Wir schon wieder (eBook)

16 jüdische Erzählungen

Dana von Suffrin (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
240 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-02197-6 (ISBN)

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Wir schon wieder -
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Dass es heute in Deutschland wieder eine jüdische Literatur gibt, ist keine Selbstverständlichkeit. Auch wenn vieles die hier versammelten Schriftstellerinnen und Schriftsteller trennt, vereint sie jüdische Sozialisierung, geistige Tradition und ein fragiles Verhältnis zur deutschen Mehrheitsgesellschaft. Am 7. Oktober ist das allen wieder aufs Deutlichste bewusst geworden. In diesem Kontext ist die Idee zu Jüdisch, deutsch etc. entstanden. Dana von Suffrin konnte eine Vielzahl prominenter Beiträgerinnen und Beiträger gewinnen, und so versammeln sich trotz aller Differenzen - politisch, persönlich, künstlerisch - in diesem Band 16 Schriftstellerinnen und Schriftsteller, um in Prosastücken, Erzählungen oder Essays über das zu schreiben, was sie gerade bewegt. Mit Beiträgen von Adriana Altaras, Maxim Biller, Zelda Biller, Yevgeniy Breyger, Joe Fleisch, Marina Frenk, Lena Gorelik, Elfriede Jelinek, Dmitrij Kapitelman, Olga Mannheimer, Eva Menasse, Slata Roschal, Linda Rachel Sabiers, Dana von Suffrin, Ljudmila Ulitzkaja, Dana Vowinckel.

Dana von Suffrin, geboren 1985, studierte in München, Neapel und Jerusalem und promovierte mit einer Arbeit zur Rolle von Wissenschaft und Ideologie im frühen Zionismus. Ihr Romandebüt Otto wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, 2024 erschienen der Roman Nochmal von vorne, der für den Deutschen Buchpreis 2024 nominiert war, und das Hörspiel Unter uns. Sie lebt in München.

Dana von Suffrin, geboren 1985, studierte in München, Neapel und Jerusalem und promovierte mit einer Arbeit zur Rolle von Wissenschaft und Ideologie im frühen Zionismus. Ihr Romandebüt Otto wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, 2024 erschienen der Roman Nochmal von vorne, der für den Deutschen Buchpreis 2024 nominiert war, und das Hörspiel Unter uns. Sie lebt in München.

Adriana Altaras «Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, daß ich so traurig bin …»


Ein Spaziergang am Rhein

Es schneit. Deutschland ein Wintermärchen. Das Jahr hat gerade begonnen, ich gehe am Rhein spazieren und denke natürlich an Heinrich Heine, was sonst?

Die Loreley kann ich von hier aus nicht sehen, aber viele Containerschiffe, die mich entzücken. Woher kommen sie, wohin schippern sie?

Wie wurden kostbare Waren zu Heines Zeiten transportiert? Mit Flößen? Segelbooten oder Dampfschiffen? Und lag auch damals so viel Schnee?

Es liegt selten derart viel Schnee im Rheinland, sagt man mir, ich inszeniere seit 6 Wochen hier an der Oper, es gab schon Hochwasser und meine Laufstrecke war überschwemmt. Mir wird einiges geboten.

Meine Schuhe sind zu dünn für diese Wetterlage, aber ich will noch nicht nachhause, ein bisschen Fazit zum neuen Jahr muss sein. Auch ein paar Vorsätze können nicht schaden.

«Denk ich an Deutschland in der Nacht …» War es damals besser? Wer soll mir das beantworten? Heinrich sicher nicht.

Als ich 1979 nach Berlin kam, war ich 19. Ich kannte niemanden und ging zu den jüdischen Studenten in die Pestalozzistraße. Im Hinterhof, direkt bei der Synagoge, trafen wir uns und zum ersten Mal lernte ich Menschen kennen, die eine ähnliche Biografie hatten wie ich. Ihre Eltern kamen aus Ungarn, Polen, der Tschechoslowakei. Damals hieß sie so, ich selbst kam ja auch noch aus Jugoslawien. Wir sprachen zwar deutsch miteinander, denn wir waren allesamt auf deutsche Schulen gegangen, aber Jiddisch, Polnisch, Serbokroatisch oder Tschechisch konnten wir auch.

Wir hatten uns einiges zu erzählen, es ging laut zu. Wer hatte sein Judentum ausgelebt, wer es eher versteckt? Wir begannen zu verstehen, wie prägend die Verfolgungsgeschichten unserer Eltern für uns waren. Nach den emotionalen Nachmittagen gingen wir abends tanzen, bis spät in die Nacht. Es tat uns allen gut.

Einige planten, nach Israel auszuwandern, andere waren sich sicher, dass ein Leben in Deutschland möglich, ja, sogar notwendig sei.

Dazu gehörte ich.

Möglicherweise lag es daran, dass meine Eltern keine ausgemachten Zionisten waren, unbedingt in Europa bleiben wollten, nachdem man sie schmählichst aus der kommunistischen Partei Jugoslawiens geworfen hatte.

Dabei konnte ich sie mir gut in einer sozialistischen Kibbuzgemeinschaft vorstellen, mit Kinderhaus und gemeinsamer Küche …

Es kam anders. Sie bemühten sich um die italienische Staatsbürgerschaft und bekamen die deutsche. Schicksal, liebe Loreley?

In Deutschland wurden sie erst zu «richtigen» Juden, denn sie wurden vor allem als solche wahrgenommen. Es war zum Teil der Blick von außen, der sie ihrer Glaubensgemeinschaft zutrieb. Aber sicher auch der Wunsch nach Zugehörigkeit. Infolgedessen gründeten sie eine jüdische Gemeinde, bauten eine Synagoge und betrieben Versöhnung.

Sie assimilierten sich, wo sie nur konnten, ich, ihre Tochter, sah ihnen zu und lernte.

Natürlich vermissten meine Eltern ihre Heimat.

Mein Vater sehnte sich nach Split, seinem Geburtsort. Er war ein recht typischer sephardischer Jude aus einer kinderreichen, armen Familie, der jüngste von 6 Brüdern, wuchs im Ghetto auf, kannte jeden und jeder kannte ihn, die Nachmittage verbrachte er in Bačvice, dem Badestrand von Split, spielte Pizzicin, eine Art Volleyball im Wasser.

Man sprach zuhause Ladino, die jüdischen Bräuche wurden mit großer Lässigkeit betrieben, die Bourekas schmeckten hervorragend. Die glückliche Kindheit endete mit dem Brand der Synagoge, der kleine Jakob rettete aus den Flammen die Thora, so geht die Familensaga. Er studierte Medizin, zu Kriegsbeginn ging er mit seinem älteren Bruder Silvio zu den Partisanen.

Die kleine sephardische Synagoge wurde irgendwie gerettet, ich habe sie öfters besucht und konnte mir die Bar Mitzvah meines Vaters dort sehr gut vorstellen.

Meine Mutter, Tochter aus großbürgerlichem Haus, wuchs in Zagreb auf, man sprach nur deutsch, und als die Deutschen kamen, floh man zu spät. Die Folge war das Konzentrationslager auf der Insel Rab.

Sie überlebte, um fortan eine glühende Kommunistin zu werden und in Jugoslawien an der sozialistischen Idee Marschall Titos mitzuarbeiten.

Warum erzähle ich mir diese Geschichte immer wieder? Weil es eben auch meine Geschichte ist, als Tochter Überlebender. Als es so weit war und ich in der ersten Reihe stand, erwachsen und berufstätig, war ich, was Assimilation betrifft, ein Musterbeispiel.

Ich war Schauspielerin geworden, aber meine jüdische Herkunft spielte keine Rolle.

Ich gab mich als Italienerin aus, und man glaubte mir sofort.

Nur ich glaubte mir zunehmend weniger. Also schrieb ich ein Stück mit dem schönen Titel Jonteff und erzählte von meiner jüdischen Familie. Es schlug ein wie eine Bombe. Die zweite Generation meldete sich zu Wort! Die Zuschauer waren irritiert: Würde das Thema Juden etwa wieder aufs Tapet gebracht? Es waren doch so schöne friedliche Jahre gewesen mit Heinz Rühmann und Peter Alexander. Nun gut, Hänschen Rosenthal war Jude, aber der machte daraus kein Gewese. Jetzt erzählte eine junge Frau von Übertragung und der Weitergabe von Traumata. Das war mühsam. Nahm das denn nie ein Ende?

Ich spürte diese Sorge und war vorsichtig, outete mich zwar als Jüdin, aber ich tat es mit sehr viel Humor und Charme. Man sollte mich mögen, man sollte uns Juden mögen, wir würden nicht weiter stören.

Die Sonne glitzert auf dem Rhein. Der Schnee ist erstaunlicherweise nicht geschmolzen. Kinder und Erwachsene tummeln sich am Ufer des Flusses. So viel Schnee! Ein Wunder.

Meine Füße frieren nicht, das ist gut, weil ich noch lange nicht mit dem Denken fertig bin.

Ich bin keine Ausnahme. Ich bin das Gegenteil einer Ausnahme. Heinrich Heine hatte sich assimiliert und gleichzeitig darunter gelitten. Er hatte sich sogar taufen lassen und war dennoch Jude geblieben. So ist das eben.

Jacques Offenbach, nicht in Düsseldorf wie Heine, sondern etwas später in Köln geboren, wollte auch unbedingt dazugehören.

Beiden war es nicht gelungen. Auch nicht in ihrer zweiten Heimat Frankreich. Sie lebten in Paris, aber ihre Sehnsucht war Deutschland.

Als Sehnsuchtsland ist Deutschland ideal.

Mein Freund Robbi, ebenfalls Rheinländer, machte Aliya und zog viele Jahre nach Heinrich und Jacques von Düsseldorf nach Tel Aviv. Er liebt Israel, aber er fragt mich im Winter immer wieder, ob es gerade schneit in Deutschland. Im Frühling, ob die Spargelernte dieses Jahr gut ausgefallen sei. Er verfolgt die Ergebnisse von Fortuna Düsseldorf, kein Fußballverein in Israel hat ihn jemals so begeistert.

Der Schnee am Rhein würde ihm heute sicher gefallen. Ich muss ihm unbedingt ein Foto schicken!

Ein paar Karnevals-Jecken kommen mir entgegen. Die wilde Zeit rückt näher.

Ich liebe den Karneval. Es gab eine Zeit, da hatte ich in meine Schauspielverträge die Klausel reinschreiben lassen, dass ich von Weiberfastnacht bis Aschermittwoch freigestellt werden müsse. Sonst würde ich gar nicht erst unterschreiben.

Eine Region im Ausnahmezustand, Menschenmassen verkleidet, tanzend, singend und lachend. Verzückung und Absturz so nah beieinander … Ich als Drama Queen bin für so etwas mehr als zugänglich. Sollte ich jemals nach Köln ziehen, werde ich Mitglied im «Kölsche Kippa Köpp e.V.», dem einzigen jüdischen Karnevalsverein in Deutschland!

Heine, Offenbach, Robbi, alle hatten sie Heimweh nach Deutschland.

Heimweh ist ein merkwürdiges Gefühl. Ein schwer zu greifender Schmerz. Kaum glaubt man, das Heimweh überwunden zu haben, hört man eine vertraute Melodie, ein Geruch zieht an der Nase vorbei und schon steckt man wieder mittendrin!

«Längizyti» nennen es die Berner Schweizer. Je länger die Zeit vergeht, umso anhaltender ist das Heimweh. So übersetze ich es mir. Wahrscheinlich ist der Spruch «Die Zeit heilt alle Wunden» ohnehin nur eine Mär …

Nachdem ich mich damals als Jüdin geoutet hatte, begann eine neue Ära. Sowohl für mich als auch für mein Publikum.

Ich war nicht mehr die kleine, lustige Italienerin. Ich war zur kleinen, nervigen Jüdin geworden. Lustig war ich zwar immer noch, aber das Lachen blieb den meisten vermutlich im Halse stecken.

Mein Lieblingswitz: Moses und Aaron erzählen sich Witze über Auschwitz, sie lachen wie irre. Kommt Gott vorbei, hört die beiden lachen. «Wie könnt ihr Witze machen über Auschwitz?», fragt er empört.

«Das verstehst du nicht», antworten ihm die beiden. «Du warst ja nicht da!»

Ich könnte mich totlachen!

Ich erlangte sehr bald Berühmtheit als öffentliche Jüdin, wurde zu Talkshows eingeladen, berichtete heiter von unseren Traditionen und war sehr umgänglich.

Einmal allerdings geriet ich zwischen die Fronten. Als die Beschneidungsdebatte ihren Höhepunkt erreicht hatte, saß ich bester Laune bei Markus Lanz. Dieser hatte mich gebeten, fröhlich zu bleiben, es habe schon zu viele ernste Auseinandersetzungen diesbezüglich gegeben. Natürlich! Natürlich, kein Problem, versicherte ich ihm. Ich unterhielt also die Gäste mit der Bris meiner Söhne, beschrieb launig das Abschneiden der Vorhaut und merkte erst zu spät, dass die Stimmung gekippt war und Frau von der Leyen sich empörte über eine derart mittelalterliche Praxis. Herr Lanz hatte die Seiten gewechselt und befand: mir fehle der nötige Ernst. Ich verkörperte auf einmal die gewissenlose Mutter, die Gäste stöhnten und meine Schlagfertigkeit verpuffte, im Gegenteil,...

Erscheint lt. Verlag 13.8.2024
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 7. Oktober • 7. Oktober 2023 • Anthologie • Antisemitismus • Bücher über jüdisches Leben • Buch neu 2024 • Debattenbuch • Deutschland • Deutschsprachige Gegenwartsliteratur • Deutschsprachige Literatur • Diaspora • Erinnerungskultur • Essay • Ferienlektüre • Fremdenfeindlichkeit • Gesellschaft • Heimat • Herkunft • Holocaust • Identität • Israel • Judenhass • Juden in Deutschland • Judentum in Deutschland • jüdische Autoren • jüdische Autorin • Jüdischer Autor • Jüdisches Leben • Jüdisches Leben in Deutschland • Kurzgeschichte • Literatur • Literatur neu • Literatur und Gesellschaft • Literatur und Identität • Massaker • Meinungsaustausch • Nahostkonflikt • Nobelpreisträgerin • Nochmal von vorne • Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2024 • Religion • Russland • Sowjetunion • Streit • Terrorismus • Tradition • Urlaubslektüre • Zionismus • Zusammenhalt
ISBN-10 3-644-02197-X / 364402197X
ISBN-13 978-3-644-02197-6 / 9783644021976
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