Die deutsche Russland-Illusion (eBook)
352 Seiten
Quadriga (Verlag)
978-3-7517-5986-1 (ISBN)
Putins Krieg hat alle bislang als unumstößlich geltenden Grundannahmen unserer Beziehungen zu Russland zunichte gemacht. Wie ist mit einer geopolitischen Macht auf dem europäischen Kontinent umzugehen, deren DNA darauf ausgerichtet ist, mit kriegsverbrecherischer Gewalt bestehende Staatsgrenzen zu verändern? Zu dieser fundamentalen Herausforderung für die Zukunft Europas und möglichen Lösungen schweigen die deutschen Parteien auffallend laut.
Jörg Himmelreich geht in seinem Buch den tieferen historischen, kulturellen und wirtschaftlichen Ursachen des deutschen Verhältnisses zu Russland nach und entwickelt auf diesem Fundament Strategien für eine tatsächlich neue Russlandpolitik.
<p><strong>Dr. iur. Jörg Himmelreich</strong>, Volljurist, Historiker und Politikwissenschaftler, ist Honorarprofessor und lehrt seit 2014 an der École Supérieure de Commerce de Paris in Berlin und Paris Geschichte und Internationale Beziehungen. Er arbeitete für eine deutsche Bank in Moskau, war Assistent des deutschen »Mr. Russia«, Klaus Mangold, ehemaliger Vorstand der Daimler AG, und analysierte im Planungsstab des Auswärtigen Amtes und bei einem Think-Tank in Washington Russlands Politik. Schon seit 2005 warnt er vor Putins Außenpolitik und vor der deutschen Energieabhängigkeit von Russland. Himmelreich veröffentlicht regelmäßig Beiträge in <i><b>NZZ</b></i>, <i><b>DEUTSCHLANDRADIO KULTUR</b></i>, <i><b>DEUTSCHE WELLE TV</b></i>, <i><b>FAZ</b></i>, <strong>SPIEGEL-ONLINE</strong>, <strong>NEW YORK TIMES</strong> unter anderem zu russischer Politik und Geschichte.</p>
Erstes Kapitel: Putins Aufstieg zur Macht und die Fehleinschätzungen deutscher Russlandpolitik unter Kanzler Schröder
Am Anfang des gerade von Deutschland so herbeigesehnten neuen Kapitels seiner Beziehungen zu Russland – genauer: endlich zu einem verlässlichen, demokratischen Russland – stand Putin.
Die Begeisterung der Bundestagsabgeordneten für Putin überrascht aber so sehr, weil die Geschichte seines Aufstiegs bis zur Wahl zum Präsidenten im März 2000 ja allen bekannt war. Deswegen soll diese Vorgeschichte noch einmal in wenigen entscheidenden Momenten in Erinnerung gerufen werden, bevor die systematische Festigung der Macht Putins in Russland skizziert wird. Welch wichtige Rolle für die außenpolitische Machtkonsolidierung Russlands und auch Putins eigene Machtfestigung das jahrhundertealte besondere deutsch-russische Verhältnis spielt, wird zu zeigen sein. Während der Regierungszeit Schröders findet er dafür in dem deutschen Kanzler einen »ziemlich besten Freund«.
1. »Gorbimanie«
Der Aufstieg Putins ist nur vor dem Hintergrund der in Deutschland und Russland völlig unterschiedlichen Interpretation des historischen Erbes von Gorbatschow zu verstehen. In Deutschland gilt Gorbatschow bis heute – nicht ganz zutreffend – als »Vater der deutschen Einheit«.
Das von ihm während seiner Regierung geprägte Bild eines »gemeinsamen europäischen Hauses von Lissabon bis Wladiwostok« sollte die deutsche Russlandpolitik noch lange betören. Noch nach seiner Amtszeit hatte der einstige Generalsekretär Michail Gorbatschow wahre Jubelstürme bei seinem Besuch in Bonn ausgelöst. Hatte er doch nach den ostdeutschen Friedensdemonstrationen im Herbst 1989 die friedlich verlaufene deutsche Wiedervereinigung 1990 von sowjetischer Seite aus entgegen aller innersowjetischer Widerstände akzeptiert. Nirgendwo sonst hat »Gorbi« solch eine zur »Gorbimanie« gesteigerte Begeisterung ausgelöst wie in der deutschen Politik und Bevölkerung. Dabei hatte ihn weniger eine besondere Liebe zu Deutschland oder gar der besondere Respekt vor einem deutschen Selbstbestimmungsrecht zu dieser Hinnahme der deutschen Ereignisse getrieben. Vielmehr hatte er im Wettlauf gegen die Zeit, bis seine Wirtschaftsreformen in der UdSSR auch hätten Früchte tragen können, schlicht keine historische Sekunde zu verlieren.
Als Staatschef der UdSSR hatte er durch die Rote Armee alle 1989 bis 1991 aufkeimenden Unabhängigkeitsbewegungen in den osteuropäischen und südkaukasischen Sowjetstaaten auf den Straßen in Tiflis, Baku, Vilnius und Riga brutal niedermetzeln lassen.16 Das deutsche Missverständnis Gorbatschows als »Vater der deutschen Einheit« verkennt, wie sehr diese Unabhängigkeitsbewegungen in den einzelnen Sowjetstaaten und dann die Bürger in der ehemaligen DDR Gorbatschow zu immer weiteren Zugeständnissen zwangen. All das ging im deutschen Rausch der »Gorbimanie« unter.
Als ich ihn mit seiner Tochter einmal während einer nicht enden wollenden Fahrt im Berliner Freitagnachmittagsverkehr 2003 vom Berliner Flughafen Schönefeld zu einem Empfang in der Stadt abholte, hatte ich Gelegenheit, mich mit dieser großen historischen Figur im Wagenfond lange zu unterhalten: Es fiel kein einziges kritisches Wort über Putin. Aber aus seinen Erzählungen über seine Treffen mit Kohl und über die deutsch-russischen Beziehungen war herauszuhören, wie sehr er sich in diesem Nachruhm in Deutschland sonnte, weswegen er es oft und gern immer wieder besuchte. Und wie sehr er unter den bitteren Anfeindungen in Russland litt, für den Zusammenbruch der UdSSR verantwortlich gemacht zu werden, nicht zuletzt von Putin.
So konnte die fast blinde deutsche Verehrung von Gorbatschow Putin vermitteln, wie empfänglich die Deutschen für eine politische und kulturelle Nähe zu Russland waren. Gleichzeitig aber steht Gorbatschow für Putin und für die überwältigende Mehrheit der Russen für den Zusammenbruch der UdSSR.
2. Putins Trauma
Für einen KGB-Offizier wie Putin war dieser Zusammenbruch ein Trauma.
Die Armee und die Geheimdienste waren seit der Oktoberrevolution 1917 die beiden entscheidenden Machtsäulen der Diktatur der KPdSU in der UdSSR. Ihre Mitglieder gehörten zur Elite des Staates und verstanden sich selbst auch so mit all ihren Privilegien gegenüber dem sowjetischen Durchschnittsbürger. Als zunächst unbedeutendes Mitglied zu dieser Elite dazuzugehören machte Putins ganzes politisches Selbstverständnis aus. Als Mitglied des KGB war man immer im Einsatz, 24 Stunden 7 Tage lang. Das ohnehin eingeschränkte Privatleben verbarg man, sonst machte man sich nur angreifbar. Deswegen galt die Devise: Einmal KGB-Agent, immer KGB-Agent, bis zum Lebensende! Einen tatsächlichen Austritt aus dieser unter sich verschworenen Elite gab es faktisch nicht, ein Versuch dazu endet oft tödlich.
Die besondere Verantwortung für den Schutz des Staates vor jeder kleinsten inneren und äußeren Gefahr, das war die alles andere überragende Aufgabe dieser staatlichen Beamten der Machtdienste – silowiki, wie sie genannt werden. Wie tief musste es daher das elitäre nationale Selbstverständnis des kleinen KGB-Offiziers Wladimir Wladimirowitsch Putin erschüttern, als im Zuge der friedlichen Revolution 1989 in der ehemaligen DDR Demonstrantengruppen in Dresden drohten, sein KGB-Büro zu besetzen. Nur seine Ankündigung zu schießen konnte die Besetzung des Büros verhindern. Aber den Zusammenbruch der UdSSR, der diesen Friedens- und Unabhängigkeitsbewegungen in Ostdeutschland, in anderen osteuropäischen Staaten und in den Sowjetrepubliken folgte, konnte er nicht verhindern. Vielmehr musste er mitansehen, wie das Volk, einmal von den straffen Fesseln der Parteidiktatur befreit, in der DDR mit einer Revolution eine Diktatur stürzte und in eine Demokratie umwandelte. Nach der Auflösung der UdSSR am 21. Dezember 1991 setzte auch in Moskau der neue russische Präsident Jelzin nach seinem Sturz Gorbatschows zu demokratischen Reformen an, die die Macht der Geheimdienste beschränken sollten.
Schon nachweislich 1992 bis 1994 hatte Putin sich hingegen als imperialer alt-sowjetischer Hardliner geoutet: Russland habe – so Putin 1994 – im Interesse der allgemeinen Sicherheit und des Friedens in Europa freiwillig riesige Territorien an die ehemaligen Republiken der Sowjetunion abgegeben; darunter auch solche Territorien, die historisch immer zu Russland gehört hätten, so »dass jetzt plötzlich 25 Millionen Russen im Ausland leben, und Russland kann es sich einfach nicht leisten – allein schon im Interesse der Sicherheit in Europa –, dass diese Menschen willkürlich ihrem Schicksal überlassen bleiben.«17
Er wollte und konnte nicht wahrhaben, dass der Zusammenbruch der UdSSR nur der letzte und wichtigste gefallene Dominostein in einer Kette von Umstürzen in Ostmitteleuropa von der polnischen Solidarność-Bewegung 1981 bis hin zur friedlichen deutschen Revolution 1989 war; dass er die Folge einer gescheiterten Glasnost- und Perestroika-Politik Gorbatschows war und die Konsequenz der sowjetischen Niederlage im Wirtschafts- und Rüstungswettlauf mit dem Westen, vornehmlich den USA. Jene Geschichtsverfälschung des freiwilligen territorialen Verzichts der UdSSR schien 1994 bloß die abstruse, nicht ernst zu nehmende Auffassung eines UdSSR-Nostalgikers zu sein. Aber sie zeigt an, wie tiefgreifend, wie früh und wie unverändert dieses Trauma Putins Denken und später seine Politik beherrscht hat. Heute ist jene Geschichtsverfälschung fester geschichtsrevisionistischer Bestandteil aller russischen Schulbücher.
Dieser hautnah erlebte Zusammenbruch der UdSSR machte ihn für Putin zur »größten geopolitischen Katastrophe des [20.] Jahrhunderts«, wie er immer wieder betonte.18 Dieses Erlebnis wie auch seine KGB-Verankerung waren die alles überragenden Prägungen seiner späteren Politik nach der Wahl im März 2000: Nie wieder durfte das Volk solch eine politische Macht bekommen, ein ganzes politisches Regime zu stürzen, nie wieder durfte eine Regierung derart die Kontrolle über das politische Handeln im Staat verlieren. Und nie wieder durfte die staatliche imperiale Macht Russlands so mit Füßen getreten werden wie durch die friedliche Revolution in der DDR und durch die Unabhängigkeitserklärungen der einzelnen Sowjetrepubliken im Jahre 1991 und die zahlreichen Separatismus-Bewegungen in den Teilrepubliken der Russischen Föderation.
Wenn für Putin dieser Zusammenbruch der UdSSR »die größte geopolitische Katastrophe des [20.] Jahrhunderts war«, dann war sie in seinen Augen noch schlimmer als die Katastrophen der beiden Weltkriege mit ihren vielen Millionen russischen bzw. sowjetischen Opfern. Wenn diese Opfer jedoch so wenig zählen im Vergleich zum Zusammenbruch der UdSSR, dann zeigt seine Aussage auch an, welche Opfer er bereit ist in Kauf zu nehmen, um diese historische Katastrophe zu korrigieren. Dass dieser Zusammenbruch aber, wenn möglich, korrigiert werden müsse, weil Russland in den 90er Jahren vom Westen übervorteilt worden sei, diese Botschaft schimmert schon früh durch all seine Äußerungen – im Körber-Gesprächskreis 1994 über seine Bundestagsrede 2001 bis zu seiner Jahresbotschaft 2005. Man sollte seine Reden ernst nehmen. Das hat man bisher oft versäumt. Deswegen war man über seine Ukraine-Invasion so überrascht.
3. Jelzins Tschetschenienkrieg
Putins Aufstieg zur Macht ist ohne Jelzins gescheiterte Besetzung Tschetscheniens im Ersten Tschetschenienkrieg (1994–1996) nicht zu erklären. Jelzins Niederlage wurde in Russland als Schmach für die einstige imperiale Weltmacht empfunden. Sie vermochte...
Erscheint lt. Verlag | 28.3.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Boykott Russland • Energielobbyismus • Gorbatschow • Handel durch Wandel • Neuausrichtung der Russlandpolitik • Politik und Gesellschaft • Putins Invasion • Rapallo-Vertrag • russische Annexion • Russland-Komplex • Russland-Verständnis • Tschetschenien • Tschetschenien-Krieg • Urkaine-Krise • Zeitenwende |
ISBN-10 | 3-7517-5986-7 / 3751759867 |
ISBN-13 | 978-3-7517-5986-1 / 9783751759861 |
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