Mutter ohne Kind (eBook)
272 Seiten
Tropen (Verlag)
978-3-608-12252-7 (ISBN)
Eva Lindner, geboren 1983, arbeitet als Journalistin u. a. für ZEIT WISSEN, DIE ZEIT und die Süddeutsche Zeitung. Sie ist Absolventin der Axel-Springer-Akademie, erhielt für ihre Reportagen mehrere Auslandsstipendien und berichtete u. a. aus Indien, dem Iran und Israel. Nachdem sie selbst eine Fehlgeburt erlitt, begann sie sich mit der gesellschaftlichen Tabuisierung auseinanderzusetzen. Eva Lindner lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Valencia, Spanien.
Eva Lindner, geboren 1983, arbeitet als Journalistin u. a. für ZEIT WISSEN, DIE ZEIT und die Süddeutsche Zeitung. Sie ist Absolventin der Axel-Springer-Akademie, erhielt für ihre Reportagen mehrere Auslandsstipendien und berichtete u. a. aus Indien, dem Iran und Israel. Nachdem sie selbst eine Fehlgeburt erlitt, begann sie sich mit der gesellschaftlichen Tabuisierung auseinanderzusetzen. Eva Lindner lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Valencia, Spanien.
»Hoffen wir, dass dieses wichtige Buch auch ein paar Menschen in die Hände fällt, die den Wille und die Position haben, das Thema Stille Geburt aus der Tabuzone zu holen und Betroffene besser zu unterstützen.«
Judith Fischer, Elle, 15. Februar 2024
»[E]in wunderbares Buch, das jede:r gelesen haben sollte, um das Tabu rund um Fehlgeburten in unserer Gesellschaft ernst(er) zu nehmen, damit sich für betroffene Eltern etwas ändern kann und sie nicht allein gelassen werden.«
Daniela Mundt, Sternenmamas, Folge 60, April 2024
Einleitung
Der 13. Februar 2021 ist sowohl der Geburts- als auch der Todestag meines zweiten Kindes. Alles daran fühlt sich falsch an. Eine Mutter sollte ihr Kind nicht zu Grabe tragen müssen. Sein Leben außerhalb meines Körpers hätte am 1. August begonnen, ein Sommerkind sollte es werden, ein Geschwisterchen für meine kleine Tochter. Alles kam anders. Im vierten Monat der Schwangerschaft habe ich mein Baby nachts zu Hause in meinem Badezimmer zur Welt gebracht.
Nichts hat mich auf das vorbereitet, was ich an diesem 13. Februar erleben sollte. Alle Vorsorgeuntersuchungen waren unauffällig, ich sprach regelmäßig mit meiner Frauenärztin und meiner Hebamme, nahm meine Nahrungsergänzungsmittel, blieb in Bewegung, ernährte mich gesund.
An besagtem Abend sind wir bei unseren Nachbarn zu Besuch, unterhalten uns bis in die Nacht. Als wir nach Hause kommen, sehe ich ein paar Tropfen Blut in meiner Unterhose. Ich bin beunruhigt und weiß gleichzeitig, dass das mal vorkommen kann. Mein Mann sagt, das sei bestimmt nichts Schlimmes. Wir sind müde und legen uns schlafen.
Ein paar Stunden später wache ich plötzlich auf, Wasser läuft aus mir heraus. Ich stürze ins Badezimmer, weiß, es ist Fruchtwasser, ein Blasensprung. Wie bei meiner Tochter ein paar Jahre zuvor, nur platzte die Blase damals in der 38. Woche … Am Ende hielt ich ein gesundes Kind in den Armen. Diesmal ist es die 16. Woche. Schnell mischt sich Blut unter das Wasser, ich bekomme Krämpfe, Wehen, Schmerzen. Ich schreie: »Nein, bitte nicht!«, schreie: »Ich verliere unser Kind!«, presse meine Hand gegen das, was aus meinem Körper kommt, als könnte ich aufhalten, was schon längst haltlos ist.
Mein Mann schließt die Fenster und die Badezimmertür, unsere Tochter darf auf keinen Fall aufwachen. Gewebestücke kommen aus mir heraus, Blut fließt, mein Körper bebt, ist außer Kontrolle. Ich weiß nicht, was schon in der Toilette gelandet ist, auf der ich sitze, was noch in mir ist. Mein Mann verliert plötzlich das Bewusstsein, liegt vor mir auf dem Badezimmerboden und ist kurzzeitig nicht ansprechbar. Was tun?
Meine Hebamme geht nach dem ersten Anklingeln ans Telefon. Sie weiß sofort, was passiert ist, sagt, es tue ihr leid. »Ich bin doch schon fast im fünften Monat«, rufe ich ins Telefon. »Alle wissen Bescheid.« Sie sagt, ich müsse mich jetzt um mich kümmern. Mein Mann solle mir helfen, das Kind aus mir herauszuziehen, wir sollten schauen, ob es lebt, es einwickeln und den Krankenwagen rufen. Ich weine, schreie unter Schmerzen und Verzweiflung. Gemeinsam holen wir unser Baby auf die Welt. »Schau nicht hin«, sagt mein Mann und wickelt es ein. Unser Kind ist tot.
Als die Sanitäter kommen, übergibt er ihnen unser lebloses Baby, klingelt unsere Nachbarn wach und drückt ihnen das Babyphon in die Hand. Im Krankenwagen muss er sich übergeben. Ich bekomme nichts davon mit, wimmere vor mich hin: »Mein Baby, mein Baby.«
Auf dem Weg in den OP zur Ausschabung weine ich noch immer. Die Krankenpfleger*innen und der Anästhesist scherzen währenddessen neben meinem Bett miteinander. »Ach Benni, du so früh schon hier heute? Mensch, was verschafft uns die Ehre?« Gelächter. Ich kann es nicht fassen. Das Leben der anderen geht ganz normal weiter, während das meines Kindes – und auch mein eigenes, wie ich es bisher kannte – zu Ende ist.
Irgendwann legt mir eine Pflegerin ihre Hand auf den Arm und sagt: »Dieses schreckliche Jahr, Corona und alles. Das sollte wohl nicht sein. Beim nächsten Mal klappt es bestimmt.« Etwas Brutaleres hätte sie in diesem Moment nicht zu mir sagen können. Als wäre ein Kind etwas, das ich austausche, als könnte ich mir ein neues holen, weil das andere nicht gut genug war.
Ich will nicht irgendein Kind, ich will dieses Kind, ich will mein Kind.
Als ich aufwache, ist mein Körper mir fremd, mein Bauch leer, mein Kopf dumpf. Vor ein paar Stunden war ich eine werdende Mutter, die ein Baby unter dem Herzen trug. Jetzt bin ich eine leere Hülle. »Warum?«, frage ich die Ärztin. Sie sagt, es gab Durchblutungsstörungen in der Plazenta. Etwas, das sie sehr häufig sieht. Ja, auch in diesem Stadium. Nein, es hätte nichts geändert, gleich ins Krankenhaus zu kommen, als ich das Blut gesehen habe. Niemand hätte es verhindern können.
Was passiert ist, ist ein Routinefall für sie und alle im Krankenhaus. Für mich ist es eine Katastrophe. Ich fühle mich, als wäre ich selbst nicht mehr da. Alles um mich herum ist nebelig und weit weg. Die Ärztin fragt, ob ich mit einem Seelsorger sprechen möchte. Kirche? Eher nicht. Sie sagt, er sei sehr freundlich und habe schon vielen Paaren geholfen.
Zwei Stunden bleibt der Seelsorger bei uns. Er hört zu, fühlt mit und zeigt uns auf, wie es jetzt weitergeht: In einer Sammelbestattung könnten wir gemeinsam mit anderen betroffenen Eltern unser Kind beerdigen. Er rät uns, was wir unserer knapp dreijährigen Tochter sagen können, die sich schon so auf ihr Geschwisterchen gefreut hat. Dass unser Kind nicht zu uns kommen konnte, obwohl wir das alle so sehr wollten. Dass es jetzt auf einem Stern ist und auf uns herunterblickt. Dass es nicht allein sei, sondern eines von vielen »Sternenkindern«. Ich höre den Ausdruck zum ersten Mal in meinem Leben.
Ein paar Tage später untersucht mich meine Frauenärztin, sagt, meine Gebärmutter sei in Ordnung, ich könnte in ein paar Monaten wieder schwanger werden. Sie schreibt mich für zwei Wochen krank. Ich solle wiederkommen, wenn ich erneut schwanger bin. Mein Risiko, eine weitere Fehlgeburt zu erleiden, sei zwar nun leider höher, aber es gäbe Möglichkeiten: Mit einer Operation könne man den Muttermund verschließen, sodass es weniger leicht zu einer Infektion komme – ein häufiger Grund für Fehlgeburten. Das sollte mir Hoffnung machen, mir signalisieren, wir tun medizinisch alles, damit das nicht wieder passiert. Was bei mir hängenbleibt, ist: Nächstes Mal – sollte es ein nächstes Mal geben – wird alles noch riskanter und komplizierter. Schon dieses Mal stand aufgrund meines Alters und einer Vorerkrankung »Risikoschwangerschaft« in meinem Mutterpass. Nach der Fehlgeburt, so scheint mir, bin ich ein wirklich schwieriger Fall.
Mit keinem Wort erwähnt sie, was psychisch auf mich zukommen könnte und was mich überrollen sollte wie ein Steinschlag. Während mein Körper wenige Tage nach dem Verlust meines Kindes schmerzfrei ist und so tut, als wäre nichts gewesen, beginnt mein Kopf erst langsam zu verstehen, was eigentlich passiert ist. Tagelang liege ich im Bett und weine, schäme mich, misstraue meinem Körper, hasse ihn für sein Versagen, fühle mich schuldig und unter Druck, »den Fehler«, den mein Körper gemacht hat, wieder gut zu machen, also so schnell wie möglich wieder schwanger zu werden.
Viele Frauen erleben täglich das, was ich erlebt habe. Weltweit kommt es jährlich zu 23 Millionen Fehlgeburten. In jeder Minute, die verstreicht, verlieren 44 Frauen auf dieser Welt ihre Schwangerschaft.[1] Auch jetzt gerade, in dieser Minute.
Das deutsche Gesetz unterscheidet in nüchternen Zahlen und seiner bürokratischen Sprache zwischen »Fehlgeburt« und »Totgeburt«. Die beiden Bezeichnungen kritisieren viele Hebammen, Sterneneltern-Vereine und Aktivist*innen zu Recht, weil sie zur Stigmatisierung beitragen. Sie ersetzen den Ausdruck »Totgeburt« durch »Stille Geburt« oder »Stillgeburt«, da er empathischer und würdevoller ist. Auch ich verwende im Folgenden »Stille Geburt« und schreibe ihn groß, um dazu beizutragen, ihn als festen Begriff zu etablieren. Alternativ setze ich den Ausdruck »Totgeburt« in Anführungszeichen, um zu verdeutlichen, dass er nicht von mir stammt.
In »Fehlgeburt« steckt das Wort »Fehler« oder etwas »Fehlerhaftes«, was weder die Mutter noch das Kind sind. Die Bezeichnung ist Ausdruck patriarchaler Machtstrukturen und des männlichen Blicks auf das weibliche Erleben. Sie symbolisiert, wie sehr sich unser Gesundheitssystem an Effizienz orientiert. »Fehlgeburt« spricht den Betroffenen ihre Elternschaft ab und kann mit Unfähigkeit oder Schuld in Verbindung gebracht werden. Genau dagegen möchte ich in diesem Buch anschreiben.
Gleichzeitig kommen wir noch nicht ohne den Ausdruck aus. Denn eine »Fehlgeburt« ist in Abgrenzung zu einer »Totgeburt« genau definiert und wird in Medizin und Recht verwendet. Der Ausdruck ist in unserer Gesellschaft geläufig. Ich sehe meine Aufgabe als Journalistin darin, Menschen dort abzuholen, wo sie mit ihrem Wissen stehen. Von dort aus können wir gemeinsam weitergehen – in eine Zukunft, die das Wort »Fehlgeburt« durch Bezeichnungen wie »kleine Geburt« ersetzt hat. Diesen Ausdruck verwenden Hebammen, Aktivist*innen und Betroffene zunehmend, wenn auch uneinheitlich und weniger trennscharf zur Stillen Geburt. Gleichzeitig gibt es Bestrebungen, den Begriff »Fehlgeburt« umzudeuten und ihn weniger auf einen »Fehler« als vielmehr auf ein »Fehlen« des Kindes hin zu begreifen. All dies sind lobenswerte Bemühungen, die bejahen, dass es sich um eine Geburt handelt, auch wenn das Baby nicht mehr lebt.
Zwischen der 12. und 24. Schwangerschaftswoche sprechen Ärzt*innen von einem »Spätabort«. Das in der Medizin gängige Wort »Abort« verwende ich nicht, da es altertümlich auch eine Toilette bezeichnet. Und auch wenn das Geschehen leider oftmals genau an diesem Ort stattfindet, ist er der Bezeichnung eines Kindsverlustes unwürdig. Alternativ verwende ich den Begriff »Schwangerschaftsverlust« – allerdings unabhängig von der Schwangerschaftswoche, in der dieser eingetreten ist.
In Paragraf 31 der Personenstandsverordnung heißt es: »Die Leibesfrucht« gilt »als ein tot geborenes Kind«, wenn »das Gewicht des Kindes...
Erscheint lt. Verlag | 17.2.2024 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Anna-Maria Ferchichi • Buch • Bundestag • Elternzeit • Familie gründen • Familiengründung • Familienkette • Familienplanung • Fehlgeburt • Frauen • Frauengesundheit • Gesellschaftskritik • gestaffelter Mutterschutz • Gesundheit • Gleichberechtigung • Journalistin • Kind • Kinderwunsch • Kind verloren • Marie Nasemann • Mutter • Mütter • Mutterschaft • Mutterschutz • Natascha Sagorski • neue Bücher 2024 • Neues Sachbuch 2024 • Petition • Politik • Ratgeber • Schwanger • Schwangerschaft • stille Geburt • Tabu • Teresa Bücker • wichtig |
ISBN-10 | 3-608-12252-4 / 3608122524 |
ISBN-13 | 978-3-608-12252-7 / 9783608122527 |
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