Limitarismus (eBook)
384 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491620-0 (ISBN)
Ingrid Robeyns, 1972 in Löwen, Belgien, geboren, ist Professorin für Ethik an der Universität Utrecht. Nach dem Studium der Wirtschaftswissenschaften und der Philosophie promovierte sie an der University of Cambridge bei Amartya Sen. Sie gilt als Begründerin des Limitarismus und trägt wesentlich zur Verbreitung des Konzepts bei. Zur Unterstützung ihrer Forschung erhielt sie 2022 den Vici Grant des Dutch Research Council (NWO). Robeyns lebt mit ihrer Familie in Utrecht.
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Ingrid Robeyns, 1972 in Löwen, Belgien, geboren, ist Professorin für Ethik an der Universität Utrecht. Nach dem Studium der Wirtschaftswissenschaften und der Philosophie promovierte sie an der University of Cambridge bei Amartya Sen. Sie gilt als Begründerin des Limitarismus und trägt wesentlich zur Verbreitung des Konzepts bei. Zur Unterstützung ihrer Forschung erhielt sie 2022 den Vici Grant des Dutch Research Council (NWO). Robeyns lebt mit ihrer Familie in Utrecht.
Egal, wie man dazu steht, das Buch bringt ein drängendes gesellschaftliches Problem prägnant auf den Punkt.
Das Buch bringt ein drängendes gesellschaftliches Problem prägnant auf den Punkt.
Robeyns macht in ihrem gut lesbaren Buch mit eindrücklichen Beispielen klar, was es heißt, unermesslich reich zu sein.
Dass die Umverteilung von Reichtum zur Existenzfrage für unseren Planeten werden könnte, das vermag Ingrid Robeyns in ihrem Buch "Limitarismus" anschaulich und eindringlich zu vermitteln.
Kapitel 1 Wie viel ist zu viel?
Als mein ältester Sohn etwa zwölf Jahre alt war, radelten wir von unserer Wohnung in Utrecht in ein benachbartes Dorf. Utrecht ist eine wunderschöne alte Stadt in den Niederlanden mit vielen Gebäuden aus dem Mittelalter. Sie schwirrt vor Leben. Wie alle Städte hat sie ihre Probleme, aber dank jahrelanger progressiver Kommunalpolitik bietet sie ihren Einwohnern eine hohe Lebensqualität. Und wie überall in den Niederlanden hat sie eine hervorragende Infrastruktur für Radfahrer, und nahezu alle radeln, Jung und Alt, Reich und Arm.
Es war ein herrlicher Tag, und während der Fahrt plauderten wir. Als wir den Stadtrand erreichten, kamen wir an einer Bank vorbei, auf der ein schlafender Mann lag. Er war unverkennbar in einer schlechten Verfassung: Seine Kleidung war ausgefranst und voller Flecken, seine Schuhe waren abgetragen und sein Gesicht und seine Hände voller Schwären. Als wir an ihm vorbei waren, fragte mein Sohn: »Mama, hast du das gesehen?« »Ja«, erwiderte ich, »das ist ein Obdachloser.« Mein Sohn schwieg eine Weile und sagte dann: »Ich schäme mich, dass wir als Gesellschaft Menschen so behandeln.«
Überall sieht man Obdachlose, die auf einer Bank oder einem Stück Pappe auf dem Bürgersteig schlafen, wenn auch an manchen Orten häufiger als an anderen. Die schlimmste Armut ist gewöhnlich für alle gut sichtbar: sei es nun Obdachlosigkeit oder eine andere Form materieller Entbehrungen – Kinder, die immer in denselben Kleidern in die Schule kommen und auf das kostenlose Mittagessen angewiesen sind, das sie dort bekommen. Dagegen ist großer Reichtum häufig unsichtbar. Tatsächlich ziehen es Reiche und Superreiche in vielen Ländern vor, unentdeckt zu bleiben. Sie bauen ihre Villen hinter hohen Zäunen oder in bewachten Wohnanlagen mit Kameras, die Neugierige in Schach halten. Sie tragen teure Kleidung und Schmuck, wenn sie Events mit anderen Superreichen besuchen, aber bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen sie an öffentlichen Orten mit dem Rest von uns zusammentreffen, versuchen sie häufig, nicht aufzufallen. In der Öffentlichkeit präsentiert sich Ungleichheit häufiger in Form von Armut als in Gestalt von extremem Reichtum.
Es mag trivial klingen, aber es gibt zwei Seiten der Ungleichheit. Sie kann zunehmen, weil die Armen ärmer werden oder weil die Reichen noch reicher werden – und die Mittelschicht und die Armen noch weiter hinter sich lassen. Wenn die Ungleichheit wächst, weil die Armen ärmer werden oder die Mittelschicht in Bedrängnis gerät, ist sie offensichtlicher und wird von vielen Menschen aus erster Hand erlebt. Es fällt uns auf, wenn auf den Straßen mehr Obdachlose und Bettler sind. Lebensmitteltafeln teilen den Medien ohne Zögern mit, wenn die Schlangen länger werden – wenn immer mehr Familien verzweifelt Unterstützung brauchen, weil ihr Einkommen nicht mehr für ihre Grundbedürfnisse ausreicht. Wenn dagegen die sehr Reichen reicher werden, ist in der Öffentlichkeit nicht viel davon zu sehen, und die Alltagserfahrung der meisten von uns verändert sich nicht. Zumindest nicht unmittelbar. Was passiert ist, können wir nur herausfinden, wenn wir die jährlichen Reichenlisten konsultieren oder die Medien über aktualisierte Statistiken der Vermögensverteilung berichten, das heißt, falls sie sich überhaupt entschließen, über diese Themen zu berichten.
Vielleicht erklärt das, warum in den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts nur wenige Menschen bemerkten, dass die Ungleichheit zuzunehmen begann. In vielen Ländern gab es eine Zeitlang keine spürbare Zunahme der Armut, und in manchen Entwicklungsländern, vor allem in China, wuchs die Mittelschicht. Die meisten Ökonomen fokussierten sich auf Letzteres und feierten, dass die Ausweitung des internationalen Handels die willkommene Auswirkung hatte, das Ausmaß extremer Armut im Globalen Süden zu verringern. Die Finanzkrise 2008 führte zwar zu einem sichtbaren Zuwachs von Menschen, die in Not gerieten, aber das Wort »Krise« vermittelte der Öffentlichkeit den irreführenden Eindruck, es handele sich um eine vorübergehende Störung eines Systems, das im Grunde auf einer gerechten Basis mehr Wohlergehen für alle schaffte.
Das alles änderte sich 2013, als der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty sein Buch Le Capital au XXIe siècle (dt.: Das Kapital im 21. Jahrhundert) veröffentlichte. Es schlug ein wie eine Bombe. Piketty und seine internationalen Mitarbeiter hatten neue Daten gesammelt, viele davon aus bis dahin unerforschten Quellen wie historischen Steuerunterlagen. Sie bestätigten die weit verbreitete Ansicht, dass die Ungleichheit in vielen reichen Ländern in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg abgenommen hatte. Der Krieg hatte sich als brutaler Gleichmacher erwiesen, da er viele große Vermögen vernichtet hatte; anschließend bemühte man sich, mit vereinten Kräften eine Gesellschaft wiederaufzubauen, in der alle aufblühen konnten. Aber Pikettys Analyse zeigte auch, dass es gegen Ende der siebziger Jahre einen klaren Wendepunkt gab und von da an die Ungleichheiten – beim Einkommen, aber mehr noch bei den Vermögen – stetig zugenommen hatten. Er entlarvte die Vorstellung als Mythos, dass es nie wieder Ungleichheiten in einer Größenordnung geben würde, wie sie zu Feudalzeiten existiert hatten: Wenn wir nicht politisch intervenieren würden, befänden wir uns auf dem Weg in eine neue quasi-feudale Ära, in der die wenigen nahezu alles, und die vielen nahezu gar nichts besäßen, warnte er.[1]
Leider hat er recht behalten. Angesichts der politischen Entscheidungen, die wir getroffen haben, bekommt extremer Reichtum freie Fahrt. Und sein lawinenartiges Anwachsen macht es zunehmend schwieriger, etwas gegen die Ungleichheit zu unternehmen. In den zehn Jahren, die seit Erscheinen von Pikettys Buch vergangen sind, sind die Reichen weiterhin immer reicher geworden: Alljährlich liefert der Oxfam-Bericht zur Vermögensungleichheit schockierende Statistiken zur globalen Vermögensverteilung. Nur ein Beispiel: Von 2020 bis 2022 waren Einkommen und Vermögen des obersten 1 Prozents doppelt so hoch wie das der übrigen 99 Prozent der Weltbevölkerung.[2]
Wenn wir eine Chance haben wollen, eine Lösung für dieses Problem zu finden, müssen wir das Wesen und Ausmaß extremen Reichtums verstehen. Wenn mein Sohn einen Obdachlosen sieht, können wir darüber reden, warum das passiert und was dagegen getan werden sollte; aber wir fragen uns kaum einmal – falls überhaupt –, welcher Zusammenhang zwischen den Superreichen, die in Villen hinter verschlossenen Toren wohnen, und den Obdachlosen auf der Straße oder den Mittelschichteltern besteht, die Mühe haben, ihre Miete zu bezahlen.[3]
Statistiken und andere Daten können uns genau aufzeigen, wie viel die reichsten Menschen der Gesellschaft typischerweise verdienen und besitzen; wie ihr Vermögen im Laufe der Zeit gewachsen ist und wie sie es erworben haben; und vor allem wie das oberste 1 Prozent als Ganzes seinen Reichtum vermehrt hat. Aber bevor wir uns in die Zahlen versenken, sollten wir herausfinden, wer diese Menschen sind. Über wen sprechen wir hier? Was für ein Leben führen sie? Eindeutig haben die Superreichen alle viel Geld. Auf die Frage, wie viel »viel Geld« ist, kommen wir später zurück, vorerst gehen wir als Arbeitsdefinition für »Superreiche« von Menschen aus, die jeweils über ein Vermögen von mindestens 5 Millionen Pfund oder über ein Einkommen verfügen, das es ihnen ermöglicht, ein solches Vermögen im Laufe der Zeit anzuhäufen. Viele Menschen haben ein beträchtliches Einkommen – nicht wenige CEOs großer Konzerne verdienen im Jahr 10 Millionen Pfund und mehr. Andere haben vielleicht ein geringeres Einkommen, aber beträchtliche Vermögenswerte wie Land, Immobilien oder geerbtes Geld. Ansehnliches Kapital dieser Art bedeutet, dass sie ihren Reichtum sich vermehren lassen können, da die Erträge von Investitionen und Darlehen aus solchen Vermögenswerten wesentlich höher sind als die von Ersparnissen einer Mittelschichtfamilie. Eine gewöhnliche Person mit bescheidenen Ersparnissen auf der Bank bekommt typischerweise weniger als 1 Prozent Zinsen, aber Menschen, die große Summen langfristig anlegen können, erhalten in der Regel 5 Prozent und mehr.
Sieht man sich jedoch ihr Leben an, wie sie ihr Vermögen angehäuft haben, was sie mit ihrem Reichtum tun und welche Ansichten sie zur Legitimität ihres Wohlstands hegen, sind die Supereichen äußerst verschieden. Das ändert nichts an der Tatsache, dass die Konzentration von Reichtum Risiken für die Gesellschaft birgt: In allen Fällen gibt es gewichtige Einwände gegen die Größe ihres Vermögens. Dennoch ist die Diversität der Superreichen wichtig. Wenn wir uns den Argumenten für (oder gegen) den Limitarismus zuwenden, werden wir sehen, dass ein Bewusstsein für die vielen, den Superreichen zur Verfügung stehenden Quellen des Reichtums uns zu erkennen hilft, welche dieser Argumente auf den Einzelnen zutreffen (es werden mehrere zutreffen, aber nicht alle für jeden oder zumindest nicht im selben Maß). Wenn wir eine politische Debatte über extremen Reichtum führen wollen, müssen wir darüber hinaus dafür sorgen, dass wir uns nicht auf eine spezifische Untergruppe der Superreichen fixieren, und unsere Behauptungen verallgemeinern. Das zu tun würde bedeuten, die Superreichen in Bausch und Bogen entweder zu glorifizieren oder zu verteufeln.
Eines...
Erscheint lt. Verlag | 24.4.2024 |
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Übersetzer | Ulrike Bischoff |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Armut • Bedingungsloses Grundeinkommen • Bücher über gerechten Reichtum • Buch über Verteilungsgerechtigkeit • Erbrecht • Erbschaftssteuer • Ethik • Julia Friedrichs • Kapitalismus • Kapitalismuskritik • Klimakrise • Kritik am neoliberalen Kapitalismus • Marlene Engelhorn • Milliardär • Mindestlohn • Moral • Multimillionär • occupy wall street • Ökonomie • Ökonomische Grenzen des Reichtums • Reichensteuer • Reichtumsgrenze • Soziale Gerechtigkeit • Soziale Ungleichheit • Streitschrift • Superreiche • taxmenow • Vermögensteuer |
ISBN-10 | 3-10-491620-9 / 3104916209 |
ISBN-13 | 978-3-10-491620-0 / 9783104916200 |
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