Jahr war ein Auf und Ab, wie ich es noch nie erlebt habe.
Ich musste mein Studium abbrechen. Meine Kinder mussten zu ihrem Vater ziehen. Ich war wohnungslos.
Wir hören sehr häufig, dass wir alles schaffen können – wenn wir es nur wirklich wollen. Und daran habe ich geglaubt. An dieses grausame Märchen. Ich war sehr ehrgeizig, machte mit 25 mein Abi nach und wollte mit zwei Kindern, alleinerziehend, in eine neue Stadt ziehen und studieren. Zu Beginn schien alles gut zu funktionieren. Wir hatten eine bezahlbare, kleine Wohnung in einem Studierendenwohnheim, mein Studium lief gut an, wir fanden schnell Anschluss. Nach einigen Monaten begannen die Schwierigkeiten. Ein BAföG-Antrag, dessen Bearbeitung sich über acht Monate zog und nicht voranging, keine Unterstützung von meiner Herkunftsfamilie, keine Ersparnisse. Ich musste während des Studiums bis zu 35 Stunden die Woche in meinem alten Beruf als Kinderpfleger*in arbeiten, wenig später kam die Pandemie. Ich wollte all das schaffen. Denn weder wollte ich den Rest meines Lebens unter den schlechten Bedingungen und unterbezahlt als pädagogische Hilfskraft arbeiten, noch wollte ich die Person sein, die so früh Kinder bekommen hatte und es dann nicht geschafft hat. Ich wollte es unbedingt schaffen.
Aber in dieser Gesellschaft schaffen es nur jene mit ausreichenden und vor allem den richtigen Privilegien. Dazu gehörte ich auf jeden Fall nicht.
Ich will nicht zu viel darüber nachdenken. Die Angst nicht zu viel Raum einnehmen lassen. Denn diese Gedanken machen mich unruhig, rufen die Rastlosigkeit in mir hervor, der ich versuche zu entkommen. Nicht zu viel darüber nachdenken. Einfach schwimmen. Hier, an diesem Ort, den ich nicht kenne, der aber meine Heimat ist. Mehr als jeder andere Ort auf der Welt vielleicht. Langsam füllt sich der Strand. Menschen nutzen hier die Morgen- und Abendstunden zum Schwimmen, tagsüber ist es zu heiß. Daran lassen sich Tourist*innen erkennen. Wenn sie in der Tageshitze am Strand liegen, dann gehören sie eigentlich nicht hierher.
Ich schwimme zurück, gehe aus dem Wasser und ziehe meine Jibba wieder an, schlüpfe in meine Chleka und wünsche ein paar bekannten Gesichtern einen guten Morgen: „Sbeh el-khair“.
Diese Sprache, die irgendwo in meinem Kopf wohnt. Ich konnte sie sprechen, sie ist Teil von mir, aber ich kann sie nicht greifen. Alles, was ich heute noch hinbekomme, sind ein paar einfache Floskeln, simple Sätze. Wie ein kleines Kind, das gerade sprechen lernt. Ich hasse das. Zurück am Haus wasche ich meine Füße in den Eimern, die hier vor jedem Eingang stehen. So halten sich die Menschen den Sand aus ihren Häusern. Ich bin darin aber ziemlich schlecht. In meinem Bett findet sich stets Sand. Nach einer kurzen, kalten Dusche hänge ich meine Sachen zum Trocknen auf, ziehe mir ein Kleid über und mache mir etwas zu essen. Ich röste Baguette über der Gasflamme, dazu gibt es Chamia – eine Paste aus Sesam, Zucker, Mandeln und Pistazien – und Feigenmarmelade. Es gibt hier noch keinen Kaffee in dieser Ferienwohnung. Ich schenke mir ein Glas Birnensaft ein und nehme eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank. Als Kind habe ich Wasser aus der Leitung getrunken. Nun geht das hier nicht mehr. Ich setze mich auf die hölzerne Couch, ziehe den Fliesentisch zu mir hin und frühstücke. Die Süße macht mich glücklich. Es schmeckt besser als in meiner Erinnerung. Erinnerungen. Sie schießen hier aus dem Boden wie kleine Pilze. Und ich kann sie nicht alle einordnen. Zu lange ist es her. Zu viel ist geschehen. Ich versuche, mich auf mein Frühstück zu konzentrieren. Aber es geht nicht. Meine Gedanken wandern in eine Welt, die ich so lange verdrängt habe …
Der Duft von heißen Steinen und Brot umhüllt das kleine Haus, in dem meine Familie lebt. Es gibt ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer und eines für die Kinder, ein spärlich ausgestattetes Bad und eine Küche. Im Hinterhof steht eine Tabouna. Dort wird das Brot gebacken, das ich so gerne zum Frühstück esse. Meine Tante nimmt dicke Teigkugeln aus einer metallenen Schüssel, zieht sie in gleichmäßigen Bewegungen auseinander und wirft sie gegen die Wände des rundlichen Lehmofens. Es duftet so gut – nach Zuhause.
Wir Kinder sitzen alle um den weißen Plastiktisch in der Küche. Es gibt Saft, Fladenbrot, Chamia und Feigenmarmelade. Abends liegen wir alle zusammen im Wohnzimmer auf dünnen Matten, in bunte Decken gekuschelt. Ich darf neben meiner Ommi schlafen. Sie riecht nach Henna und Weihrauch, Knoblauch und Tomaten. Niemand muss alleine schlafen. Die Nächte sind kalt, aber hier in diesem Zimmer ist es warm. Ich kenne viele der Familienmitglieder nicht gut. Die meisten über Jahre nur vom Telefon. Meine Ommi kenne ich einerseits so gut und andererseits kaum. Mein Baba hat mir von klein auf all die Geschichten aus seiner Familie erzählt. Sie alle lebten, bis ich sie dann besuchen konnte, in dieser Utopie in meinem Kopf. Eine Familie, in der alle so aussehen wie ich. Mit brauner Haut, dunklen Augen und Locken. Eine Familie, in der ich einfach nur ich sein kann.
Mein Baba holt mich ab. Wir fahren nach Sidi Bou Said. Das ist die Stadt mit den blauen Fenstern und dem Café, das meinen Namen trägt. Yassamin. Überall blüht Jasmin. Die kleinen weißen Blüten zieren die Gas-sen und Gehwege. Die salzige Meeresluft kitzelt meine Nase. Ich war das Kind, das mein Baba immer in Cafés mitgenommen hat. Vielleicht, weil er meine Gesellschaft genoss. Vielleicht, weil ich in der Hinsicht recht unkompliziert war. In meiner Kindheit verbrachte ich viele Stunden mit meinem Baba in Cafés, lauschte seinen Gesprächen mit Freunden, beobachtete Menschen um uns herum und trank Pago-Säfte aus kleinen, grünen Flaschen oder aß ein Mickey-Maus-Eis mit zwei kreisrunden Waffelblättern als Mäuseohren. Ich mag diese Erinnerungen. In Sidi Bou Said saßen wir in diesem Café, in das man* nur über viele Treppen kam und von dem aus man* das Meer sehen konnte. Ich trank dort Citronnade, die typisch tunesische Zitronenlimonade, und Minztee mit Mandeln. Mein Baba trank wie immer Espresso. Manchmal rauchte er. Manchmal nicht. Manchmal redeten wir. Manchmal war die Stille zwischen uns der sicherste Ort auf dieser...
Erscheint lt. Verlag | 24.10.2024 |
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Verlagsort | Innsbruck |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Aufwachsen • Chaos • Debüt • Deutschland • Diskriminierung • Enttäuschung • Familie • Fettfeindlichkeit • Freude • Freundschaft • Gefühle • Gefühlschaos • Gesellschaft • Glauben • Hoffnung • Kindheit • Kulturunterschiede • Liebe • Nonbinär • Normen • Obdachlosigkeit • Persönlichkeit • Prosa • Queerness • Rassismus • Rechtsruck • Sachbuch • Scham • Schwangerschaft • Selbstfindung • Traditionen • Tunesien • Vertrauen • Verzweiflung |
ISBN-10 | 3-7099-8438-6 / 3709984386 |
ISBN-13 | 978-3-7099-8438-3 / 9783709984383 |
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