Uhrwerke (eBook)
336 Seiten
C. Bertelsmann (Verlag)
978-3-641-32151-2 (ISBN)
Die Erfindung der Uhr war für die menschliche Kultur mindestens so bedeutend wie der Buchdruck oder das Rad, denn das genaue Messen der Zeit hat unsere Einstellung zu Arbeit, Freizeit, Handel, Politik und vielem mehr geprägt. Aber Uhren sind vor allem auch eindrucksvolle Instrumente, die filigrane, höchst komplexe Technik auf kleinstem Raum unterbringen. Kaum jemand ist so geeignet, ihre Geschichte zu erzählen, wie die angesehene englische Uhrmacherin Rebecca Struthers. Auf ihrer sehr persönlichen Reise durch die Zeiten nimmt sie uns mit in ihre Werkstatt, in der sie es mit besonderen Stücken zu tun hat: handwerklich gefertigte alte Uhren mit hoher technischer Raffinesse, außergewöhnlich gestaltete Exemplare, die auf den ersten Blick gar nicht wie eine Uhr wirken, Klassiker des Uhrmacherhandwerks, die das Herz von Uhrenliebhabern höher schlagen lassen. Sie alle verraten einiges über ihre Zeit, über vergangene Uhrmacher und über ihre Besitzer. Rebecca Struthers Buch ist eine wunderbar leicht erzählte Geschichte der Zeitmessung, der Uhren und eine Liebeserklärung an ein Handwerk.
Rebecca Struthers ist eine Uhrmacherin und Historikerin aus Birmingham. 2012 gründete sie gemeinsam mit ihrem Ehemann Craig, einem Uhrmacher, die Werkstatt Struthers Watchmakers, wo sie mithilfe historischer Geräte und traditioneller Handwerkstechniken antike Stücke restaurieren und individuell entworfene Uhren herstellen. Sie gehören zu den wenigen Uhrmachern im Vereinigten Königreich, die noch eigenständig Uhren fertigen. Im Jahr 2017 wurde Rebecca Struthers die erste Uhrmacherin in der britischen Geschichte, die einen Doktortitel in Uhrmacherei erwarb. Neben ihrer Arbeit setzt sie sich für den Erhalt traditioneller handwerklicher Fertigkeiten ein. Sie ist zudem u.a. Fellow des British Horological Institute und der Royal Society of Arts und tritt immer wieder im Rundfunk und Fernsehen auf.
1
Die Sonne im Blick
Kia whakatōmouri te haere whakamua
Ich gehe rückwärts in die Zukunft, den Blick auf die Vergangenheit gewandt.
Maorisches Sprichwort
Die Natur hat mich schon immer in ihren Bann gezogen.
Als Kind tat ich nichts lieber, als Schnecken im Garten zu sammeln und mich dabei von oben bis unten mit Schleim und Schlamm zu bekleckern. Vor allem aber gefiel es mir, den Dingen auf den Grund zu gehen.
Eine meiner frühesten Erinnerungen ist, wie mein Vater mir sein Mikroskop zeigte. Erstaunt entdeckte ich eine andere Welt, die insgeheim in meiner existierte, mit bloßem Auge jedoch nicht zu sehen war. Das begeisterte mich so sehr, dass mir meine Eltern zu Weihnachten eine tragbare Version für Kinder schenkten, die mich auf meinen Streifzügen durch den Garten begleitete. Wir brachten Stunden damit zu, Teichwasserproben zu betrachten. Dann zeichnete ich die seltsamen und wunderbaren Kreaturen, die ich auf dem Objektträger hin und her huschen und kriechen gesehen hatte.
Ich wuchs in dem Birminghamer Vorort Perry Barr auf. Das war ein dicht besiedeltes Gebiet aus Backstein, Beton und Asphalt, das von der A34 und deren achterbahnartigen Über- und Unterführungen in zwei Teile getrennt wurde. Das, was einem Stückchen Landschaft am nächsten kam, war ein Ödland, auf dem die Leute illegal ihren Müll abluden und auf dem meine Schwester und ich heimlich spielten. Wir nannten es »Hintergrund« (es war buchstäblich der Grund hinter unserem Haus).
An die Jahreszeiten in Perry Barr kann ich mich nicht mehr recht entsinnen. Abgesehen von ein paar vereinzelten Schneeflocken im Winter, war das struppige Gras auf dem »Hintergrund« das ganze Jahr über rotbraun. Im Herbst sammelte sich Laub in glitschigen Klumpen auf dem Gehweg, während meine Eltern darüber diskutierten, ob es zu früh sei, die Heizung anzustellen. Nachts tauchten die Straßenlaternen den Himmel in ein milchig orangefarbenes Licht, das die Sterne fast unsichtbar machte.
Ich werde immer ein Mädchen aus Birmingham bleiben. Doch als ich Anfang dreißig war, blieb Craig und mir nichts anderes übrig, als wegzuziehen. Aus Kostengründen waren wir gezwungen, die Stadt zu verlassen und uns ein günstigeres Haus zu suchen, dessen Preis unser Einkommen als Selbstständige nicht sprengte. Wir kauften ein altes Webereigebäude in einer Kleinstadt im nördlichsten Teil von Staffordshire an der Grenze zum Peak District. Das war die billigste Bleibe, die wir in einem Radius von achtzig Kilometern um unsere Werkstatt finden konnten.
Keiner von uns beiden hatte jemals in einer so ländlichen Gegend gewohnt. Die ersten Monate brachten wir damit zu, mit unserem Hund die Felder, Wälder und Moore um unser neues Zuhause zu erkunden. Archies Lieblingsstrecke führte uns durch ein Tal, das, wie ich später erfuhr, Kleine Schweiz genannt wurde – eine passende Wahl für ein Uhrmacherpaar und dessen Wachhund.
Da wir schon immer von Relikten aus der industriellen Vergangenheit angezogen wurden, schlenderten wir gern an der mittlerweile zu Ausflugszwecken dienenden Strecke der Dampfeisenbahn entlang, die einst Cheshire mit Uttoxeter durch die Wälder von Dimmingsdale am Fluss Churnet entlang verband. Archie schnupperte aufgeregt an den vielen ungewohnten Duftmarkierungen von Dachs, Reh, Wiesel, Eule und Wühlmaus.
Mit den Jahreszeiten wandelten sich auch die Wege. Im Winter drangen die niedrigen Sonnenstrahlen durch die kahlen Zweige alter Eichen und reifbedeckter Hecken. Im Frühling tummelten sich Hasenglöckchen im Schatten der Wälder. Der Herbst brachte so dichten Nebel, dass wir manchmal nur ein paar Meter weit sehen konnten. Ich bemerkte, dass sich die Fauna auf den Feldern veränderte, in welcher Jahreszeit die Kühe auf der Weide waren und wann die Schafe Lämmer bekamen. Ich lernte auf leidvolle Weise, dass wir Archie im Spätwinter und Frühjahr, wenn die Äcker gedüngt wurden, von manchen Flecken unbedingt fernhalten mussten.
In meinem ersten Herbst im Cottage saß ich an einem wichtigen Uhrenprojekt, das zu Weihnachten fertig sein sollte. Es war ein besonders kompliziertes und ehrgeiziges Vorhaben, und während die Tage voranschritten, meine Arbeit aber nicht, sagte ich mir immer wieder: »Das Jahr ist noch nicht vorbei, ich habe noch Zeit.« Doch ich wünschte zunehmend, ich hätte meine Energie in die Erfindung einer Zeitmaschine und nicht in einen Zeitmesser gesteckt.
Eines Nachmittags im Spätherbst sah ich auf und erblickte einen Schwarm Kanadagänse, der lauthals trompetend in einer V-Formation den Himmel überquerte. Als die Wochen ins Land zogen, wurden die Schwärme größer und größer, bis eines Tages, als ich im Wald spazieren ging, der ganze Himmel von schlagenden Flügeln und schreienden Schnäbeln erfüllt war. Archie warf den Kopf hin und her mit einem neugierigen Ausdruck, der vermutlich entweder »Was ist das?« oder »Das sieht lecker aus, sollte ich mir eine schnappen?« bedeutete. Plötzlich erinnerte ich mich daran, wie ich als Kind auf dem »Hintergrund« gestanden und einen ähnlichen Gänseschwarm beobachtet hatte. Einen kurzen, bittersüßen Augenblick lang trafen Vergangenheit und Gegenwart aufeinander.
Auf der Nordhalbkugel sind Gänse, die sich scharen, ein sicheres Anzeichen dafür, dass sich das Jahr dem Ende zuneigt.* Doch da mein Abgabetermin immer näher rückte, wäre es mir lieber gewesen, sie hätten damit aufgehört; es war fast so, als riefen sie mir zu, dass meine Uhr ticke. Auf gewisse Weise behielten sie wie ich die Zeit im Blick.
Archie beobachtet einen Schwarm Kanadagänse.
Wenn man weiß, wo man danach suchen muss, steckt die uns umgebende Natur voller Zeitindikatoren. Sie war unsere erste Uhr, und sie schlägt weiterhin für diejenigen, die sie zu lesen wissen. Weil der Mensch in der Natur lebte und von ihr durchdrungen war, entwickelte er die ersten Zeitmesser. Wenn Uhren ein persönliches Zeitmaß sind, dann war unsere erste Uhr unsere innere. Man könnte sagen, dass die Uhr aus unseren allerersten Bestrebungen hervorging, unser inneres Zeitgefühl mit dem in Einklang zu bringen, was wir in der Welt um uns wahrnahmen.
* * *
Das Artefakt, das man in der Archäologie derzeit für den stärksten Anwärter auf den frühesten bekannten Zeitmesser hält, ist 44 000 Jahre alt. Es wurde 1940 gefunden, als ein Mann, der in der heutigen Republik Südafrika Fledermaus-Guano sammelte, eine zwischen Büschen und Sträuchern verborgene Höhle in den Lebombo-Bergen entdeckte. Sie war mit alten Menschenknochen übersät, von denen einige 90 000 Jahre alt waren. Heute wird sie als Border Cave (Grenzhöhle) bezeichnet und ist einer der bedeutendsten Orte in der Geschichte der Menschheit. Die Border Cave war 120 000 Jahre lang durchgehend von Menschen bewohnt und bot ihnen Schutz im Leben und im Tod. Hoch oben in den Bergen gelegen und mit Blick auf die Ebenen des heutigen Eswatini (bis 2018: Swasiland – Anm. d. Ü.), war sie einfach vor Raubtieren und anderen Menschen zu verteidigen und ein guter Aussichtspunkt, um nach Beute Ausschau zu halten. Archäologen entdeckten dort mehr als 69 000 Artefakte, von denen viele ein umfassendes Verständnis der natürlichen Umgebung und der Auseinandersetzung mit ihr bezeugen:[1] Da waren Stöcke, mit denen nach kohlenhydratreichen Knollenfrüchten gegraben wurde, angespitzte Knochen für Lederarbeiten, Schmuckstücke aus Straußeneiern und Muscheln sowie Betten aus Gräsern, die in mehreren Lagen auf Asche und Kampferzweigen geschichtet wurden, die vermutlich Stechinsekten und Parasiten wie Zecken abwehren sollten.
Der außergewöhnlichste Fund für mich ist jedoch ein kleines Wadenbein eines Pavians, etwa so groß wie ein Zeigefinger, in das neunundzwanzig klar erkennbare Kerben geritzt sind und dessen Oberfläche glatt poliert ist von den Händen seiner Besitzer, die es über viele Jahre hinweg benutzten. Es ist der erste archäologische Beleg eines Zählzeichens in der Menschheitsgeschichte. Der Lebombo-Knochen entstand lange vor dem Aufkommen des Ackerbaus oder bevor es überhaupt irgendein Anzeichen einer jahreszeitlichen Planung gab, und erst recht lange bevor wir eine Vorstellung von so etwas wie einem normalen Arbeitstag entwickelten. Es ist ein Zählstock aus einer Zeit, als es, soweit uns bekannt ist, kaum etwas zu zählen gab.
Was also wollten unsere Vorfahren damit berechnen? Das lässt sich nicht mit Gewissheit sagen, aber es gibt eine wissenschaftliche Theorie. Neben dem Ablauf von Tag und Nacht waren die Mondphasen eine zweite Zeiteinteilung, nach der sich unsere Ahnen vermutlich richteten. Die Markierungen auf dem Knochen bestehen aus dreißig freien Flächen, die sich mit den neunundzwanzig Kerben abwechseln. Ein durchschnittlicher Mondmonat hat etwa 29,5 Tage. Wenn unsere Vorfahren abwechselnd die Kerben und die freien Flächen gezählt hätten, wären sie im Schnitt auf 29,5 Tage gekommen und hätten somit den Mondmonat richtig bestimmt.[2] Einige Wissenschaftler vermuten sogar, dass mit dem Knochen der Menstruationszyklus oder die Dauer einer Schwangerschaft ermittelt werden sollten. Mir gefällt der Gedanke, dass unsere Urur-hoch-unendlich-Großmutter damit die Tage herunterzählte.
Viele alte Kulturen glaubten an einen Zusammenhang zwischen Mond- und Menstruationszyklus, und diese Ansicht hält sich bis zum heutigen Tag. In einer...
Erscheint lt. Verlag | 23.10.2024 |
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Übersetzer | Christiane Wagler |
Zusatzinfo | zahlreiche Abbildungen, 4-farbiger Bildteil |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Hands of Time. A Watchmakers History of the Time |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 2024 • antike uhren • Antiquitäten • Armbanduhr • berühmte uhren • Chronograf • Chronograph • Chronometer • eBooks • Edmund de Waal • geldanlage uhren • Glashütte • Handwerk • Horologie • John Harrison • Luxusuhren • markenuhren • Mechanische Uhren • Neuerscheinung • Nomos • omega seamaster • Rolex • Sammleruhren • Schweizer Uhren • Sonnenuhr • struthers watchmakers • Swatch • Uhrenhandel • Uhrenhandwerk • uhren herren • Uhrenindustrie • Uhren sammeln • wertvolle uhren • Wissenschaftsgeschichte • Zeitmessung |
ISBN-10 | 3-641-32151-4 / 3641321514 |
ISBN-13 | 978-3-641-32151-2 / 9783641321512 |
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