Outsider (eBook)

Die unwahrscheinliche Lebensgeschichte eines Mannes und die Suche nach seiner Vergangenheit
eBook Download: EPUB
2024
368 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-31874-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Outsider - Brett Popplewell
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Der große Bestseller aus Kanada - inklusive Schwarzweiß-Fotos
»Dag ist wie Superman oder Tarzan - nur als wären sie gealtert und lebten in einem alten Schulbus in den Wäldern Kanadas.«

Viele Mythen ranken sich um den 81-jährigen Einzelgänger Dag Aabye: Er soll das Extremskifahren begründet, im Hollywood der 1960er-Jahre als Body Double von Sean Connery und Michael Caine gearbeitet haben und heute der älteste Läufer des 125 km langen Death Race Marathons in den Rocky Mountains sein. Dokumentarfilmer haben den rätselhaften Aussteiger begleitet und die Legenden um ihn herum angeheizt. Ein Fünkchen Wahrheit steckt in all den Geschichten - aber wie wurde Dag Aabye zu dem Mann, der er heute ist? Warum hat er Freunde und Familie hinter sich gelassen, um ein Leben in relativer Abgeschiedenheit zu führen?

Brett Popplewell hat ihn über sechs Jahre begleitet. Fasziniert von seiner Lebensgeschichte begibt sich der Investigativjournalist auf die Suche nach Aabyes verborgener Vergangenheit: über Norwegen - wo er 1941 unter mysteriösen Umständen zur Zeit der Nazi-Besetzung geboren wird -, über Argentinien, Deutschland und zurück in die Berge British Columbias. Berührend und packend zeichnet der Autor das feine Porträt des vielschichtigen Eremiten und seines unwahrscheinlichen Lebens - und lässt uns gleichzeitig unsere Vorstellungen vom Altern, menschlichen Leistungen und Heimat hinterfragen.

Brett Popplewell ist Investigativreporter und Lehrbeauftragter für Journalismus an der Carleton University in Ottawa, Kanada. Er wurde mit mehreren National Magazine Awards sowie dem Allan Slaight Prize für Journalismus ausgezeichnet. Artikel von ihm erschienen u. a. in Bloomberg Businessweek, Toronto Star, The Globe and Mail.

PROLOG


Auch alte Menschen brauchen Superhelden.

DAG AABYE

Der letzte Übermensch läuft allein durch die Nacht. Er trägt keinen Ausweis oder Ähnliches bei sich, doch die Narben in seinem Gesicht, an seinen Händen und seinem Körper erzählen die Geschichte eines seit 80 Jahren andauernden Überlebenskampfes am Rande der Gesellschaft. Er wurde ausgehungert, im Stich gelassen und saß fast 50 Jahre lang in einem fremden Land fest, nicht in der Lage oder einfach nicht bereit, an jenen Ort zurückzukehren, der ihn hervorgebracht hatte. Während des Krieges gezeugt, ist er das alternde, gebrochene Relikt einer dunkleren Epoche. Und doch ist er unschuldig.

Mit seiner Stirnlampe als alleiniger Lichtquelle rennt er an verschneiten Kiefern, Hemlock- und anderen Tannen vorbei. Das Knirschen der gefrorenen Erde unter seinen Füßen verstummt, als er an den Rand eines Steilhanges kommt. Seine Spuren sind nicht die einzigen hier draußen, doch es sind die einzigen, die von einem Menschen stammen. Er stellt sich neben die Prankenabdrücke einer Pumadame, die sich auf dieser Seite des Berges herumtreibt. Er weiß, dass sie sich irgendwo hier aufhält. Während seiner Läufe hat er gesehen, wie ihre Augen ihn aus dem Schatten heraus beobachteten. Doch der unschuldige Geist kennt keine Angst. Selbst wenn er allen Grund dazu hätte.

Knorrige Finger, zerschundene Arme, eine kaputte Schulter, schlechte Zähne und rissige Fersen – der alte Mann treibt seinen Körper Schritt für Schritt voran. Mit einer klauenartigen Hand greift er nach dem toten Stamm einer Espe und stößt sich an ihr ab – weg vom Rand des Steilhangs und weiter bergauf, den Spuren des Pumaweibchens folgend, bis zu einem gefrorenen Wasserfall, dessen Anblick bisher nur wenigen vergönnt war. Auf diejenigen, die schon mal einen Blick auf ihn erhascht haben, wirkt er aufgrund seines Alters, seiner zerlumpten Stiefel, Handschuhe und seiner mit Klebeband geflickten Jacke wie der Inbegriff der Verletzlichkeit. Sonne und Kälte der vergangenen Jahrzehnte haben ihre Spuren in dem vom gefrorenen Bart umrahmten Gesicht hinterlassen. Mit seinen langen, zotteligen Haaren sieht er genauso alt aus, wie man sich einen Mann vorstellt, der seit Beginn des 21. Jahrhunderts in einem im Wald geparkten Schulbus lebt. Und doch birgt seine alternde Gestalt eine Kraft, die ihn zu schützen scheint.

Er steigt auf einen schneebedeckten Baumstamm, der schon vor langer Zeit umgefallen sein muss und seitdem wie eine natürliche Brücke quer über einen rauschenden Fluss führt. Wie ein Seiltänzer breitet er die Arme aus, balanciert über den Strom und setzt seinen Weg bergauf zur Quelle des Flusses fort – einem tosenden Wasserfall, der über einen Felsen zehn Meter in die Tiefe stürzt und an den Flussufern zu Eis gefriert. Dort angekommen berührt er die Felswand neben dem Wasser und schaut auf die Uhr, mit der er seinen Lauf gestoppt hat. 48 Minuten sind vergangen, seit er sein Lager mitten in der Nacht verlassen hat, um sich auf die Suche nach Wasser zu machen.

Er taucht die Hand in den Gletscherstrom und trinkt. Dann kehrt er in das Lager zurück, das er vor der Welt verborgen hält, seit er beschlossen hat, sich in diese Wälder zurückzuziehen und dem Tod unaufhörlich davon- und doch gleichzeitig auch entgegenzulaufen.

Wann immer er in seinen späteren Jahren seinen Schlupfwinkel im Wald verließ und dem gewundenen Bergweg zurück in die Zivilisation folgte, um etwas zu essen, zu trinken oder zu telefonieren, sollten die Menschen, die ihn sahen, oft innehalten und ihn, wie er so in seinen abgerissenen Kleidern vorbeischlurfte, mit einer Mischung aus Verunsicherung, Mitleid und Ehrfurcht anstarren. Auf jene, die noch nie von ihm gehört hatten, wirkte er einfach nur wie ein seltsamer Außenseiter, der nach Lagerfeuer und altem Schweiß roch. Doch für die, die um sein legendäres Leben wussten, war er eine menschliche Attraktion. Sobald er außer Sichtweite war, erzählten sie von ihrer Begegnung mit dem sagenumwobenen Bergmenschen, der ganz allein abseits der Gesellschaft lebt. Für sie war er so etwas wie ein Yeti, ein scheues, wildes Tier. Schwer zu finden und noch schwerer zu fassen, obwohl er sich nur langsam fortbewegte und seit Jahren im Okanagan Valley im Süden Kanadas seiner Wege ging.

Laut den Geschichten, die man sich erzählte, war er der größte Skifahrer aller Zeiten; ein Playboy und Stuntdouble für James Bond; Nomade und moderner Wikinger, der die Welt sowohl zu Land als auch zu Wasser bereist hatte. Er soll aus Helikoptern gesprungen sein und Lawinen ausgelöst haben – nur um ihnen dann auf Skiern davonzufahren. Und sich außerdem von Klippen gestürzt haben, noch bevor irgendjemand sonst auf diese Idee kam. Einst als einer der ersten Extremskifahrer der Welt gefeiert, war er nun einer der weltweit ältesten Ultramarathonläufer und auf diesem Feld ein Gegner, der nicht nur mit einem Rucksack voll gekochter Kartoffeln an den Start ging und diese mitten im Rennen verzehrte, um Energie zu tanken, sondern auch eine übernatürliche Fähigkeit besaß, seinem Körper mit steigendem Alter nur noch mehr abzuverlangen. Die einen erzählten, er habe sich in den Wald zurückgezogen, weil er ein Millionenvermögen verloren habe. Andere behaupteten, er habe sich seines Reichtums entledigt, weil er ein einsames Leben führen wollte und die Gesellschaft von Bären jener der Menschen vorzöge.

All diese Geschichten waren bis zu einem gewissen Grad wahr, doch gab es Lücken in seinem Lebenslauf, die keiner so recht zu füllen wusste, insbesondere was den Anfang anbelangte. Diejenigen, die ihn schon länger kannten, hatten nie herausgefunden, woher er stammte. Er war den Menschen schon immer ein Rätsel gewesen – sogar seiner Familie in Norwegen. Für sie war er schlicht jener geheimnisvolle kleine Junge, der eines Tages mitten im Krieg auf ihrer Farm aufgetaucht war. Nicht einmal seine kanadische Exfrau, die sich 20 Jahre lang darum bemühte, ihn zu verstehen, hatte jemals das Gefühl gehabt, zu wissen, wer er wirklich war. Er hatte insgesamt vier Kinder, kannte jedoch nur drei und sprach nur mit einem von ihnen. Über die Jahre hinweg wurde er von vielen geliebt, aber alle, die ihm näherkamen, verließen ihn letztendlich wieder oder wurden von ihm verlassen. Ihn zu lieben war einfach, aber mit ihm zusammenzuleben, war schwierig, und ihn zu verstehen noch schwieriger. Die vielen unerwarteten Wendungen, die sein Schicksal genommen hatte, ließen seine Geschichte derart zweifelhaft erscheinen, dass es selbst seinen Kindern schwerfiel, sie zu glauben. Und doch war er in gewisser Hinsicht genauso ursprünglich und wahrhaftig wie der Wald, in dem er lebte.

Wann immer er sich mit Fragen zu seiner Herkunft konfrontiert sah – zum Beispiel, wenn er den Wald verließ und bei einem seiner Barbesuche die Aufmerksamkeit eines neugierigen Fremden auf sich zog –, gab der alte Mann nur wenig von sich preis. Mit weichem, europäischem Akzent, der nicht eindeutig zuzuordnen war, erklärte er nur so viel: »Ich wurde in Gefangenschaft geboren und die Natur hat mich befreit.«

Die Wahrheit war jedoch um einiges düsterer, als er jemals erahnen ließ.

Das wahre Wesen seiner Abstammung war absichtlich verschleiert worden und über das bisschen, das er wusste, sprach er kaum. Er war das Waisenkind eines in weite Entfernung gerückten Krieges, dessen Geschichte bis in die dunkelsten Zeiten des 9. Aprils 1940 – vier Monate vor seiner Empfängnis – zurückreichte.

An diesem Morgen im April waberte dicker Nebel über die Nordsee und verbarg die Masten und Periskope der deutschen Marine, die sich während der Nacht einen Weg durch die Wellen gebahnt hatte. Mit der gewaltigen Schlagkraft von Adolf Hitlers Kriegsflotte im Rücken krochen in diesem Nebel die zukünftigen Väter unzähliger norwegischer Kinder auf das skandinavische Land zu.

Die deutschen Soldaten an Bord dieser Schiffe hielten ihr Vorhaben für ein nobles Unterfangen und aufgrund der britischen Bestrebungen, das Vaterland von der Versorgung mit dem überlebenswichtigen Eisenerz abzuschneiden, auch für notwendig. Doch für die deutschen Befehlshaber, die diese Invasion von Berlin aus leiteten, war das Eisenerz nur ein Aspekt dessen, was sie sich von der Aktion in Norwegen erhofften. Worauf sie es außerdem abgesehen hatten, war das nordische Blut. Es war der erfundene Mythos einer Verbindung zwischen dem Dritten Reich und den alten Wikingern, der Heinrich Himmler letzten Endes dazu bewegen sollte, den Soldaten in den hohen Norden zu folgen. Als Oberhaupt der SS hatte Himmler eine perverse, auf lange Sicht angelegte Strategie entwickelt, mithilfe des seiner Meinung nach reinsten arischen Volksstammes ein Wachstum der deutschen Bevölkerung herbeizuführen.

Kurz nach vier Uhr an diesem Aprilmorgen meinte ein 64-jähriger Oberst der norwegischen Armee, der in einer 85 Jahre alten Festung am Rande des Oslofjords stationiert war, in den Suchlichtern, die den Nebel durchdrangen, eine Bewegung wahrzunehmen. Europa hatte gerade den kältesten Winter seit Beginn der Wetteraufzeichnungen hinter sich und Birger Eriksen konnte noch immer seinen Atem sehen, während er auf dem Meer etwas erspähte, von dem er hätte schwören können, dass es ein durch die Nacht gleitender Schiffsmast war.

Innerhalb weniger Stunden waren der norwegische König und seine Regierung aus Oslo geflohen und auf dem Weg nach...

Erscheint lt. Verlag 19.6.2024
Übersetzer Johanna Ott
Zusatzinfo 13 (s/w-) Illustrationen/Fotos
Sprache deutsch
Original-Titel Outsider
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 2024 • Adventure • Außenseiter • Aussteiger • Berge • bewegtes Leben • Biografie • Biographien • Bouldern • dag aabye • eBooks • Einsiedler • Extremsport • Geschichte • Jon Krakauer • Kanada • Klettern • Lebensborn • Mann • Marathon • michael finkel • Nationalsozialismus • Nazis • Neuerscheinung • Norwegen • Outdoor • Skifahren • Thomas Glavinic • Wald • walter mitty • Wandern • winston groom
ISBN-10 3-641-31874-2 / 3641318742
ISBN-13 978-3-641-31874-1 / 9783641318741
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