Schulden, Schuldenberatung und Sozialstaat -

Schulden, Schuldenberatung und Sozialstaat (eBook)

Eine international vergleichende Reflexion
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
187 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8246-3 (ISBN)
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Schuldenberatung ist ein Angebot zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ungleichheit. Fachliches Selbstverständnis und Arbeitsweise sind vom jeweiligen nationalstaatlichen Verbraucherinsolvenzverfahren abhängig: Es legt die Bedingungen der Entschuldung fest - ob und wie ein Schuldenerlass möglich ist. Rechtliche und moralische Aspekte zu Verschuldung und Schuld können sich dabei vermischen. Die Frage, ob eine Person »entschuldungswürdig« ist, steht oftmals im Mittelpunkt politischer Debatten zum Umgang mit dem sozialen Problem der Ver- und Überschuldung. Wie Wohlfahrts- und Insolvenzregime die Praxis der Schuldenberatung als Soziale Arbeit prägen und die Chancen auf Schuldenfreiheit bestimmen, zeigt der Band mit Blick auf die Länder Deutschland, Großbritannien, Schweden und die USA.

Mattes, Christoph, Dr. phil., Jg. 1972, Studium Soziale Arbeit (FH), Betriebswirtschaft (VWA) und Erziehungswissenschaft. Dozent für Armut und Lebenslagenanalyse an der Hochschule für Soziale Arbeit der FHNW. Supervisor und Organisationsentwickler. Forschungsschwerpunkte: Ver- und Überschuldung, Schuldenberatung und Sozialplanung. Simon Rosenkranz, M.A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Schuldnerfachberatungszentrum an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Arbeitsschwerpunkte: Schuldenberatung in Deutschland, Digitalisierung in der Schuldenberatung. Prof. Dr. Matthias D. Witte, Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Sozialpädagogik, Johannes-Gutenberg-Universität, Mainz.

Private Verschuldung im europäischen Vergleich


Stefan Angel

1.Einleitung


Schulden aufzunehmen ist Teil des ökonomischen Handlungsrepertoires von privaten Haushalten, sei es beispielsweise für längerfristige Investitionen oder zur Überbrückung temporärer Liquiditätsengpässe. Die Höhe der Verschuldung und die Häufigkeit von Schulden unter den privaten Haushalten variieren jedoch stark in Europa.

Dieser Beitrag befasst sich mit zentralen Eckdaten zur Verschuldung und Überschuldung der privaten Haushalte in Europa im Quer- und Längsschnitt. Für beide Phänomene werden Gemeinsamkeiten zwischen den europäischen Ländern dargestellt und Erklärungsfaktoren für Unterschiede besprochen. Der Fokus liegt – ökonomisch gesprochen – auf der Nachfrageseite, also der Beschreibung der Situation der Haushalte, nicht auf der Beschreibung von länderspezifischen Merkmalen des kreditgebenden Angebotssektors (siehe dazu z. B. Kapitel 3 in Ferretti/Vandone 2019).

Daten zu Schulden der privaten Haushalte stammen einerseits aus nationalen Aggregaten. Dazu zählen etwa die nationalen Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR) für das Bruttoinlandsprodukt sowie Kapitalmarktdaten (EMF Hypostat). Andererseits fungieren Mikrodaten aus Befragungen repräsentativer Haushaltsstichproben als Datenquelle. Beispiele für regelmäßig aktualisierte Befragungsdaten mit hohen Qualitätsstandards sind insbesondere EU-SILC (seit 2004 jährlich erhoben von den nationalen Statistikämtern; koordiniert und harmonisiert durch Eurostat) sowie der HFCS (bisher vier Befragungswellen 2010, 2014, 2017, 2021 koordiniert durch die Europäische Zentralbank, erhoben von den Nationalbanken der Länder der Eurozone). Diese anonymisierten Mikrodaten beinhalten reichhaltige Informationen zu Häufigkeit und Verteilung von Schulden, zur finanziellen Situation der Haushalte sowie zu zahlreichen soziodemografischen Merkmalen. In diesem Beitrag wird bei empirischen Analysen auf diese vier Datenquellen zurückgegriffen (VGR, EMF, SILC, HFCS), die für Forschungszwecke frei zugänglich sind.

Der Beitrag ist wie folgt aufgebaut: Abschnitt 2 enthält einen Überblick über die Verschuldung insgesamt sowie nach bestimmten soziodemografischen Merkmalen der Haushalte. Vorhandene Statistiken werden sowohl für den zuletzt verfügbaren Jahresquerschnitt als auch für die letzten Jahrzehnte im Zeitverlauf dargestellt und interpretiert. Abschließend werden die in der Literatur analysierten Gründe für Länderunterschiede besprochen. In Abschnitt 3 erfolgen diese Schritte analog für ausgewählte Überschuldungsindikatoren. Der Beitrag schließt mit einer kurzen Conclusio.

2.Verschuldung im europäischen Vergleich


Welche Verschuldungsquoten und -volumina wir in unterschiedlichen Ländern letztendlich beobachten, hängt sowohl von der Nachfrage- als auch von der Angebotsseite ab.

Zur Erklärung der Nachfrage wird oftmals auf die sogenannte ökonomische Lebenszyklustheorie zurückgegriffen (Ando/Modigliani 1963; Modigliani 1986; Modigliani/Brumberg 1954). Die zentralen Erklärungsfaktoren in dieser Theorie sind das Alter und damit zusammenhängend die Einnahmen- und Ausgabenstruktur einer Person bzw. eines Haushalts. Gemäß der Lebenszyklushypothese (LZH) ist der ökonomische Nutzen eines Individuums von seinem aggregierten Konsum in gegenwärtigen und zukünftigen Perioden abhängig. Eine Person oder ein Haushalt maximiert ihren/seinen Nutzen unter Berücksichtigung der Summe aller gegenwärtigen und erwarteten zukünftigen Einkünfte sowie des gegenwärtigen Nettovermögens (Vermögen minus Verbindlichkeiten). Aus dem LZH-Modell kann die Hypothese abgeleitet werden, dass in Zeiten, in denen das aktuelle Einkommen in Bezug auf das Durchschnittseinkommen des gesamten Lebenszyklus gering ist, der aktuelle Konsum mit Krediten finanziert wird. Weil das aktuelle Einkommen zumeist mit fortschreitendem Alter (bis zur Pensionierung) ansteigt, ist eine hohe bzw. häufigere Verschuldung (im Verhältnis zum Einkommen) in jüngeren Lebensjahren zu erwarten. Diese Schulden werden im mittleren Alter zurückgezahlt, wenn das laufende Einkommen über dem gesamten Durchschnittseinkommen liegt. Nach der Pensionierung wird hingegen gespartes Vermögen de-akkumuliert. Auf die theoretischen Aspekte der Angebotsseite der Verschuldung wird in der Diskussion von Entwicklungen über die Zeit (Abschnitt 2.2) genauer eingegangen.

2.1Status quo


Abbildung 1 und Tabelle 1 zeigen, dass in den meisten Ländern Europas mehr als die Hälfte der Bevölkerung keine Schulden hat. Relativ hohe Verschuldungsquoten finden sich in skandinavischen Ländern (Abbildung 2), während die meisten osteuropäischen Staaten niedrige Verschuldungsquoten aufweisen. Ordnet man die Haushalte nach der Höhe ihrer Schulden (Tabelle 1), inklusive Haushalte ohne Schulden, ergibt sich, dass der Medianhaushalt (wo 50 % niedrigere und 50 % höhere Schulden als dieser Haushalt haben) nur in fünf der 21 HFCS-Länder (Niederlande, Finnland, Zypern, Luxemburg und Irland) überhaupt einen positiven Schuldenstand aufweist.

Abbildung 1:Haushalte mit Schulden, in Prozent aller Haushalte, 2021

Quelle: HFCS 2021; European Central Bank 2023b; eigene Darstellung.

Abbildung 2:Summe der Haushaltsschulden, konsolidiert inklusive Private Organisationen ohne Erwerbszweck, in % des BIP 2021

Quelle: https://ec.europa.eu/eurostat/de/web/main/data/database; Indikator TIPSPD22; eigene Darstellung.

Der obere Rand der Schuldenverteilung weist zudem eine große Streuung zwischen den Ländern auf. Während in Kroatien die obersten 5 Prozent aller Haushalte mit 23.000 Euro oder mehr verschuldet sind, liegt der entsprechende Wert in Luxemburg bei mindestens 521.000 Euro. Ein Vergleich mit der Verteilung der Nettovermögen weist einen Wertebereich von 154.000 Euro oder mehr (Lettland) bis 2.647.000 Euro (Luxemburg) oder mehr für die obersten 5 Prozent aller Haushalte auf. Schulden sind damit deutlich weniger ungleich verteilt als das Nettovermögen (Tabelle 1, Spalte b).

Euro, tausend

(a) Schulden nach Schuldenperzentil

(b) Nettovermögen nach Nettovermögensperzentil

Perzentil 50

P 60

P 95

P 99

Perzentil 95

Österreich

0

...

Erscheint lt. Verlag 10.4.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik Sozialpädagogik
ISBN-10 3-7799-8246-3 / 3779982463
ISBN-13 978-3-7799-8246-3 / 9783779982463
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