Zerfallserscheinungen der Demokratie (eBook)
459 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77716-9 (ISBN)
»Vielfach wird die Krise der westlichen liberalen Demokratien auf den Aufstieg populistischer und autoritärer Bewegungen zurückgeführt. Drei herausragende Theoretiker argumentieren nun dafür, sie als Ausdruck einer tieferliegenden Problematik zu begreifen.« Foreign Affairs
Mit analytischer Schärfe zeichnen Craig Calhoun, Dilip Parameshwar Gaonkar und Charles Taylor in diesem Buch aus unterschiedlichen Perspektiven die Aushöhlung unserer Demokratie nach. Sie beleuchten, wie die herrschenden Eliten versuchen, ihre Privilegien zu sichern, und wie individuelle Freiheit zum Feind von Gleichheit und Solidarität wurde. Aber sie zeigen auch Wege einer möglichen demokratischen Erneuerung auf: Zum einen gilt es, die Idee des Gemeinwohls wiederzuentdecken und an republikanische Traditionen anzuschließen, zum anderen könnten soziale Bewegungen wie Black Lives Matter oder der Green New Deal als Kompass dienen. Ein Weckruf.
Craig Calhoun ist Professor für Sozialwissenschaften an der Arizona State University in Phoenix. Zuvor war er Direktor der London School of Economics and Political Science und Präsident des Social Science Research Council.
36Kapitel 1
Zerfallserscheinungen der Demokratie
Charles Taylor
Lassen Sie uns zunächst einige weithin bekannte Dinge über die Geschichte des Wortes »Demokratie« wiederholen, denn sie können Dilemmata, in denen wir gegenwärtig stecken, verdeutlichen.
»Demokratie« ist, wie jeder weiß, erst seit zweihundert Jahren kein abwertender Begriff mehr. Ihr schlechter Ruf geht auf Aristoteles zurück. Für Aristoteles war Demokratie die uneingeschränkte, gleichsam unkontrollierte Macht des demos – der demos gedacht als die Nicht-Elite der Gesellschaft – über alle anderen, einschließlich der Eliten, d.h. der Aristokraten und derjenigen mit Geld. Auf der anderen Seite bedeutete Oligarchie die uneingeschränkte Kontrolle durch die Reichen und Adligen. Für Aristoteles war die beste Gesellschaft also das, was er eine politeia oder Politie nannte, ein Gleichgewicht zwischen beiden, ein Gleichgewicht der Macht.
Hätte man bis ins 18.Jahrhundert hinein unter anderem den Verfassern der amerikanischen Verfassung die Demokratie vorgeschlagen, so hätten sie gesagt: »Das wollen wir doch gar nicht.« Auch sie dachten in Kategorien des Gleichgewichts und nannten ihr neues Gemeinwesen »Republik«, was eine mögliche Übersetzung von Aristoteles’ Begriff ist: Politeia lautet schließlich der Originaltitel von Platons großem Werk, der sich auch als res publica oder Republik übersetzen lässt. Aber Demokratie war im späten 18.Jahrhundert tatsächlich eine schlechte Nachricht.
Und dann wird sie plötzlich zu unserem Wort für die erstrebenswerteste Gesellschaft. Oder anders gesagt: Der Begriff, der zuvor im Gegensatz zu einem »Gemeinwesen« oder einer »Republik« definiert wurde – nämlich »Demokratie« –, bemächtigt sich plötzlich deren Ansehen und Legitimität. Er wird zu unserem Wort für das, wofür wir kämpfen, um die Welt dafür sicher zu machen (»make the world safe for democracy«), für die höchste Form des politischen Lebens.
Diese Verschiebung hinterlässt jedoch eine gewisse Zweideutigkeit, wie wir an der Doppeldeutigkeit der Wörter erkennen können, die wir für die Übersetzung von demos verwenden, also Volk, 37peuple, people, popolo und so weiter. Sie haben immer einen zweifachen Sinn. Einerseits bezeichnen sie die gesamte Bevölkerung einer Nation oder einer politischen Einheit, wie zum Beispiel das französische Volk oder das niederländische Volk, die 1944/45 von der nationalsozialistischen Besatzung befreit wurden. Andererseits verwenden wir den Begriff oft für das, was die Griechen den demos nannten, d.h. die Nicht-Eliten, so wie die frühe Neuzeit »demotische« Sprachen vom Lateinischen und den Sprachen der oft als Eroberer aufgetretenen Eliten unterschied, oder wie heute, wenn politische Führer behaupten, dass das Volk von den Eliten betrogen, ausgebeutet oder anderweitig übel behandelt wird.
Demokratie ist ein telisches Konzept
Diese Doppelbedeutung ist nicht zu eliminieren, denn sie spiegelt den Anspruch wider, der hinter dem Wort »Demokratie« steht. Im Idealfall würden die beiden Bedeutungen des Wortes miteinander verschmelzen: Es gäbe eine Gesellschaft, die vom ganzen Volk regiert wird, aber ohne eine Elite, die es schafft, den Rest der Bevölkerung in den Hintergrund zu drängen und zu dessen Nachteil zu handeln. Mit anderen Worten: Die Demokratie wäre eine wirklich gleichberechtigte Gesellschaft. Denn die Demokratie ist ein telisches Konzept, das notwendigerweise von Zielen und Idealen abhängt und nicht nur von Voraussetzungen oder Kausalbeziehungen. Sie wird durch Standards definiert, die niemals erfüllt werden können.
Es gibt also verschiedene Arten, Demokratie zu definieren: Wir sprechen davon, dass bestimmte Länder eine Demokratie haben, weil sie zum Beispiel über einen Rechtsstaat verfügen oder weil sie Wahlen abhalten, an denen alle Menschen teilnehmen können. In diesem Fall ist das allgemeine Wahlrecht der Schlüssel, zusammen mit dem Erfordernis »freier und fairer« Wahlen, was wiederum voraussetzt, dass die Medien frei sind. Oftmals aber fällen wir auch ein ganz anderes Urteil über bestimmte Gesellschaften, die den Test »frei und fair« bestehen, nämlich dass sie sehr »undemokratisch« sind, weil sie Ungleichheiten – in Bezug auf Einkommen, Vermögen, Bildung, Klasse oder Rasse – aufweisen, die durch eine unverhältnismäßig große Macht der Eliten verursacht sind, gleichzeitig diese enorme Machtfülle aber noch zusätzlich befördern.
38Das Wahlkriterium ist eine Art Ein/Aus-Kriterium: Entweder erfüllt ein Land die Anforderung allgemeiner »freier und fairer« Wahlen oder es erfüllt sie nicht. (Die Welt ist natürlich viel unschärfer, aber unsere Urteile sind kategorisch.) Der zweite Demokratiebegriff ist jedoch telisch.
Gemeint ist damit eine Vorstellung davon, was das Ideal sein sollte, was die Demokratie ganzheitlich verwirklichen sollte. Das wäre so etwas wie ein Zustand idealer Gleichheit, in dem alle Klassen und Gruppen, Eliten und Nicht-Eliten gleichermaßen, im Verhältnis zu ihrer Anzahl über die Macht verfügten, die Ergebnisse zu beeinflussen und zu bestimmen.[1] Das aber definiert einen Zustand, den wir nie ganz erreichen – oder vielleicht erreichen wir ihn für kurze Zeit, und dann gleiten wir wieder davon ab. Und das verschafft uns den Schlüssel zu einer sehr wichtigen Dynamik in der Demokratie, die für meinen ersten Aspekt, meinen ersten Weg zum Zerfall, entscheidend ist.
Es gibt Phasen, in denen wir uns auf die Demokratie zubewegen – Befreiung von fremder Herrschaft, Befreiung von diktatorischer Herrschaft –, so wie es 1989 in Osteuropa geschah, so wie es nach dem Tahrir-Platz während des Arabischen Frühlings zu geschehen schien. Und etwas Ähnliches geschieht, wenn die Macht des demos in etablierten Demokratien (die das Kriterium »Wahlen« erfüllen) geltend gemacht wird.
Dann herrscht ein Gefühl großer Begeisterung, das Gefühl, dass wir uns in die richtige Richtung bewegen.
Und dann gibt es Zeiten, in denen die Stimmung sinkt, wenn wir das Gefühl haben, dass wir uns von der Demokratie entfernen. Betrachtet man die zweihundert Jahre dessen, was wir heute als »westliche Demokratie« bezeichnen, so stellt man fest, dass es viele Bewegungen gab, die scheinbar einen Schritt nach vorn darstellten; die Jackson’sche Revolution in den 1820er Jahren in den Vereinigten Staaten beispielsweise war eine Art demokratische Revolution gegen eine bestimmte Klasse von Eliten, gegen mächtige 39Landbesitzerinteressen. Später dann im 19.Jahrhundert setzten sich jedoch neue und mächtige Interessen durch – beispielsweise die »Räuberbarone« im Gilded Age, gegen die die Progressiven und später Theodore Roosevelt mit Kartellgesetzen vorgingen.
Ab den 1930er Jahren und nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in einigen Ländern einen weiteren Vorstoß gegen die unkontrollierte Macht der Industrie, diesmal mit der Schaffung von Wohlfahrtsstaaten, der Stärkung der Arbeitnehmermacht, einer Politik der Vollbeschäftigung und anderen sozialdemokratischen Elementen. Und dann, seit etwa 1975, sind wir in die andere Richtung gerutscht. Es ist dieses wichtige Merkmal – zuerst demokratische Ermutigung, Begeisterung und Vorwärtsbewegung, dann demokratische Entmutigung und Rückwärtsbewegung –, auf das ich aufmerksam machen möchte.
Hinter dem demokratischen Zerfall verbirgt sich zum Teil das Festhalten am ersten Konzept, dem Ein/Aus-Konzept. Es wird weithin mit dem berühmten Ökonomen Joseph Schumpeter in Verbindung gebracht, für den das Volk (zumindest theoretisch) aus gleichen Individuen besteht. Sie alle haben das Wahlrecht. Tatsächlich regieren Eliten von Experten und selbst ausgewählten Politikern.[2] Doch das Volk wählt regelmäßig, und diese Wahlen sind frei und fair. Es besteht also die reale Möglichkeit, dass die Amtsinhaber abgewählt werden können, und es gibt...
Erscheint lt. Verlag | 12.2.2024 |
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Übersetzer | Andreas Wirthensohn |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Degenerations of Democracy |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung |
Schlagworte | aktuelles Buch • Berggruen-Preis 2016 • Black lives matter • Bruno-Kreisky-Preis 2010 • Bücher Neuererscheinung • bücher neuerscheinungen • Degenerations of Democracy deutsch • Gemeinwohl • John-W.-Kluge-Preis 2015 • Krimi Neuerscheinungen 2024 • Neuererscheinung • neuer Krimi • Neuerscheinungen • neues Buch • Republikanismus • STW 2419 • STW2419 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2419 |
ISBN-10 | 3-518-77716-5 / 3518777165 |
ISBN-13 | 978-3-518-77716-9 / 9783518777169 |
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