Die vierte Gewalt (eBook)
288 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-31706-5 (ISBN)
Kaum ein Buch wurde in den deutschen Medien so erbittert diskutiert wie das erste gemeinsame Buch der Bestsellerautoren Richard David Precht und Harald Welzer. Kein Wunder, lieferte doch ihre Analyse ein eindrückliches Bild davon, wie sich die Medienlandschaft unter wirtschaftlichem Druck und in Konkurrenz zu online-Medien in den vergangenen Jahren stark verändert hat: mit immer sta?rkerem Hang zum Einseitigen, Simplifizierenden, Moralisierenden, Empo?renden und Diffamierenden. Als Verteidiger eines differenzierten und pluralen Mediensystems fragen Precht und Welzer: Wie ist es in Deutschland, dem Land einer lange vorbildlichen Qualita?tspresse und eines im internationalen Vergleich ebenso vorbildlichen o?ffentlich-rechtlichen Rundfunks dazu gekommen? Wie konnte und kann die Medienlandschaft durch die »Vierte Gewalt« selbst unfreier werden? Und was bildet das vero?ffentlichte Meinungsbild ab, wenn es mit dem o?ffentlichen so wenig u?bereinstimmt?
Für eine vitale Demokratie ist eine unabhängige Berichterstattung ebenso notwendig wie differenzierte Deutungen der politischen Entwicklungen. Dazu gehört unabdingbar die Vermeidung von Einseitigkeit, der Einbezug internationaler Perspektiven und die Darstellung auch widersprüchlicher Entwicklungen - Aspekte, die die Leitmedien zunehmend vermissen lassen. Precht und Welzer zeigen nicht nur, warum viele Medienschaffende hinter den Ansprüchen an ihren Beruf zurückfallen, sondern auch, wie ein Selbstverständnis zurückgewonnen werden kann, das die »Vierte Gewalt« wieder ihre Verantwortung für die Demokratie wahrnehmen lässt.
++++ Die Taschenbuchausgabe exklusiv mit neuen Befunden zur Medienberichterstattung und zur Rezeption der Hardcover-Ausgabe ++++
Richard David Precht, geboren 1964, ist Philosoph, Publizist und Autor und einer der profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum. Er ist Honorarprofessor für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin. Seit seinem sensationellen Erfolg mit »Wer bin ich - und wenn ja, wie viele?« waren alle seine Bücher zu philosophischen oder gesellschaftspolitischen Themen große Bestseller und wurden in mehr als 40 Sprachen übersetzt. Seit 2012 moderiert er die Philosophiesendung »Precht« im ZDF und diskutiert zusammen mit Markus Lanz im Nr.1-Podcast »LANZ & PRECHT« im wöchentlichen Rhythmus gesellschaftliche, politische und philosophische Entwicklungen.
Einleitung
Deutschland, eines der freiesten Länder der Welt, hat ein Problem mit der gefühlten Meinungsfreiheit. In einer Allensbach-Umfrage im Juni 2021 meinten 44 Prozent der Befragten, man könne seine Meinung nicht frei äußern – der höchste Wert, der seit Beginn der Umfrageserie 1953 je gemessen wurde.[1] Zehn Jahre zuvor waren nur 26 Prozent dieser Auffassung.
Selbstverständlich ist die Zahl von 44 Prozent Zweiflern kein Beleg dafür, dass man in Deutschland tatsächlich nicht frei seine Meinung sagen darf. Doch 44 Prozent der Deutschen, die an der Meinungsfreiheit zweifeln, sind dennoch kein Pappenstiel. Ganz offensichtlich handelt es sich hierbei nicht um eine kleine Minderheit und um die vernachlässigbare Sicht radikalisierter Außenseiter. Vielmehr ist es ein hochdramatischer Befund im Hinblick auf das Demokratievertrauen in unserem Land.
Deutschland, das Land der Qualitätspresse und eines im internationalen Vergleich vorbildlichen öffentlich-rechtlichen Rundfunks, hat auch ein Problem mit dem Vertrauen in seine Leitmedien.[2] Von über 4000 im Jahr 2022 von RTL/ntv repräsentativ befragten Bürgerinnen und Bürgern gaben nur noch 46 Prozent an, sie hätten »Vertrauen in die Presse«. 55 Prozent vertrauen dem Radio und gerade einmal 32 Prozent dem Fernsehen. Alle Werte sind gegenüber dem Vorjahr gesunken.[3] Dieses Meinungsbild ist kein Einzelfall. Nach einer FORSA-Umfrage von 2022 sagen 43 Prozent der Befragten, der Journalismus sei in den letzten Jahren schlechter geworden.[4] Schon 2015 verzeichnete eine Umfrage von Infratest/Dimap im Auftrag des WDR 42 Prozent Befragte, die deutsche Medien für »nicht glaubwürdig« halten. Ein Drittel sprach von einem in den letzten Jahren gesunkenen Medienvertrauen. 42 Prozent der Befragten meinen, dass es aus der Politik Vorgaben für die Berichterstattung gebe. Und ein Fünftel der Befragten hält sogar den berüchtigten »Lügenpresse«-Vorwurf für berechtigt.[5]
Besorgniserregend ist auch, dass das Vertrauen bei der intensivsten Nutzergruppe der Direktmedien, nämlich den Jugendlichen, einer Studie der Universität Bielefeld zufolge äußerst gering ist: 75,8 Prozent misstrauen den Zeitungen, 71,6 Prozent den Journalistinnen und Journalisten. 37,9 Prozent glauben, dass die Medien absichtlich wichtige Informationen zurückhalten, 32,8 Prozent, dass sie nur ihre eigene Meinung verbreiten.[6] Dazu ist es inzwischen ein fester Topos in der öffentlichen Meinung, dass man besagte Meinung »nicht mehr sagen« dürfe. In einer (nicht repräsentativen) Erhebung des MDR mit immerhin 27 000 Befragten sind 78 Prozent der Auffassung, dass man »bei manchen Themen vorsichtig sein müsse, wie man sich äußert«, 48 Prozent haben zudem »Angst, die eigene Meinung zu äußern«, 59 Prozent halten den »Zustand der Meinungsfreiheit« für schlecht.[7]
Solche Zahlen sind alarmierend. Was ist in Deutschland geschehen, dass das Medienvertrauen nur noch so schwach ausgeprägt ist? Wir wagen in dieser Frage eine Hypothese: Die Migrationskrise, die Corona-Pandemie und zuletzt der Ukraine-Krieg haben die Rolle, die Funktionsweise und das Selbstverständnis der Leitmedien deutlich verändert. Die »Vierte Gewalt« begnügt sich spätestens seit diesen Geschehnissen nicht mehr mit einer umsichtigen Kontrollfunktion des politischen Journalismus. Die Politik, so scheint es, soll von den Leitmedien nicht schlichtweg kontrolliert, nein, sie soll oft genug mit Macht zu Entscheidungen getrieben werden! Nichtgewählte Journalisten wollen der Politik nicht nur auf die Finger schauen, sondern sie wollen sie machen. Und das Erstaunliche daran ist, es gelingt ihnen ziemlich gut! Wie von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gut dokumentiert, ist der Einfluss der Medien auf die Politik in den letzten drei Jahrzehnten kontinuierlich,[8] zuletzt sogar enorm gestiegen, bezahlt allerdings mit dem genannten Preis: dem dramatischen Vertrauensverlust der Bürger in die veröffentlichte Meinung. Denn je einflussreicher die Leitmedien wurden und werden, umso misstrauischer werden ihre Konsumentinnen und Konsumenten.
Doch das Problem ist noch größer. Politik- und Medienwissenschaftler diagnostizieren schon lange die unheilvolle Tendenz, dass die Demokratie, wie wir sie kannten, sich in eine »Mediokratie« transformiert.[9] Das Mediensystem kolonialisiert in dieser Sicht das politische System und lässt es zunehmend nach den gleichen Spielregeln des Aufmerksamkeitskampfes funktionieren. Massenmedial gehetzte und getriebene Politiker, die zudem jede Äußerung, ja, jeden Gesichtsausdruck durch vorauseilende Selbstzensur überprüfen müssen, um nicht skandalisiert zu werden, dürften kaum die notwendige Gelassenheit haben, um eine weitsichtige und vernunftgeleitete Politik zu verfolgen. Und der öffentliche Raum als Ort unausgesetzter Sensationierung und Skandalisierung lässt wenig Platz für Glaubwürdigkeit, Sachverstand, Bürgernähe und Tatkraft – ebenjene Eigenschaften, die Bürger an Politikern gemeinhin am meisten schätzen.[10] Der wachsende Einfluss der Medien verändert also nicht nur ihre Macht, sondern er verändert zugleich auch die Politik.
Über die letzten fünfzehn Jahre wurde die Gefährdung der demokratischen Öffentlichkeit fast ausnahmslos den neu entstandenen Direktmedien[11] angelastet. Twitter, TikTok und Telegram, dazu die ungezählten Kanäle demokratiefeindlicher Influencer galten als der Quell der Desinformation und gesellschaftlicher Manipulation. Natürlich sind einseitige Berichterstattung, Manipulation und Diffamierung aber keineswegs ein originäres Produkt der Direktmedien – auch Blätter wie die Bild-Zeitung haben da Traditionen, und die algorithmische Bevorzugung von Skandal- und Klamaukfähigem hat ihre Vorläufer im Boulevard. Aber durch die Direktmedien ist die Zahl von Skandalthemen größer und die Hemmschwellen sind niedriger geworden. So wird die Kultur der Assholery nicht mehr nur in den digitalen Kanälen der Dauererregten gepflegt – ihr Ungeist ist längst aus den Direktmedien entwichen und zuhauf in jene Leitmedien eingewandert, die bislang für sich in Anspruch nehmen, für Qualität zu stehen.
Das aktuelle Beispiel des Ukraine-Krieges liefert hier erschreckende Belege. Die nahezu geschlossen einseitige Positionierung der Kommentare, Leitartikel und Kolumnen meinungsführender Publizisten in den deutschen Leitmedien, die Lieferung schwerer Waffen an die von Russland überfallene Ukraine nicht nur gutzuheißen, sondern vom Bundeskanzler nachdrücklich zu fordern, ist ein demokratisch höchst bedenkliches Phänomen. Denn die Geschlossenheit geschieht auf Kosten des Pluralismus und der Rückbindung an eine Leser- und Zuschauerschaft, die diese Geschlossenheit nicht zeigt. Erschreckender noch sind das moralistische Hyperventilieren und der Hang zur Diffamierung Andersdenkender – gefährliche Übernahmen aus der Unkultur der Kommunikationsformen in den Direktmedien, für die Deutschlands Qualitätspresse zuvor gerade nicht bekannt war.
Das frappierend einheitliche Meinungsbild in einer so schwierigen, komplexen und hochkontroversen Frage wie jener der Waffenlieferungen an die Ukraine zeitigt eine gefährliche Folge. So leicht und zu oft drängt sich vielen Beobachtern der völlig falsche Eindruck auf, die Leitmedien in Deutschland seien von der Regierung oder »dem Staat« manipuliert. Man denkt an Länder wie Russland, China, die Türkei oder die arabische Welt, wo eine solche krasse Abweichung der veröffentlichten Meinung von der öffentlichen tatsächlich von Staats wegen verursacht ist. Wie leicht lässt sich die Inkongruenz von öffentlicher und veröffentlichter Meinung, wie Deutschland sie derzeit erlebt, deshalb missverstehen – eben als Machenschaft und Manipulation?
Tatsächlich hat sie mit einer gelenkten Manipulation überhaupt nichts zu tun. Bei uns geht sie, anders als in der Türkei, in Russland, in China und in der arabischen Welt nicht unmittelbar vom Staat aus, sondern – und das ist erstaunlich – von den Leitmedien selbst! Die Leitmedien in Deutschland sind keine Vollzugsorgane staatlicher Meinungsmache. Aber sie sind die Vollzugsorgane ihrer eigenen Meinungsmache, mit – zumindest in Krisenzeiten und solchen, die als diese empfunden werden – sich verstärkendem Hang zum Polarisierenden, Simplifizierenden, Moralisierenden, Autoritären und Diffamierenden. Und sie bilden ihre ganz eigenen Echokammern einer Szene, die stets darauf blickt, was die oder der jeweils andere gerade sagt oder schreibt, ängstlich darauf bedacht, davon nicht abzuweichen. Genau damit aber nähren die – nennen wir sie: amtierenden – Medien bedauerlicherweise viele unbegründete Verdächtigungen, die das Ihre dafür tun, die Sphäre der Öffentlichkeit zu zerstören, indem sie kollektive Zweifel daran befördern, dass unsere Leitmedien »frei« sind und die Meinungsfreiheit garantieren.
Dass unsere Demokratie nicht durch Willkür und Macht »von oben«, sondern aus der Sphäre der Öffentlichkeit selbst unterspült wird, ist ein vermutlich beispielloser Vorgang. Demokratietheoretisch ist er bislang nicht vorgesehen. Wie kann eine liberale Demokratie mit pluraler Medienlandschaft sich selbst gefährden? Aus...
Erscheint lt. Verlag | 17.4.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 2024 • Anne Will • Corona • Debatte • eBooks • Fake News • Flüchtlingskrise • Journalismus • Leitmedien • Lügenpresse • Markus Lanz • Melanie Amann • Neuerscheinung • Öffentlich-rechtliche Medien • Politik • Presse • Pressefreiheit • Recherche • Robin Alexander • Social Media • Talkshow • Twitter • Ukraine • Zeitungen • Zensur |
ISBN-10 | 3-641-31706-1 / 3641317061 |
ISBN-13 | 978-3-641-31706-5 / 9783641317065 |
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