Ein deutscher Kanzler (eBook)
336 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3179-9 (ISBN)
Daniel Brössler, geboren 1969, ist als Leitender Redakteur im Berliner Parlamentsbüro der Süddeutschen Zeitung zuständig für das Kanzleramt. Seit dessen Amtsantritt begleitet er Olaf Scholz auf seinen Reisen und hat vor dem Überfall auf die Ukraine die Besuche des Kanzlers in Washington, Moskau und Kiew aus der Nähe erlebt. Im Juni 2022 gehörte er zur kleinen Reisegruppe des Kanzlers auf der Zugfahrt nach Kiew. Für sein Stück »Schreckliche Neue Welt« über Olaf Scholz und die »Zeitenwende« wurde er 2023 mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet.
Daniel Brössler, geboren 1969, ist als Leitender Redakteur im Berliner Parlamentsbüro der Süddeutschen Zeitung zuständig für das Kanzleramt. Seit dessen Amtsantritt begleitet er Olaf Scholz auf seinen Reisen und hat vor dem Überfall auf die Ukraine die Besuche des Kanzlers in Washington, Moskau und Kiew aus der Nähe erlebt. Im Juni 2022 gehörte er zur kleinen Reisegruppe des Kanzlers auf der Zugfahrt nach Kiew. Für sein Stück »Schreckliche Neue Welt« über Olaf Scholz und die »Zeitenwende« wurde er 2023 mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet.
Pragmatiker
Für Scholz geht noch vor dem Mauerfall eine Ära zu Ende. Sein Auftreten im Juso-Bundesvorstand wird konzilianter. Er sucht Kompromisse, über Begriffe wie »Ostblock« streitet er nicht mehr. 1988 kandidiert er nicht mehr als Vize-Vorsitzender der Jusos, obwohl er die Altersgrenze noch nicht erreicht hat; ein Jahr später auch nicht mehr fürs IUSY-Präsidium. Scholz beschäftigen die Widersprüche, aber diesmal sind es die eigenen. Er hat nie feststellen können, dass das Leben im Osten das bessere wäre. Die Reisen als IUSY-Vizepräsident, etwa nach Lateinamerika, haben Scholz nachdenklich gemacht. Er muss sich eingestehen, dass sich radikale Linke oft als gewöhnliche Machos entpuppen mit Ansichten, die er seltsam findet. Scholz beginnt das eigene Land, die Bundesrepublik, mit anderen Augen zu sehen. Wenn er ehrlich mit sich ist, findet er es mit seinem Sozialstaat und seiner Liberalität gar nicht so schlecht. Später wird ihm, wenn er nach den 70er- und 80er-Jahren gefragt werden wird, auch nicht als Erstes die Atomangst in den Sinn kommen, sondern ein trotz allem optimistisches Lebensgefühl. Scholz schließt ab mit der Gedankenwelt des Stamokap, aber er tut das für sich. Er genießt den Luxus, nicht in der Öffentlichkeit zu stehen. Abtreten zu können, ohne sich erklären zu müssen.
Einmal noch, während der Massendemonstrationen in der DDR 1989, bekommt Olaf Scholz Besuch von der damaligen Juso-Bundesvorsitzenden Susi Möbbeck und einigen anderen aus dem Bundesvorstand. Sie interessieren sich dafür, wie es in der DDR weitergehen könnte, und wollen die Einschätzung von Scholz hören, der ja oft dort war für die Jusos. Die deutsche Einheit werde kommen, prognostiziert Scholz. Auf die erstaunte Nachfrage, was ihn da so sicher mache, entgegnet er: »Die Panzer sind weg.«
Ist Scholz’ Entschluss, der Politik den Rücken zu kehren, endgültig? Er weiß es noch nicht. Erst einmal begibt er sich ins politische Abklingbecken, konzentriert sich auf seinen Beruf. Scholz, der sich schon als junger Rechtsanwalt auf Arbeitsrecht spezialisiert hatte, gründet 1990 mit einer Kollegin die Kanzlei »Zimmermann, Scholz & Partner«. Ein paar Jahre lang lässt er sich bei der SPD nur sehr gelegentlich blicken, aber die Phase der Enthaltsamkeit dauert nicht lang. Ohne Politik geht es nicht, das wird ihm klar. 1994 wird er zum Kreisvorsitzenden der SPD in Altona gewählt. Aber jetzt gehört er zum Mainstream. Er sieht sich als Pragmatiker, als Mann des Ausgleichs und des Kompromisses. Was bleibt? Sicher die Erinnerung an die Zeit der Kriegsangst, der Angst vor der Atombombe, an die Erfahrung in der Friedensbewegung. Die vielen Reisen in die DDR und in die Sowjetunion scheinen weniger Spuren hinterlassen zu haben. Scholz hegt keine romantischen Gefühle für Russland. Im Unterschied zum österreichischen Genossen Gusenbauer pflegt er auch keine extensiven Kontakte in den Osten. Gusenbauer ist nach seiner Zeit als Kanzler geschäftlich in den Republiken der einstigen Sowjetunion unterwegs und lässt sich vom früheren russischen Eisenbahnchef Wladimir Jakunin engagieren für seinen »Dialog der Zivilisationen«. Über viele Jahre hat Scholz dagegen weder in noch mit Russland zu tun.
Dafür ist Scholz nach der Wende als Arbeitsrechtler viel in den neuen Ländern unterwegs. Er erlebt, wie die Überreste der Planwirtschaft von der Treuhandanstalt abgewickelt werden. Scholz arbeitet Sozialpläne aus. Die Privatisierung hält er für richtig, aber er hadert mit ihren Härten. Das prägt ihn, als er 1998, zehn Jahre nach seinem Abschied als Vize-Chef der Jusos, zurück in die Bundespolitik will und ein Bundestagsmandat anstrebt. Es ist auch das Jahr, in dem Olaf Scholz Britta Ernst heiratet. Ernst arbeitet in der Hamburger Stadtentwicklungsbehörde und ist seit 1997 Mitglied der Hamburger Bürgerschaft. Beide, Scholz wie Ernst, sehen ihre berufliche Zukunft in der Politik.
Beider Überzeugung, dass sie unabhängig voneinander ihre politische Laufbahn verfolgen können, wird viele Jahre später, 2011, erschüttert werden. Nachdem Scholz die Wahl in Hamburg gewonnen hat, stellt sich die Frage, ob es für die parlamentarische Geschäftsführerin der SPD in der Bürgerschaft einen Platz in der neuen Stadtregierung gibt. Das ist Britta Ernst. Nach etlichen kritischen Kommentaren verzichtet Ernst auf den Eintritt in den Senat unter Scholz als Erstem Bürgermeister, lässt in einem offenen Brief aber ihrem Frust freien Lauf. Viele sähen »in der vermeintlichen Unvereinbarkeit angesichts meiner Arbeit als Politikerin eine große Ungerechtigkeit« und bedauerten, »dass einmal wieder eine Frau zugunsten der Karriere des Mannes zurückstecken müsse«, schreibt sie. Ernst arbeitet dann zunächst für die SPD-Bundestagsfraktion und wird später Bildungsministerin in Schleswig-Holstein, danach in Brandenburg. Im Bundestagswahlkampf 2021 wird Scholz während eines öffentlichen Interviews mit der Frauenzeitschrift Brigitte »ehrlicherweise empört« auf die Frage reagieren, ob seine Frau im Falle seiner Wahl zum Bundeskanzler berufstätig bleiben werde.
1998 ist das Zukunftsmusik. Scholz’ Karriere als Bundespolitiker steht ganz am Anfang. Im hart umkämpften Wahlkreis Altona setzt er sich in der Bundestagswahl mit 11,5 Prozentpunkten Vorsprung vor dem CDU-Kandidaten durch, seine zweite politische Laufbahn beginnt. Gerhard Schröder wird auf seinen Bekannten aus Juso-Tagen aufmerksam. Ende 2001 macht er ihn zum SPD-Generalsekretär. Scholz’ wichtigste Aufgabe wird schon bald darin bestehen, die von Schröder geplanten Reformen, die in der SPD ungeliebte Agenda 2010, zu verteidigen. Scholz tut es in endlosen, sich wiederholenden Stanzen. Die Deutschen schließen Bekanntschaft mit dem »Scholzomaten«. Scholz spürt, dass er auf verlorenem Posten kämpft. Trotzdem bleibt er loyal, macht immer weiter. In Schröders 2007 erschienenen Erinnerungsbuch »Entscheidungen« fällt der Name Olaf Scholz auf 528 Seiten genau drei Mal. Den Sonderparteitag der SPD, der die Agenda-Beschlüsse zur Reform von Sozialsystem und Arbeitsmarkt am 1. Juni 2003 absegnet, hätten Scholz und seine Leute »hervorragend vorbereitet«, lobt Schröder an einer Stelle. Scholz ist zuständig dafür, dass die Partei funktioniert, mit Schröders Wirken als Weltpolitiker hat er nichts zu tun. Da ist er Zaungast. Einmal nur sitzt er bei Schröder im Kanzlerbüro, das einmal seines werden wird, als Ricardo Lagos anruft, der chilenische Präsident. Scholz will gehen, aber Schröder gibt ihm ein Zeichen. Er soll sitzen bleiben. Der Chilene will wissen, ob Deutschland im UN-Sicherheitsrat verlässlich stehen wird gegen die von US-Präsident George W. Bush ins Leben gerufene »Koalition der Willigen«. Schröder versichert es.
Scholz findet es richtig, dass Schröder Deutschland gegen Bushs Irakkrieg positioniert hat. Das unbedingte Vertrauen des Kanzlers in Kremlchef Wladimir Putin teilt er – seiner späteren Erinnerung nach – allerdings schon damals nicht. Als Putin am 25. September 2001 eine Rede im Bundestag hält, ist Scholz nicht dabei, denn seit wenigen Monaten ist er Innensenator in Hamburg. Aus der Ferne kommt ihm die parteiübergreifende Begeisterung über die Rede des russischen Präsidenten allerdings seltsam vor. Als Hamburger Innensenator muss sich Scholz nach den islamistischen Terrorangriffen auf New York und Washington bewähren. Drei der Terroristen haben jahrelang in Hamburg gelebt. Scholz setzt sich für ein stärkeres Vorgehen gegen radikal-islamische Gruppierungen ein und verschreibt sich dem Kampf gegen den Terrorismus. Das tut Putin in seiner Bundestagsrede auch. Er sucht Zustimmung für seinen Krieg in Tschetschenien, den er als Teil des globalen Kampfes gegen den Terrorismus deklariert. Putin plädiert allerdings auch für ein »einheitliches Großeuropa«. Für Scholz klingt das danach, als wolle der russische Präsident NATO und Europäische Union loswerden. Später, als Putin sich daranmacht, Grenzen in Europa zu verschieben, wird Scholz erklären, er habe schon damals vor allem Putins Wunsch herausgehört, die USA aus Europa hinauszudrängen.
Helmut Schmidt und die Russland-Frage
An einem kalten Novembertag des Jahres 2015 ist der Platz von Olaf Scholz in der ersten Reihe. Nach glücklosen Jahren als Generalsekretär und einer Karriere als parlamentarischer Geschäftsführer und Bundesarbeitsminister in der Großen Koalition hat Scholz als Spitzenkandidat der SPD in Hamburg die absolute Mehrheit erobert. Seit 2011 ist er Erster Bürgermeister. Im Hamburger Michel steht Scholz nun zwischen dem gebeugten Henry Kissinger zu seiner Linken und einer versteinert wirkenden Angela Merkel zu seiner Rechten. An diesem Trio vorbei nähern sich die Trauergäste dem in die deutsche Fahne gehüllten Sarg von Helmut Schmidt. Dort verneigen sie sich vor dem früheren Kanzler. Merkel hält die Trauerrede für Deutschland, Kissinger für die Welt, Scholz für Hamburg – und die deutsche Sozialdemokratie. »Wir haben einen Giganten verloren. Politisch. Menschlich«, sagt er. Scholz würdigt Schmidts »hamburgische Schnoddrigkeit« ebenso wie die ihm eigene »natürliche Eleganz des...
Erscheint lt. Verlag | 27.3.2024 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Ampel • Angriffskrieg • Bundestagsbeschluss • Bundeswehr • Energiekrise • Geflüchtete • Koalitionskrise • Luftangriffe • Nationalsozialismus • Nato-Osterweiterung • Ostpolitik • Russland • SPD • Ukraine • Verteidigung • Waffenlieferung |
ISBN-10 | 3-8437-3179-9 / 3843731799 |
ISBN-13 | 978-3-8437-3179-9 / 9783843731799 |
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