Einführung in die Heilpädagogik für ErzieherInnen (eBook)
204 Seiten
Ernst Reinhardt Verlag
978-3-497-61871-2 (ISBN)
Prof.in Dr. Stefanie Kuhlenkamp lehrt Inklusion und Soziale Teilhabe an der Fachhochschule Dortmund; langjährige praktische Tätigkeit in der psychomotorischen Entwicklungsförderung von Kindern und Jugendlichen.Beate U. M. Strobel, Dipl.-Psychologin, Zusatzausbildung in Klientzentrierter Gesprächspsychotherapie, war viele Jahre Dozentin an einer Fachakademie für Sozialpädagogik in München.
Prof.in Dr. Stefanie Kuhlenkamp lehrt Inklusion und Soziale Teilhabe an der Fachhochschule Dortmund; langjährige praktische Tätigkeit in der psychomotorischen Entwicklungsförderung von Kindern und Jugendlichen.Beate U. M. Strobel, Dipl.-Psychologin, Zusatzausbildung in Klientzentrierter Gesprächspsychotherapie, war viele Jahre Dozentin an einer Fachakademie für Sozialpädagogik in München.
Inhalt
Vorwort zur 6. Auflage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Einleitung: Der Beruf der Erzieherin -
Herausforderung oder Überforderung?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
1 Heilpädagogische Grundannahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
1.1 Wozu dient Erzieherinnen heilpädagogisches Grundwissen?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
12
1.2 Was verstehen wir unter Heilpädagogik?. . . . . . . . . . . . . . . . 14
1.3 Wann sprechen wir von Behinderung?. . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
1.4 Inklusion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
2 Zielgruppen heilpädagogischen Arbeitens. . . . . . . . . . . . . . . . . 28
2.1 Kinder und Jugendliche mit Verhaltensauffälligkeiten. . . . . 28
2.1.1 Externalisierende Verhaltensauffälligkeiten: Aggression,
Hyperaktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung. . . . . . . . . .
39
2.1.2 Internalisierende Verhaltensauffälligkeiten: Angst, Trauer,
Depression, Essstörungen, Enuresis und Enkopresis. . . . . . 53
2.1.3 Sozial unreife Verhaltensauffälligkeiten:
Konzentrationsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75
2.1.4 Sozialisiert-delinquente Verhaltensauffälligkeiten:
Lügen, Stehlen, Weglaufen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
2.1.5 Es muss nicht immer gleich Therapie sein! -
Heilpädagogisches Handeln bei Verhaltensauffälligkeiten. .
84
2.2 Kinder- und Jugendliche mit sexuellen
Missbrauchserfahrungen
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
2.3 Kinder und Jugendliche mit motorischen und
körperlichen Beeinträchtigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
2.3.1 Körperbehinderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
2.3.2 Chronische Erkrankungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
2.4 Kinder und Jugendliche mit Förderbedarf
im Bereich Lernen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
2.5 Kinder und Jugendliche mit kognitiven /
geistigen Beeinträchtigungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
2.6 Kinder und Jugendliche mit Wahrnehmungsstörungen. . . 129
2.7 Kinder mit einer Hochbegabung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
2.8 Kinder und Jugendliche im Autismus-Spektrum . . . . . . . . 140
2.9 Kinder und Jugendliche mit Förderbedarf im
Bereich Sprache, Sprechen und Kommunikation . . . . . . . . 150
2.10 Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen
der Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160
2.10.1 Kinder und Jugendliche mit einer Beeinträchtigung
des Hörens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
2.10.2 Kinder und Jugendliche mit einer Beeinträchtigung
des Sehens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
3 Hilfen für Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen
sowie deren Familien. . . . . . . . . . . . . . . . 173
3.1 Interdisziplinäre Frühförderung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
3.2 Erzieherische Hilfen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
3.3 Elternarbeit und Gesprächsführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180
Auf ein letztes Wort: Der Ruf nach der idealen Erzieherin. . . . . . . . . . 190
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
2Zielgruppen heilpädagogischen Arbeitens
In den folgenden Kapiteln stellen wir Ihnen Zielgruppen heilpädagogischen Handels vor. Ein heilpädagogischer Blick auf diese Kinder und Jugendlichen bedeutet, dabei zu berücksichtigen, dass „Behinderungen aus der Wechselwirkung von Beeinträchtigungen und sozialen Faktoren entstehen, [daher] ist auch hier ein mehrdimensionaler Blick auf das Kind nötig“ (Albers 2012, 38).
Die Perspektive der Erzieherinnen kann dabei einen wichtigen Beitrag zum geforderten mehrdimensionalen Blick auf das Kind leisten.
2.1Kinder und Jugendliche mit Verhaltensauffälligkeiten
1835 schrieb der Psychiater Dr. Heinrich Hoffmann ein Bilderbuch für seinen Sohn Carl. Dieses Buch, „Der Struwwelpeter“, wurde welt-bekannt. Der berühmte „Zappelphilipp“ könnte ein hyperaktives Kind sein, während Hans mit ADS durchs Leben geht. Pauline zündelt, Kaspar leidet offenbar an Magersucht. Der „böse Friederich“ wird als aggressiv beschrieben.
Es entsteht der Eindruck, dass vor nun bald zweihundert Jahren Kinder und Erziehende mit sehr ähnlichen Lebenssituationen wie heute konfrontiert waren. Auch heute fallen uns im pädagogischen Alltag Verhaltensweisen von Kindern oder Jugendlichen auf, die wir als ungewöhnlich wahrnehmen. So zeigen Kinder Verhaltensweisen, die z. B. nicht ihrem Alter entsprechen oder die andere Personen oder Gegenständen schaden. Manche Verhaltensweisen fallen auf den ersten Blick nicht auf, beispielsweise, wenn Kinder sehr ruhig und zurückgezogen wirken. Die lauten, aktiven Kinder fallen häufig früher in unseren Blick. Doch welches Verhalten ist angemessen, wann müssen wir uns Sorgen machen? Auch unter Erzieherinnen werden diese Fragen häufig diskutiert. Die eine Kollegin hält zum Beispiel ein Kind für sehr aktiv und sportlich, die andere spricht von Hyperaktivität und sieht einen Förderbedarf. Aber auch die Wahrnehmung und Einschätzung von Eltern und Erzieherinnen können sehr unterschiedlich sein. Dies verdeutlichen auch die beiden folgenden Fallbeispiele.
Beispiel
Die Mutter von Svenja hat das Gespräch mit deren Erzieherin gesucht. Verlegen hat sie ihr anvertraut, dass Svenja seit der Geburt des kleinen Bruders völlig verändert ist. Obwohl Svenja stolz darauf ist, mit dreieinhalb Jahren schon ein großes Kindergarten-Kind zu sein, möchte sie jetzt nur noch bei der Mama bleiben und auch ein Baby sein. Außerdem nässt sie seit einiger Zeit jede Nacht mehrmals ein.
Die Erzieherin berichtet, dass Svenja zwar weint, wenn sie morgens in die Gruppe kommt, sich dann aber leicht beruhigen lässt. Insbesondere genießt sie es, dass einige große Mädchen sich ihrer angenommen haben, und sie ein wenig „bemuttern“. Die Erzieherin und die Mutter besprechen die Situation und finden gemeinsam kleine Hilfen für Svenja. So wird sich beispielsweise Svenjas Vater jetzt mehr und intensiver mit Svenja beschäftigen.
Die Erzieherin macht sich um die „stille“ Verhaltensauffälligkeit von Svenja weniger Sorgen, als um das Verhalten eines anderen Kindes: Der fünfjährige Tobias erschreckt und beeindruckt die Kinder mit seinen gewalttätigen Sprüchen und Erzählungen. Besonders aufgedreht ist er nach dem Wochenende. Voller Stolz berichtet Tobias, welche Filme er sich ansehen durfte. Die Bilder, die er im Kopf hat, versucht er durch wilde Spiele umzusetzen. Stellt die Erzieherin kein ausgewogenes Angebot aus Bewegung, Aggressionsabbau und anschließender Entspannung zur Verfügung, droht die Stimmung in der Gruppe in wildes Gebrüll und Geschrei umzukippen. Ein Teil der Kinder findet Tobias cool und schließt sich ihm an, die anderen sind hilflos und verschreckt.
Die Erzieherin versucht immer wieder vergeblich, mit seinen Eltern ins Gespräch zu kommen. Diese meinen nur, „sie suche wohl einen Sündenbock – denn zu Hause sei Tobias der bravste Junge!“
Angesichts derartiger Situationen wird sich eine Erzieherin fragen: „Habe ich es hier mit beginnenden Verhaltensauffälligkeiten zu tun? Wann wird überhaupt von Verhaltensauffälligkeit gesprochen? Und wie gehe ich damit um?“
Begriffsbestimmung Verhaltensauffälligkeit und -störung
Einleitend weisen wir darauf hin, dass im Folgenden sowohl der Begriff Verhaltensauffälligkeit als auch der Begriff Verhaltensstörung verwendet wird. Wir folgen damit Myschker / Stein 2018 (2018, 52): „Gegenwärtig finden zwei Oberbegriffe, die als Synonyme zu verstehen sind, am häufigsten Verwendung: Verhaltensauffälligkeit und Verhaltensstörung.“
Um ein Verhalten als auffallend zu beschreiben, muss es ein Verhalten geben, das als unauffällig bzw. angemessen wahrgenommen wird. Ein auffallendes Verhalten weicht von den Normen ab, die für eine bestimmte Gruppe von Menschen als angemessen gilt. Doch was ist noch angemessen, was gilt schon als auffällig, was ist gestört?
Der Begriff Störung wird in der Pädiatrie und der Psychologie dann gebraucht, wenn es sich bei dem vorliegenden Verhalten, wie bei einer Krankheit, um ein deutliches bis massives Abweichen von der Norm handelt.
Eine Störung ist einfach zu erkennen, wenn beispielsweise Schmerzen oder erhöhte Körpertemperatur einen Hinweis dafür liefern, dass sich ein Normalzustand verändert hat. Schwieriger dagegen wird es, wenn es um Verhaltensweisen geht. Nicht alles, was einen Menschen an einem anderen stört, ist bereits eine Störung. Vielmehr bedarf es sorgfältiger und langwieriger Beobachtung, um im Rahmen eines Diagnoseschemas bestimmen zu können, ob eine Störung vorliegt oder nicht.
Wird der Störungsbegriff aus heilpädagogischer Sicht betrachtet, fällt zunächst eine negative Bedeutung auf. Einerseits wird auch hier die Abweichung vom Normalen, unter der der Betroffene und meist auch seine Umgebung leiden, gesehen. Andererseits beinhaltet das Wort eine Abwertung. In der Anklage: „Du störst uns!“, steckt eine Abwertung durch die Umgebung. Das betroffene Kind sagt von sich: „Ich bin gestört!“ Oder: „Ich bin ein Störenfried!“ – womit es sich selbst abwertet. Bezüglich des Begriffs Verhaltensstörung fordert Hillenbrand (2008, 29) daher, „den Begriff nicht als Wertung einer Person, seiner Charaktereigenschaften und Persönlichkeit zu verstehen, sondern als zusammenfassende Kennzeichnung von Problemlagen, die sich in Verhaltensweisen ausdrücken können, zu verwenden.“ Um die Gefahr des Abwertens zu umgehen, wird in der Heilpädagogik bevorzugt von „Kindern und Jugendlichen mit auffälligem Verhalten“ gesprochen. Verhaltensauffälligkeiten werden als versteckte Hilferufe von Kindern und Jugendlichen betrachtet, die bewusst oder unbewusst in großer seelischer Not sind und Schwierigkeiten in der Bewältigung ihres Lebens zeigen. Dabei spielen Ursachen und Umstände eine Rolle, für die ein betroffenes Kind nicht verantwortlich gemacht werden kann, wie beispielsweise hirnorganische Veränderungen, elterliches Erziehungsverhalten oder veränderte Umwelt- und Aufwachsensbedingungen. Von einer Verhaltensstörung können wir dann sprechen, wenn es sich um Verhaltensweisen handelt, die
■von unseren aktuellen, kulturellen Erwartungsnormen abweichen,
■organisch und / oder milieubedingt sind,
■in mehreren Lebensbereichen, häufig und schwer auftreten,
■die Entwicklungs-, Lern- und Arbeitsfähigkeit sowie die Interaktion mit der Umwelt beeinträchtigen,
■und eine pädagogisch-therapeutische Unterstützung zur Überwindung benötigen (Myschker / Stein 2018).
Wenn also Kinder bei einer spannenden Geschichte vor Aufregung am Daumen lutschen oder an den Nägeln kauen, dann gelten sie noch lange nicht als verhaltensauffällig!
Einmaliges oder ab und zu auftretendes abweichendes Verhalten stellt noch keine Verhaltensauffälligkeit dar. Dies gilt für aggressives Verhalten, Ängstlichkeit und Schüchternheit ebenso wie für Daumenlutschen und Nägelkauen. Ein Kind, das einmal ins Bett nässt, ist ebenso wenig verhaltensauffällig wie ein Kind, das hin und wieder den Clown spielt. Gelegentliche Eifersucht, vorübergehende Machtkämpfe in Form von Essstörungen, vorübergehendes Fremdeln, kurzzeitige Konzentrationsstörungen, Schlafstörungen, Tagträumen, Trotzverhalten, Unruhe und Unselbstständigkeit können einmalig, oder in großen Abständen auch wiederholt, auftreten – dennoch erfüllen sie dann noch nicht die Voraussetzungen einer Verhaltensauffälligkeit. Erst dann, wenn das Verhalten regelmäßig und intensiver auftritt, und die Erzieherin beobachtet, dass das Kind bedrückt, angespannt und unglücklich wirkt, muss an eine beginnende Verhaltensauffälligkeit im Sinne eines seelischen Hilferufs gedacht werden.
Es gibt allerdings Ausnahmen. Bei so schwerwiegenden Verhaltensweisen wie Weglaufen, Stehlen oder beharrlichem Schweigen (psychogener, also seelisch bedingter...
Erscheint lt. Verlag | 15.1.2024 |
---|---|
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik ► Sonder-, Heil- und Förderpädagogik |
Schlagworte | ADHS • Auffälligkeit • Aufmerksamkeitsdefizit • Behinderung • Bewegung • Frühförderung • Handlungstipps • Hyperaktivität • Hyperaktivitätsstörung • Inklusion • Kinder • Kindergarten • Kindertagesstätte • Teilhabe |
ISBN-10 | 3-497-61871-3 / 3497618713 |
ISBN-13 | 978-3-497-61871-2 / 9783497618712 |
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Größe: 2,8 MB
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