Vision oder Fission? -  Richard Bercanay

Vision oder Fission? (eBook)

Die Dauerkrise der Sozialdemokratie - Die SPD unter Martin Schulz und Andrea Nahles. 3. aktualisierte und erweiterte Auflage
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2024 | 1. Auflage
288 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7597-7336-4 (ISBN)
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Im September 2017 erlebte die SPD in den Worten ihres seinerzeitigen Vorsitzenden Martin Schulz eine »krachende Niederlage«. Das Ergebnis der Sozialdemokraten war das schlechteste in der Geschichte der Partei seit Entstehen der Bundesrepublik Deutschland. Der Vorsitzende verkündete noch am Wahlabend, daß die große Koalition mit diesem Ergebnis beendet sei. Dies führte zu Erleichterung und Zustimmung in der SPD. Doch nach dem Scheitern der Jamaika-Koalition zwang der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die SPD abermals in eine ungeliebte große Koalition. Dies führte am Ende zum Rücktritt Schulz' und zur Wahl von Andrea Nahles zur ersten Vorsitzenden der SPD. Nahles versprach der Parteibasis unter Beweis zu stellen, daß die Erneuerung der Partei auch in der Regierung gelingen könne. Nach desaströsen Ergebnissen am Wahlsonntag im Mai 2019 endete jedoch bereits nach rund vierzehn Monaten die Ära Nahles. Nun mußte sich die Partei erneut auf die Suche nach einem neuen Vorsitzenden machen - und schlug hierbei eine neue Strategie ein. Dieses Buch umfaßt die Höhen und Tiefen der SPD während der Ären Martin Schulz' und Andrea Nahles' nach. Dabei werden auch Fehler und Alternativen diskutiert.

Richard Bercanay, geboren 1968 in Aachen, studierte Politikwissenschaften und Soziologie. Seit seiner Jugend schreibt er Krimis, die jedoch nur einem kleinen Leserkreis zugänglich waren. 2010 veröffentlicht er mit »Spuren im Schnee« sein erstes Buch. Neben Krimis verfaßt er auch Science-Fiction-Romane, deren Veröffentlichung ebenso geplant ist wie die weiterer Krimis. Bereits der Krimi »Der Minister und die Katze« lehnte sich an eine wahre Begebenheit im politischen Raum an. Mit »Sozialdemokratie im Abbruch« und »Vision oder Fission?« befaßt er sich mit der Geschichte und der Zukunft der Sozialdemokratie in Gestalt politischer Sachbücher.

1. Der Rückblick


Weil bereits im Buch »Sozialdemokratie im Abbruch« eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Entwicklung der SPD seit der Regierungszeit Gerhard Schröders stattgefunden hat, soll hier nur ein zusammenfassender Rückblick die für dieses Buch wichtigsten Ereignisse dieses Zeitraums zusammenfassen. Dabei wird das wesentliche Gewicht auf die beiden rot-grünen Wahlperioden der Regierung Schröder gelegt, in denen der politische Grundstein für die Debatten gelegt wird, die die SPD seit dem begleiten sollten, nämlich der programmatische Kurswechsel der Partei und das neoliberale Reformprogramm der Agenda 2010.

Der Regierungswechsel


Im Verlauf des Jahres 1998 zeichnete sich ab, daß die Chancen Helmut Kohls, weitere vier Jahre lang Kanzler zu sein, schwanden. Nach sechzehn Jahren Regierungszeit Kohls waren die Menschen in Deutschland des Kanzlers überdrüssig geworden und wünschten sich einen Wechsel in der Politik.

Innerhalb der SPD standen zu der Zeit zwei mögliche Kanzlerkandidaten zur Debatte, nämlich der Parteichef Oskar Lafontaine und der niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Schröder. Letzterem gelang mit der Festlegung, daß er nur dann als Kanzlerkandidat antreten würde, wenn er bei der Landtagswahl in Niedersachsen im März 1998 nicht mehr als zwei Prozentpunkte gegenüber dem letzten Wahlergebnis verlieren würde, eine Vorentscheidung zu treffen.1 Hiermit setzte er auch Oskar Lafontaine unter Druck, der im Falle einer Wahlniederlage Schröders als »übriggebliebener« Spitzenkandidat angeschlagen in den Wahlkampf gehen würde.

Nach dem Wahlsieg Gerhard Schröders in Niedersachsen trug Oskar Lafontaine ihm noch am Wahlabend die Kanzlerkandidatur an. Gerhard Schröder wurde zum offiziellen Kanzlerkandidaten der SPD auf dem folgenden Wahlparteitag mit 93.4 Prozent der Delegiertenstimmen gewählt.

Im Vorfeld der Bundestagswahl wirkte die CDU verbraucht. Eine gewisse Rolle spielte zudem, daß Helmut Kohl im Jahr 1998 noch einmal als Spitzenkandidat zur Bundestagswahl antreten wollte und den »Kronprinzen« Wolfgang Schäuble noch einmal in die zweite Reihe stellte. Dabei gab es durchaus Einzelne, die die Auffassung vertraten, daß Kohl die Bundestagswahl nicht mehr gewinnen könne und es angezeigt sei, Wolfgang Schäuble noch vor der Bundestagswahl zum Kanzlerkandidaten zu machen. In der ihm eigenen Art setzte jedoch Helmut Kohl dieser Debatte ein Ende, indem er sie für erledigt erklärte und seinen Anspruch bekräftigte, noch einmal für die vollen vier Jahre zu kandidieren.

War die SPD im Umfeld der Ablösung Rudolf Scharpings als Parteivorsitzender durch Oskar Lafontaine zerstritten, gelang es letzterem in der Zeit bis zur Bundestagswahl die Partei zu einen und nach außen ein Bild der Ge- und Entschlossenheit zu erzeugen. Daß es im Herbst 1998 zu einem Wahlsieg kam, war ganz wesentlich dem Umstand zu verdanken, daß Oskar Lafontaine wieder Ruhe in die Partei brachte; dies unter Hintanstellung seiner eigenen Ambitionen und Interessen. Nach dem Wahlsieg Schröders in Niedersachsen am 1. März 1998 akzeptierte Lafontaine ohne zu zögern dessen ersten Zugriff auf die Kanzlerkandidatur. Und so wurde Gerhard Schröder zum Kanzlerkandidaten der SPD für die Bundestagswahl 1998 ausgerufen.

Schröder schnitt bei der Landtagswahl in Niedersachsen 1998 um 3.6 Prozentpunkte besser ab als im Jahr 1994. Anderenfalls hätte er auf die Kandidatur verzichtet. Möglicherweise wäre dann Oskar Lafontaine Kanzlerkandidat geworden, allerdings zugleich mit dem Makel behaftet gewesen, daß er für den Wahlverlierer in Niedersachsen eingetreten sei. Insofern hatte Schröder mit seiner Festlegung bereits die Weichen gestellt, daß entweder er es würde oder aber jemand anderes bereits politisch beschädigt in die Kanzlerkandidatur gestartet wäre. Somit war Schröders Strategie, die Niedersachsen-Wahl zu einer Art Vorwahl für die Bundestagswahl zu machen, die auch von den Medien aufgegriffen wurde, erfolgreich gewesen.2

In der Folge traf Schröder einige Entscheidungen, die als richtungsweisend gewertet werden durften und die kritische Beobachter bereits im Vorfeld der Bundestagswahl darauf aufmerksam machen konnten, daß der Politikwechsel nach einem Wahlsieg von rot-grün anders ausfallen könnte als erwartet.

Statt des Sozialexperten Rudolf Dreßler machte Gerhard Schröder den IG-Metaller Walter Riester, einen sogenannten »Modernisierer«, zum Schattenarbeitsminister und berief den Unternehmer Jost Stollmann als Schattenwirtschaftsminister. Stollmann irritierte die Partei während des Wahlkampfes mit zahlreichen Aussagen unter anderem zum Bündnis für Arbeit. Nach der Wahl verzichtete Stollmann wegen inhaltlicher Differenzen zum Koalitionsvertrag und des Zuschnittes seines Ministeriums auf das Amt des Wirtschaftsministers. An seine Stelle trat der ebenfalls parteilose Werner Müller.3 Gerhard Schröder legte bereits im Wahlkampf Wert auf sei Image als »Modernisierer« und wollte mit diesen Personalien die entsprechenden politischen Signale setzen.

Tabelle 1: Bundestagswahl 19984

SPD CDU/CSU GRÜ FDP PDS
1998 40.9 35.1 6.7 5.2 5.1
1994 36.4 41.5 7.3 6.9 4.4

Finanzminister wurde Oskar Lafontaine, der zugleich Parteichef blieb, was eine gewisse Spannung bezüglich der Funktionen mit sich brachte. Denn als Parteichef unterlag Lafontaine im Kabinett der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers Gerhard Schröder. Ohnehin war das Verhältnis zwischen Oskar Lafontaine und Gerhard Schröder bereits gestört, was nach einigen Querelen bereits im März 1999 dazu führte, daß Oskar Lafontaine von allen Ämtern zurücktrat. Tags zuvor hatte Gerhard Schröder erklärt, daß »man ein Land nicht gegen die Wirtschaft regieren könne und eine Politik gegen die Wirtschaft mit ihm nicht zu machen sei«.5

Mit dieser Festlegung hatte Gerhard Schröder bereits das Wesentliche zu dem politischen Kurs gesagt, den er verfolgen wollte. Der Rücktritt Lafontaines war einer der Höhepunkte im Konflikt zwischen den sogenannten »Modernisierern« und »Traditionalisten« in der Partei. Diese Unterscheidung ging in erster Linie von den sogenannten »Modernisierern« der Partei aus, die sich hiermit programmatisch in Richtung eines »sozialdemokratischen Neoliberalismus« im Sinne Tony Blairs orientieren wollten.

Nachfolger Oskar Lafontaines als Parteichef wurde Gerhard Schröder selbst. Im Amt des Finanzministers folgte der ehemalige hessische Ministerpräsident Hans Eichel nach, der im Frühjahr 1999 die Landtagswahl in Hessen gegen Roland Koch von der CDU verloren hatte. Zuvor hatte die CDU/CSU eine Unterschriftenaktion gegen die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft begonnen, die auch von dem besonders konservativen CDU-Landesverband in Hessen im Wahlkampf durchgeführt wurde. Daß im Rahmen der auch in der Union umstrittenen Unterschriftenaktion ausländerfeindliche Ressentiments geweckt wurden, zeigte sich besonders an einer Frage, die an den Unterschriftenständen immer wieder gestellt wurde: »Sind hier die Listen, auf denen man gegen Ausländer unterschreiben kann?«6 Auch die Wahlniederlage in Hessen führte im Ergebnis dazu, daß rot-grün ihre Pläne zur Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft änderte und einen Kompromiß mit der Union schloß.

Bundesminister der ersten Regierung Schröder:7

Gerhard Schröder [SPD] – Bundeskanzler

Joseph (»Joschka«) Fischer [GRÜ] – Bundesminister des Auswärtigen

Otto Schily [SPD] – Bundesminister des Innern

Herta Däubler-Gmelin [SPD] – Bundesministerin der Justiz

Oskar Lafontaine [SPD] – Bundesminister der Finanzen

Werner Müller [parteilos, für die SPD] – Bundesminister für Wirtschaft und Technologie

Karl-Heinz Funke [SPD] – Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten

Walter Riester [SPD] – Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung

Rudolf Scharping [SPD] – Bundesminister der Verteidigung

Christine Bergmann [SPD] – Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Andrea Fischer [GRÜ] – Bundesministerin für Gesundheit

Franz Müntefering [SPD] – Bundesminister für Verkehr, Bauund Wohnungswesen

Jürgen Trittin [GRÜ] – Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

Edelgard Bulmahn [SPD] – Bundesministerin für Bildung und Forschung

Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD] – Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und...

Erscheint lt. Verlag 10.6.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
ISBN-10 3-7597-7336-2 / 3759773362
ISBN-13 978-3-7597-7336-4 / 9783759773364
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