Echt (eBook)

Der Wert der Einzigartigkeit in einer Welt der Kopien | Warum wir Originale so sehr lieben

(Autor)

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2024 | 1. Auflage
200 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3166-9 (ISBN)

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Echt -  Wolf Lotter
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Nichts bedroht unseren Wohlstand so sehr wie die Fälschung Wir entfernen uns immer weiter von dem Wert und Wesen des Echten, des Originals, des Unverwechselbaren - sowohl in der Kultur als auch in Gesellschaft und Wirtschaft. Das Echte ist bereits so exklusiv geworden, dass es als Luxus gilt. Wie konnte es dazu kommen, dass das Einzigartige, Echte, Unverfälschte, das jahrtausendelang als Ideal galt, zu einer Nebensache wurde und die Rip-off-Kultur in allen Bereichen des Lebens fröhliche Urständ feiert? Wo Ideen, Produkte und Methoden geklaut werden und dafür auch kein Unrechtsbewusstsein besteht, wird dieser zentrale Wert der Wissensgesellschaft sabotiert - oft von den gleichen Leuten, die deren Verlust beklagen. Aber gerade für uns gilt: Das Original ist unsere Chance. Das Echte ist unser Kapital. Der Kampf um das Echte keineswegs sinnlos ist, er muss nur immer wieder neu geführt werden müssen. Wolf Lotter zeigt, wo wir ansetzen müssen und warum wir alle vom Wert des Echten profitieren.

Wolf Lotter, Jahrgang 1962, gelernter Buchhändler, studierte Kulturmanagement, Geschichte und Kommunikationswissenschaften, wurde aber dann Ende der 80er Jahre doch lieber Wirtschaftsjournalist. Er schreibt u.a. Kommentare für die Wirtschafswoche, Profil sowie Der Standard (beide Wien) und ist Kolumnist für die taz FUTURZWEI. Er ist auch Mitbegründer des PEN Berlin, gefragter Keynoter und häufig zu Gast in Podcasts und Radiosendungen. Seit 2022 ist er zudem Mitglied im Publikumsrat des ORF. 

Wolf Lotter, Jahrgang 1962, gelernter Buchhändler, ist seit Ende der 80er Jahre Wirtschaftsjournalist. Er schrieb für "trend", "News", "Falter" und "profil" in Wien, ist Mitbegründer und Edelfeder bei brandeins. Er hat eine Kolumne bei tazFuturZwei und verfasst Gastkommentare für WirtschaftsWoche und spiegel.de. Er ist auch Mitbegründer des PEN Berlin, gefragter Keynoter und häufig zu Gast in Podcasts und Radiosendungen. Seit 2022 ist er zudem Mitglied im Publikumsrat des ORF. Aktuell initiiert er NEXT DAVOS, ein Netzwerk der echten Wirtschaft.

2 – Die Welt, ein falscher Fuffziger


Lügen erscheinen dem Verstand häufig viel einleuchtender und anziehender als die Wahrheit, weil der Lügner den großen Vorteil hat, im voraus zu wissen, was das Publikum zu hören wünscht.(HANNAH ARENDT,
DIE LÜGE IN DER POLITIK, 1972)39

Echte italienische Küche


»Wer die Wahrheit sagt, braucht ein schnelles Pferd«, heißt es in einem Kalauer. Nun sind solche Sprüche häufig auf soliden Erfahrungen gegründet. Alle wollen die Wahrheit hören, solange sie nicht die eigenen Wahrheiten infrage stellt. Dann wird es unappetitlich.

In Italien wird der Wirtschaftshistoriker Alberto Grandi von vielen geächtet, und zwar allein deshalb, weil er seine Arbeit ordentlich gemacht hat. Grandi erforscht die Herkunft jener »echten italienischen Küche«, die weltweit als führende Hochküche gerühmt wird und außerordentlich beliebt ist. Italienische Salami, Käse, Wein, Oliven und vieles andere mehr sind durch eine streng reglementierte Herkunftsordnung gekennzeichnet, die »Denominazione d’Origine Protetta«, die »geschützte Ursprungsbezeichnung« (DOP). Wie schon bei der Ursprungsbezeichnung für Weine (DOC und DOCG) soll damit das Echte und Originale des Lebensmittels angezeigt werden. Ein Kampf gegen Fälschungen, der im Grunde allen recht sein müsste – Verbrauchern ebenso wie Anbietern.

Grandi aber hat 2018 ein Buch geschrieben mit dem Titel Denominazione di origine inventata, die »erfundene Ursprungsbezeichnung« also, woraus er mit seinem Kollegen Daniele Soffiati außerdem einen Podcast entwickelt hat, der auf breites Interesse stößt. Kein Wunder: Im Buch und in den Sendungen, längst auch in Interviews, zerlegt Grandi den Mythos der echten italienischen Küche gründlich.40 Der Parmesan, wie ihn die ganze Welt schätzt, komme nämlich mitnichten aus Parma, der Stadt, in der Brodi lebt und lehrt, sondern aus dem amerikanischen Wisconsin, wo italienische Einwanderer ihn herstellten. Erst von dort kehrte der Käse zurück nach Italien, wo er längst vergessen worden war. Auch die Spaghetti Carbonara sind amerikanischen Ursprungs, und, wie der Journalist und Italienkenner Luci Bernet in der Neuen Zürcher Zeitung spitz bemerkt, selbst die Tomatensoße ist »eine Erfindung der Spanier, die man in Italien noch spät im 19. Jahrhundert als ›salsa spagnola‹ bezeichnete«.41

Der Verkauf von Sachen, die als Originale ausgegeben werden, um den Menschen das Gefühl der Identität und Echtheit zu vermitteln, ist der Herzschlag des Konsumkapitalismus. In der Massengesellschaft wurde das Prinzip aller industriellen Produktion, Bedürfnisse nie ganz zu befriedigen, damit man jederzeit einen Nachschlag kaufen muss, zur Perfektion umgesetzt. Der Fachbegriff für diesen Vorgang heißt Marketing. Die ursprünglich großartige Idee, den Menschen unterschiedliche Produkte und Dienstleistungen näherzubringen, hat sich schon lange verselbstständigt. Es geht nicht mehr um Kenntlichmachung von Vielfalt, das also, was die guten alten Marktschreier von jeher getan haben, die ihre Ware loben; Marketing fälscht vielfach Herkünfte, gibt Falsches als echt aus, kopiert Originale und okkupiert rücksichtslos fremdes geistiges Eigentum. Marketing, wie es heute oft gedacht und gemacht wird, ist kulturelle Aneignung par excellence.

Weil es uns aber ums Echte geht, was immer auch, ob wir wollen oder nicht, mit der »ganzen Wahrheit« zu tun hat, müssen wir hinzufügen, warum das funktioniert: weil die Menschen sich ihre vermeintliche Echtheit nicht nehmen lassen wollen. Ihre Sehnsucht danach ist groß, denn die Wahrheit und Wirklichkeit, die in ihr stecken, bestätigen die eigenen Wünsche und Sehnsüchte. Das gilt auch für den Geschmack.

Es bleibt jedoch kompliziert. Denn vieles von dem, was kopiert wird, die falschen Fuffziger, die sich in unserem Bewusstsein als Originale breitmachen, sie sind oft eigenständig geworden, zu Originalen zweiter Klasse. Das trifft in der Musik auf Cover-Versionen zu, die berühmter werden als das Original, nehmen wir beispielsweise nur Joe Cockers Version von »With a little help for my friends«, die er auf dem legendären Woodstock-Festival sang – ein bis dahin etwas beschattetes Original der Beatles. Der Erfolg der Cover-Version wiederum gab dem Original einen Schub, und heute dürften sich die Popularität des Originals und des Covers die Waage halten.

Das Wiener Schnitzel kommt auch nicht aus Wien, sondern aus Mailand; ein Großteil der viel gerühmten Wiener Küche ist nichts anderes als ein Spiegelbild der vielfältigen Kulturen und Originale der Habsburger-Monarchie, die hier fusioniert haben. Fusion-Kitchen ist nicht neu, sondern fast überall Realität. Gibt es am Ende das Echte gar nicht?

Es zeigt sich nur, dass das, was sich als echt ausgibt, noch lange nicht echt ist, oder genauer: dass es eben viele Bereiche gibt, in denen Echtheit und Einmaligkeit und Herkunft und Originalität in sehr unterschiedlichen Dosen etwas Unverwechselbares gestalten. Die Anteile sind verschieden oder, wie es Patent- und Urheberrechtsanwälte sagen würden: Es kommt auf die »Schöpfungshöhe« an.

Italien, ein erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandener Nationalstaat, dessen höchst unterschiedliche Kulturen und Sprachen zwischen Turin und Taormina erst durch künstliche, politische Maßnahmen halbwegs vereinheitlicht werden mussten, ist besonders abhängig von einer »eigenen Identität«, von Echtheit, Originalen. Denn selbst das »Italienisch« ist zunächst nur ein florentinischer Dialekt, der zur Hochsprache ernannt werden musste. Das erklärt auch den extremen nationalen Kult, den Benito Mussolini und seine Republikanische Faschistische Partei treiben konnten. Das Land, das eigentlich wenig einig war, war anfällig für eine Klammer, ein großes Ganzes, auch wenn es bis heute nicht so recht damit klappen will.

Wenn sich Nationen auf die Suche nach ihren Wurzeln machen, stellen sie schnell fest, dass es nicht eine, sondern viele gibt, die wild durcheinander verwachsen sind. Der radikale Weg ist der rationale, der den Blick freigibt auf das, was ist, zumindest theoretisch, denn Nationalisten verweigern sich dieses Echtheitstests ihrer Herkunft konsequent. Nationalismus bedeutet Vereinheitlichung, Identität, die auf einen Nenner gebracht werden muss. Deshalb gebiert dieses System immer Opportunisten und Assimilanten, die sich ganz besonders engagiert für die »gute Sache der Nation« einsetzen. Wer das anzweifelt, gilt als Verräter.

Grandis Kritik an der »original italienischen Küche« wird als Kränkung empfunden. Sein berechtigter Einwand, dass diejenigen, die sich über seine Arbeit beschweren, mal die Geschichte der eigenen Vorfahren studieren sollten, prallt an diesen Konstruktionen ab. »Gastro-Nationalismus« nennt Grandi das, typisch für ein Land, das »mit der Moderne nicht zurechtkommt und deshalb in einer konstruierten Wirklichkeit leben will«.42 Dabei wisse eigentlich jeder, dass Millionen Italiener aus bitterer Armut und mit knurrenden Mägen ausgewandert seien, bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Aber die Konstruktion, der Mythos, ist stärker.

Normalos


Die Dummheit ist mächtig, und die Politik richtet sich nach ihrer wichtigsten Ressource, den Vorurteilen und Gewohnheiten ihrer Klienten. Dieses Beispiel wurde gewählt, um sich nun der nächsten Frage zuzuwenden, die bei der Echtheit eine große Rolle spielt.

Zum einen ist die Realität das, was wir wahrnehmen wollen – aber eben auch sollen. Damit hängt die Frage, ob wir etwas für echt und einzigartig halten, ein Original, auch davon ab, was wir gelernt haben. Kultur, das werden wir in diesem Zusammenhang immer wieder sehen, ist ein anderes Wort für Normalität.

Beim Lernen denken wir schnell an jene klaren und eindeutigen Regeln, die man uns in der Schule oder an der Universität beigebracht hat. Daneben werden wir, übrigens auch an Schulen und Universitäten, vor allem mit etwas abgerichtet, was Normalität heißt. Normalität ist »das Selbstverständliche in einer Gesellschaft, das nicht mehr erklärt und über das nicht mehr entschieden werden muss. Dieses Selbstverständliche betrifft soziale Normen und konkrete Verhaltensweisen von Menschen. Es wird durch Erziehung und Sozialisation vermittelt.«43 Der Wikipedia-Eintrag führt weiter aus: »In der Psychologie bezeichnet Normalität ein erwünschtes, akzeptables, gesundes, förderungswürdiges Verhalten im Gegensatz zu unerwünschtem, behandlungsbedürftigen, gestörtem, abweichenden Verhalten.«44

Hier sind wir an einem Kern des Themas der Bedeutung der Einzigartigkeit angelangt. Echtheit, Originalität, ist immer Differenz, erkennbarer Unterschied zu dem, was »normal« und »konform« ist. Keine Marke, kein Star, kein Talent und übrigens auch genau das Gegenteil davon wären bemerkbar, wenn sie normal oder konform wären. Nichts davon wirkt, wenn es einfach nur so ist wie etwas, das es schon gibt. Normalität und Konformität sind also geradezu das Gegenteil dessen, was Innovation und...

Erscheint lt. Verlag 14.3.2024
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Billig • ChatGPT • China • copycat • Fake • Fälschung • geistiger Diebstahl • Innovation • Klauen • Kopie • Nachahmung • Plagiate • Produktpiraterie • Reproduktion • Standortvorteil • Wissensgesellschaft
ISBN-10 3-8437-3166-7 / 3843731667
ISBN-13 978-3-8437-3166-9 / 9783843731669
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