Aufstieg der Abgehängten (eBook)

Wie vernachlässigte Regionen wieder erfolgreich werden können

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024
400 Seiten
Siedler Verlag
978-3-641-21509-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Aufstieg der Abgehängten - Paul Collier
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Warum wir eine neue, lokal orientierte Wirtschaftspolitik brauchen
In Europa und auf der ganzen Welt finden sich Orte, die einst wohlhabend waren und heute abgeschlagen sind: arme Regionen in reichen Ländern, wie das englische South Yorkshire, oder vollends abgehängte Länder wie Sambia und Kolumbien. In seinem augenöffnenden Buch erklärt Bestsellerautor Paul Collier, warum diese Regionen den wirtschaftlichen Anschluss verloren haben und was geschehen muss, damit sie wieder aufholen können. An vielen Beispielen zeigt er, dass gängige marktwirtschaftliche Annahmen überholt sind, Entwicklungschancen verhindern und ökonomische Krisen sogar verstärken. Um wachsende Ungleichheit und ein drohendes globales Armutsproblem abzuwenden, braucht es eine neue Wirtschaftspolitik, die individuelle Lösungen zulässt: Colliers regionalökonomischer Ansatz verdeutlicht, dass sozialer Zusammenhalt, gemeinsame Ziele und schnelles Lernen die Schlüssel für eine zukunftsfähige Gesellschaft sind, die echte Chancen auf Teilhabe für alle ermöglicht. Und er ist so auch eine hoffnungsvolle Vision für eine bessere Welt.

Paul Collier, geboren 1949 in Sheffield, ist einer der wichtigsten Wirtschaftswissenschaftler der Gegenwart. Er war Leiter der Forschungsabteilung der Weltbank und lehrt als Professor für Ökonomie an der Universität Oxford. Seit vielen Jahren forscht er über die ärmsten Länder der Erde und untersucht den Zusammenhang zwischen Armut, Kriegen und Migration. Sein Buch »Die unterste Milliarde« (2008) sorgte international für große Aufmerksamkeit und wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Lionel Gelber Prize und der Corine. Im Siedler Verlag erschienen außerdem »Gefährliche Wahl« (2009), »Der hungrige Planet« (2011), »Exodus« (2014) - eines der wichtigsten Bücher zur Migrationsfrage - sowie »Gestrandet« (2017, mit Alexander Betts). Sein Buch »Sozialer Kapitalismus!« wurde 2019 mit dem Deutschen Wirtschaftsbuchpreis ausgezeichnet. Zuletzt erschien »Das Ende der Gier« (2021, mit John Kay).

1.
Am Wendepunkt


In diesem Buch geht es um Gebiete, die einst wohlhabend waren, aber mittlerweile abgehängt sind. Sie finden sich überall auf der Welt, als verarmte Landstriche selbst in reichen Ländern. So brach die Stahlindustrie, die in South Yorkshire – dem nordenglischen Metropolitanbezirk, in dem meine Heimatstadt Sheffield liegt – jahrhundertelang das Rückgrat der örtlichen Wirtschaft gebildet hatte, in den 1980er-Jahren zusammen. Heute ist die Region die ärmste in ganz England. Auch in Ländern mit mittlerem Einkommen ist das Phänomen weit verbreitet: Die ehemals prosperierende karibische Küstenregion Kolumbiens ist heute viel ärmer als die Boomregion um die Hauptstadt Bogotá. Manchmal sind auch ganze Länder wirtschaftlich abgestiegen. Sambia im südlichen Afrika war einst reicher als Chile, beides bedeutende, miteinander konkurrierende Kupferexporteure; heute beträgt das mittlere Einkommen der Sambier weniger als ein Zehntel desjenigen der Chilenen. Doch nicht nur Sambia insgesamt ist zu einem abgehängten Land geworden, vielmehr gibt es innerhalb seiner Grenzen Regionen wie etwa den Copperbelt, das einst größte Kupferabbaugebiet des Kontinents, die ihrerseits stärker von dem Abwärtstrend erfasst wurden und heute weit hinter der wohlhabenderen Hauptstadt Lusaka hinterherhinken. Als abgehängte Region in einem abgehängten Land ist der Copperbelt doppelt benachteiligt. Ich arbeite in all diesen Gebieten und höre dort immer wieder zwei brennende Fragen: Warum sind wir zurückgefallen? Was können wir tun, um wieder Anschluss zu finden?

Als Ökonom, der eine gründliche Ausbildung in der vorherrschenden angloamerikanischen Denkschule der Wirtschaftswissenschaften erhalten hat, weiß ich, dass es – nach herrschender Lehre – zwei Antworten auf Fragen nach den geeigneten wirtschaftspolitischen Rezepten für Gebiete gibt, die von einem Schock getroffen wurden. Der intellektuelle Ursprung dieser beiden Antworten findet sich in der Chicagoer Schule; einer ihrer bekanntesten Vertreter, Nobelpreisträger Milton Friedman, veranschaulichte eine komplexe Theorie darüber, warum man den Marktkräften vertrauen kann, die Dinge wieder ins Lot zu bringen, durch die Metapher einer Harfe mit gespannten Saiten: Negative Schocks wie etwa der Zusammenbruch einer Bergbauindustrie entsprechen demnach dem Zupfen der Harfensaiten – auch wenn sie eine Zeit lang schwingen, werden sie bald wieder in ihren Anfangszustand zurückkehren. Der Schock wird zu sinkenden Löhnen und Immobilienpreisen führen, dies wird neue Gelegenheiten für gute Geschäfte schaffen, und weil der Markt gierig nach solchen Chancen ist, strömen Gelder herein, was Löhne und Preise wieder nach oben treibt.

Diese Idee war allerdings eine »vorschnelle Gewissheit«, die sich als falsch erwies. Trotzdem wurde sie rasch zur vorherrschenden Lehrmeinung, ich selbst habe diese Theorien am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Universität Oxford gelehrt. In den 1980er-Jahren gehörten sie zu den anerkannten Axiomen der dominierenden wirtschaftswissenschaftlichen Lehre, strikt daran festzuhalten galt als Ausweis rationalen Denkens.

Das britische Treasury (Schatzamt) hat diese Lehre allerdings viel dogmatischer umgesetzt als seine Pendants in allen weiteren großen Volkswirtschaften. Die Finanz- und Wirtschaftsministerien in Kontinentaleuropa oder den USA wurden entweder von anderen Denkschulen beeinflusst oder handelten weniger doktrinär, pragmatischer. (Obgleich Friedman und die Chicagoer Schule während der Präsidentschaft von Ronald Reagan die Wirtschaftspolitik prägten, war der Monetarismus in den USA nie unangefochten.) Zudem verfügt das Treasury über eine außerordentliche Machtfülle, während die abgehängten Regionen Großbritanniens kaum noch eigene Machtbefugnisse besitzen. Ihre Geschichte steht beispielhaft für das, was geschieht, wenn eine bestimmte ökonomische Doktrin im Rahmen höchst ungleicher politischer Machtverhältnisse mit unerbittlicher Konsequenz verfolgt wird: Und genau das verleiht dieser Geschichte globale Relevanz. Sie verdeutlicht, was in vielen anderen hochzentralisierten, aber ärmeren Ländern wie Sambia und Kolumbien, in denen ebenfalls einige Regionen weit zurückgefallen sind, geschah bzw. noch immer geschieht.

Gewissheit ist immer gefährlich – sie führte auch zum Desaster der Vereinigten Staaten im Vietnamkrieg: Das Buch Die Torheit der Regierenden der amerikanischen Historikerin Barbara Tuchman, unter anderem eine scharfe Abrechnung mit dem von 1961 bis 1968 amtierenden US-Verteidigungsminister Robert McNamara, gipfelt in der vernichtenden Bemerkung, er habe »die Gabe der unerschütterlichen Überzeugung« besessen. Seine grenzenlose Selbstüberschätzung basierte auf dem unbedingten Glauben an die Macht der Quantifizierung. McNamara war überzeugt davon, dass die USA den Krieg in Vietnam gewinnen würden, und setzte mehrere Präsidenten so massiv unter Druck, bis sie ihm glaubten.1 Auch das britische Schatzamt besitzt die Gabe der Gewissheit. Unabhängig davon, was mit einer Region geschah, die von einem Schock getroffen wurde, stellte es seine Ideen nie infrage.

Als Teenager las ich Voltaires satirischen Klassiker Candide, in dem die Witzfigur Dr. Pangloss vorkommt, der glaubt, dass alles, was geschieht, immer zum Besten sei und wir in der besten aller möglichen Welten leben. Voltaire nahm die prärevolutionäre katholische Kirche Frankreichs und ihre Gewissheit von der Güte Gottes aufs Korn. Dadurch, dass Dr. Pangloss in Situationen, in denen sein Eingreifen entscheidend hätte sein können, passiv bleibt, ist er wiederholt für Katastrophen verantwortlich, verspürt aber nie den geringsten Zweifel, dass er sich richtig verhalten hat.

Die Überzeugungen Friedmans und des britischen Finanz- und Wirtschaftsministeriums wären einer Voltaire’schen Satire würdig: Ihre Rezepte sind nichts anderes als »Wirtschaftspolitik à la Pangloss«, streng nach dem Motto: Wir sind die Treuhänder des Geldes der Steuerzahler. Es ist unsere Pflicht, jedem spitzfindigen Argumentieren in eigener Sache und jedem Versuch, Marktkräften Fesseln anzulegen, entgegenzutreten. Als Experten wissen wir es besser, und daher ist es unsere Pflicht, unsere Autorität walten zu lassen: Kein Ort verdient irgendeine Sonderbehandlung. Der Markt hat recht. Öffentliche Gelder sollen »ortsblind« sein. Der Markt weiß es am besten, also werden öffentliche Mittel immer dorthin fließen, wo bereits private Investitionen getätigt wurden.

Diese Art von Logik erzeugte eine mustergültige Katastrophe.

Die einzigen Hocheinkommensländer der Welt, in denen dieser gefährliche Unsinn mit geradezu religiösem Eifer umgesetzt wurde, waren England und Wales, die beiden südlicheren der vier Landesteile Großbritanniens.2 Ab der Mitte der 1970er-Jahre straffte das Treasury seine Kontrolle über Gebietskörperschaften, was die absehbare Folge hatte, dass alle englischen und walisischen Regionen hinter London und dessen Umland zurückfielen, als öffentliche Gelder privaten Investitionen nach Südostengland hinterherjagten. Die Gebiete, die sich unter der immer weiter verschärfenden Kontrolle des Schatzamtes befanden, wurden schon bald zu denen mit der größten Ungleichheit in der gesamten westlichen Welt, während das Ministerium Machtbefugnisse erhielt, die eine beispiellose Zentralisierung der Regierungsgewalt ermöglichten.

Diese Divergenz aller anderen Gebiete Südostenglands führte zu wachsenden politischen Spannungen. Im Jahr 2022 erreichte der politische Druck aus den Regionen einen Höhepunkt. Eine an sich marktgläubige konservative britische Regierung räumte offen ein, dass der Markt nicht allerorten gleich segensreich gewirkt habe, und richtete daher öffentlichkeitswirksam ein neues Ministerium für die Angleichung der Lebensverhältnisse (Levelling Up) ein. Wenn der Markt funktioniert hätte, dann gäbe es keine Notwendigkeit, irgendetwas anzugleichen. Der Minister an der Spitze der neuen Institution kündigte ein detailliertes Dreijahresprogramm an, in dessen Rahmen er neue regionale Ausgaben anderer Ministerien koordinieren wollte. Der Minister war ein intelligenter und fähiger Mann, und sein Programm war eindrucksvoll. Durch seine Medienauftritte gelang es ihm, in der breiten Bevölkerung ein Bewusstsein für die brutalen Folgen der früheren Politik des Schatzamtes zu schaffen. Aber als Strategie, um einen Einstellungswandel in Whitehall herbeizuführen, dem Zentrum des Londoner Regierungsbetriebs, war die neue Initiative ein Fehlschlag. Das Treasury sah in dem neuen Ministerium einen weiteren Fall von lokaler und regionaler Einmischung (in seine Angelegenheiten).

Der ultimative Trumpf des Schatzamtes war die Tatsache, dass es das Budget des neuen Ministeriums kontrollierte. Obwohl dieses gegenüber der Bevölkerung als das Flaggschiff-Programm der Regierung angekündigt worden war, belief sich das Budget, welches das Treasury ihm gewährte, erstaunlicherweise auf null. Seine einzige Finanzierungsquelle waren Gelder, die innerhalb jenes Budgets umgeschichtet wurden, welches das Treasury bereits dem Innenministerium zugebilligt hatte und in dem die Mittel für das Levelling...

Erscheint lt. Verlag 16.10.2024
Übersetzer Thorsten Schmidt
Sprache deutsch
Original-Titel Left Behind: A New Economics for Neglected Places
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 2024 • abgehängt • Angus Deaton • Armutsforschung • das ende der gier • der hungrige planet • Deutscher Wirtschaftsbuchpreis • die unterste milliarde • eBooks • Esther Duflo • Exodus • gefährliche wahl • Gestrandete • Kolumbien • lokale wirtschaftspolitik • Neuerscheinung • Peter Frankopan • Sambia • South Yorkshire • sozialer kapitalismus • Wirtschaft • wirtschaftlicher Abstieg • Wirtschaftlicher Aufschwung • Wirtschaftspolitik • Wirtschaftswissenschaft
ISBN-10 3-641-21509-9 / 3641215099
ISBN-13 978-3-641-21509-5 / 9783641215095
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