Mythos Nationalgericht. Die erfundenen Traditionen der italienischen Küche (eBook)

Warum Parmesan politisch ist | Ein spannender wie unterhaltsamer Einblick in die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Italiens
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
256 Seiten
Harpercollins (Verlag)
978-3-7499-0696-3 (ISBN)

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Mythos Nationalgericht. Die erfundenen Traditionen der italienischen Küche -  Alberto Grandi
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Warum Parmesan politisch ist - das Skandalbuch aus Italien

Weltweit gilt die italienische Küche als Inbegriff von Genuss und kulinarischer Perfektion. Und nichts ist in Italien so heilig wie die prodotti tipici, die regionalen Spezialitäten, die anerkannte Siegel wie DOC oder DOP tragen. Exportschlager wie Parmigiano Reggiano, Prosciutto di San Daniele oder Dolcetto d'Alba werden als nationales Kulturgut gehandelt.

Kaum ein anderes Buch erhitzte die italienischen Gemüter daher so sehr wie die Erkenntnisse des in Parma lehrenden Wirtschaftshistorikers Alberto Grandi: Die viel gehypte Authentizität italienischer Produkte sei vor allem auf geschickte Marketingstrategien der Lebensmitteindustrie in den Siebzigerjahren zurückzuführen, deren angeblich uralte Herkunft schlicht erfunden. Parmesan, wie er früher einmal war, bekommt man mittlerweile nur noch in Wisconsin.

Alberto Grandi brachte damit das nationale Selbstverständnis seines Landes ins Wanken, die Empörung reichte bis in die Regierungskreise und über die Landesgrenzen hinaus. Warum Nationalismus manchmal auch auf dem Teller beginnt. Mit Wissen und Humor zerlegt Grandi ihn genüsslich.



ALBERTO GRANDI ist Historiker an der Universität Parma. Er forscht zur Wirtschaftsgeschichte Italiens und hat mehrere Bücher über die Herkunft italienischer Speisen geschrieben. In seinem Podcast DOI (Denominazione di origine inventata, erfundene Herkunftsbezeichnung) spricht er über Mythen und das Verhältnis seiner Landsleute zum Essen.

Einführung


Eine Tradition wird erfunden

Wo ist eigentlich die italienische Küche entstanden? »Natürlich in Italien!«, würden junge Leserinnen und Leser antworten. Nein, Kinder, da täuscht ihr euch … Erstens war Italien bis vor nicht allzu langer Zeit gar kein Staat, sondern nur eine geografische Bezeichnung. Zweitens haben zwar die Bewohner des Landes, das wir heute Italien nennen, ganz bestimmt schon lange vor dem 17. März 1861 irgendetwas gegessen – doch das, was viele heute mit aller gebotenen Vorsicht als »italienische Küche« bezeichnen, ist unbestreitbar erst ein Jahrhundert nach der schicksalhaften Gründung des italienischen Nationalstaats entstanden.

Nun kann man einwenden, dass es sich bei der italienischen Küche doch immerhin um ein soziales, kulturelles und vielleicht auch ökonomisches Phänomen handelt, das sich innerhalb Italiens entwickelte, selbst wenn es erst etwa hundert Jahre nach der politischen Einigung in Erscheinung trat. »Italien ist gemacht; was zu machen bleibt, sind die Italiener«, hatte 1861 der bekannte Dichter Massimo d’Azeglio vorausgesehen. Es galt allein schon als schwieriges Unterfangen, allen die gleiche Sprache beizubringen und alle den gleichen Gesetzen zu unterstellen; da konnte man sich leicht ausmalen, wie schwierig es erst würde, sie von den gleichen Speisen zu überzeugen, selbst in den jeweiligen regionalen Varianten. Aber dazu ist es nicht gekommen, vielmehr ist das Gegenteil eingetreten: Während die Italiener widerstrebend und ganz allmählich lernten, eine gemeinsame Sprache zu sprechen (über die Gesetze breiten wir besser den Mantel des Schweigens …), haben sie sich beim Essen nach und nach immer weiter voneinander entfernt.

Sehr lange Zeit teilten sie sich nämlich in terroni (»Erdfresser«, eine abschätzige Bezeichnung für die Menschen Süditaliens) und polentoni (»Maisfresser«, die Norditaliener) auf. Arme Bauern allesamt, waren die polentoni, um notdürftig satt zu werden, stärker auf den Mais angewiesen, mit allen daraus folgenden Problemen. Will man also eine Geschichte der italienischen Regionalküche schreiben, ist man bedauerlicherweise gezwungen einzuräumen, dass zumindest vom Beginn des 18. bis zu den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts nur zwei Küchen existierten: die mit Mais als Grundnahrungsmittel und die ohne Mais – so wie Clint Eastwood laut Sergio Leone nur zwei Gesichtsausdrücke besitzt: einen mit Hut und einen ohne.

Knapp zusammengefasst lautet also die These dieses Buchs: Der Mythos der italienischen Küche ist in den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts entstanden und damit vor rund fünfzig Jahren. Als das seit Mitte der Fünfzigerjahre rasante wirtschaftliche Wachstum nach und nach stagnierte, begann Italien die Großindustrie als Entwicklungsmodell infrage zu stellen und schlug, verglichen mit anderen Industriestaaten, einen ganz eigenen Weg ein. Er bestand darin, kleine Firmen und Industriedistrikte (heute oft als Cluster bezeichnet) sowie das »Made in Italy« und damit auch die angeblichen Spitzenleistungen im Bereich der Gastronomie und des Weinbaus als zentrale Wachstumsfaktoren aufzuwerten – und verzichtete umgekehrt auf eine Industriepolitik, die auf Forschung und Investitionen, auf Prozessoptimierung, neue Energiequellen und Ähnliches setzte.

Was insbesondere die regionalen Spezialitäten betrifft, herrscht in Italien mehr als in anderen Ländern der absurde Anspruch, Traditionen per Dekret zu kodifizieren, ohne zu hinterfragen, ob der verbissene Versuch der Zertifizierung für die jeweiligen Gebiete überhaupt Vorteile hat. Label wie DOC, DOCG, DOP, IGP, IGT und PAT STG sind die neuen Wappen, mit denen man ihnen eine regionale Identität verpassen will.

Vor einiger Zeit hat sich die Senatorin auf Lebenszeit Elena Cattaneo, eine Pharmakologin und Biologin von Weltruhm, in einem Interview darüber beklagt, dass Italien nicht mehr an die Wissenschaft glaube. So wie ich es sehe, glaubt Italien schon längst nicht mehr an die Zukunft – aus diesem Grund arbeiten die Italiener unermüdlich daran, sich eine Vergangenheit der Pracht und Opulenz zu erfinden, die sich ganz entscheidend von der echten unterscheidet, in der sie – das sollte man nie vergessen – schlicht und einfach Hunger litten. Von wegen gastronomische und önologische Kompetenz! Hier sind wir bei einem Dreh- und Angelpunkt meines Buches: Ich möchte zeigen, dass man Traditionen erfinden und die Vergangenheit im Dienste der Gegenwart manipulieren kann. Es handelt sich hierbei nicht um einen neuen Gedanken, das sei klar gesagt: Der große englische Historiker Eric Hobsbawm hat schon vor mehr als dreißig Jahren, gemeinsam mit anderen Autoren, ein Buch mit dem Titel The Invention of Tradition (Erfundene Tradition) verfasst. Der Sammelband enthält eine ganze Reihe von Beispielen erfundener Traditionen, darunter die wahrscheinlich berühmteste, den schottischen Kilt, der sich definitiv erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierte, was Mel Gibson und seinen mittelalterlichen Helden Braveheart nicht anfocht.

Im Einführungskapitel seines Buchs liefert Hobsbawm Erklärungen dafür, warum und wie sich eine Gesellschaft zu bestimmten Zeitpunkten Traditionen erfindet. Wie, werde ich später erklären, doch zum Warum scheint mir folgendes Zitat sehr aussagekräftig: »Es ist davon auszugehen, dass dieses Phänomen besonders häufig dann auftritt, wenn eine rasche Transformation der Gesellschaft die sozialen Muster schwächt oder zerstört, für die die ›alten‹ Traditionen geschaffen wurden, und neue Muster entstehen, auf die diese Traditionen nicht mehr anwendbar sind.« Meiner Ansicht nach riss der tiefgreifende Wandel, dem die italienische Gesellschaft von Mitte der 1950er- bis Mitte der 1960er-Jahre unterworfen war, die alten sozialen Modelle und Identitäten mit sich fort. Und ich bin überzeugt, dass eine so umfassende Veränderung in so kurzer Zeit bei der Bevölkerung zu einem schmerzhaften und traumatischen Verlust von Identität und kulturellen Orientierungspunkten führte. Der Übergang von einer Agrar- zu einer Industriegesellschaft, der in anderen Ländern ein Jahrhundert und länger dauerte, vollzog sich in Italien innerhalb von nur zwei Jahrzehnten.

Zum Leidwesen Italiens fiel diese zum Teil chaotische Umwälzung mit einer der weltweit größten Wirtschaftskrisen seit Beginn der industriellen Revolution zusammen. Im Lauf der 1970er-Jahre kamen den westlichen Gesellschaften und Ökonomien all die Sicherheiten und das Vertrauen in den Fortschritt abhanden, von denen sie sich seit Ende des Zweiten Weltkriegs hatten leiten lassen. Als Erstes brach die Gewissheit eines unendlichen ökonomischen Wachstums in sich zusammen, was das Land in einen veritablen Schockzustand versetzte. Denn der Identitätsverlust der vorausgehenden zwanzig Jahre war nur deshalb halbwegs zu verdauen gewesen, weil damit ein außerordentlicher Zuwachs an Wohlstand und Konsum einhergegangen war. Mit der Stagnation spürte man plötzlich all die ungelösten Probleme und Widersprüche, die man unter Verweis auf Fortschritt und Entwicklung ignoriert hatte, nur allzu deutlich. Der Zukunft, die bis dahin Faszination und Begeisterung hervorgerufen hatte, sah man nun etwas ängstlich entgegen. Von da nahm die Erfindung der Vergangenheit und Tradition ihren Ausgang, als Zufluchtsort und Rettungsanker in einer Welt, die zu kompetitiv und feindlich geworden war, um ihr mit Offenheit zu begegnen. Mochte der Wettbewerb im Bereich Innovation viel zu hart geworden sein, mit seiner Geschichte war Italien nur schwer zu toppen. Und ein Bestandteil dieser wiederbelebten Geschichte war die gute Küche, auch wenn die italienische Bevölkerung über Jahrhunderte hinweg aus Mangelernährten und Hungernden bestanden hatte.

Bei manchen mag nun der Eindruck entstehen, ich würde ein wenig übertreiben. Weder litten alle Italiener Hunger noch waren sie alle Bauern – ein großer Teil sicher, aber nicht alle. Viele lebten in Städten, wo es, wie wir sehen werden, ganz anders zuging.

Kann man außerdem etwa die berühmten Kochbücher von Cristoforo di Messisbugo, Bartolomeo Scappi und Bartolomeo Stefani völlig ignorieren? Oder gar die bahnbrechenden Neuerungen eines Pellegrino Artusi? Keineswegs, auf Artusi komme ich noch zu sprechen, doch wenden wir uns kurz den drei Erstgenannten zu, große Köche an den Adelshöfen der Renaissance, die mit ihren raffinierten und durchkomponierten Gerichten Päpste und Kaiser in Erstaunen versetzten. Aber genau das ist der springende Punkt: Es handelte sich um Speisen für Päpste und Kaiser, von deren Existenz der allergrößte Teil der Bevölkerung Italiens nicht einmal etwas ahnte, obwohl diese Küche, die man als geradezu theatralisch bezeichnen könnte, auch öffentlich zur Schau gestellt wurde. So geschehen im Jahr 1487 in Bologna anlässlich der Hochzeit von Annibale Bentivoglio und Lucrezia d’Este: Die einzelnen Gänge des Banketts wurden, bevor man sie den hochwohlgeborenen Gästen servierte, über den Stadtplatz getragen, damit auch das Volk die ganze Pracht zu Gesicht bekam.

Unter den Schaulustigen in Bologna, die der Parade der prunkvollen Gerichte bewohnten, befand sich wahrscheinlich auch irgendein Nachkomme der berühmten Figur Bertoldo, von dessen Heldentaten der Bologneser Giulio Cesare Croce zu Beginn des 17. Jahrhunderts berichtet. Der schlaue Rüpel starb bekanntermaßen »unter starken Schmerzen«, weil er am Hof des...

Erscheint lt. Verlag 21.5.2024
Übersetzer Andrea Kunstmann
Sprache deutsch
Original-Titel Denominazione di origine inventata
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Essen / Trinken
Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Wirtschaft
Schlagworte Aufdeckung • Authentizität • Essensgeschichte • Identität • Italien • Italienische Küche • Klischee • Konstruktivismus • Kulinarisch • Mythen des Alltags • Nationale Identität • Parmesan • Pasta • Pizza • Skandalbuch Italien • Spagetti • Ursprünge • Ursprünge der italienischen Küche • Vorurteile • Wahrheit über italienisches Essen
ISBN-10 3-7499-0696-3 / 3749906963
ISBN-13 978-3-7499-0696-3 / 9783749906963
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