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Europas Einigung

Eine unvollendete Geschichte

(Autor)

Buch | Hardcover
600 Seiten
2025 | 3. Auflage
Campus (Verlag)
978-3-593-51971-5 (ISBN)
49,00 inkl. MwSt
Mit dem Brexit ist ein turbulentes Jahrzehnt in der Geschichte der europäischen Integration zu Ende gegangen. Griechenland-Krise, Flüchtlingskrise und der Aufstieg des Populismus haben die Europäische Union grundlegend verändert. In dieser aktualisierten und erweiterten Neuausgabe seines Standardwerks ordnet Wilfried Loth, einer der besten Kenner der Geschichte der europäischen Integration, die dramatischen Ereignisse der vergangenen Jahre erstmals ein. Er zeichnet die Entwicklung der Europäischen Union bis zur unmittelbaren Gegenwart der Corona-Krise nach und ermöglicht den Leserinnen und Lesern ein historisch begründetes Urteil über die Zukunft der EU.
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Wilfried Loth ist emeritierter Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Duisburg-Essen.

Inhalt
Prolog: Churchills Kongress9
Vier Antriebskräfte9
Das Ringen um den Kongress16
Verhandlungen und Beschlüsse20
Ein Meilenstein24
1.Gründerjahre 1948–195726
Das Ringen um den Europarat26
Die Entstehung der Montanunion34
Das Drama um die EVG41
Die schwierige »Relance«56
Die Verhandlungen über Euratom und EWG64
2.Aufbaujahre 1958–196375
Die Europäische Kommission75
Das Ringen um die Freihandelszone83
Die Errichtung des Gemeinsamen Marktes90
Fouchet-Pläne und britisches Beitrittsgesuch100
Beitrittsverhandlungen und Deutsch-Französischer Vertrag106
Der Erfolg der Wirtschaftsgemeinschaft114

3.Krisen der Sechser-Gemeinschaft 1963–1969120
Erhards »Relance«120
Hallsteins Offensive128
Die Krise des »leeren Stuhls«134
Die Zeit der Arrangements142
Die Rückkehr der britischen Frage150
Frankreich auf dem Weg zur Wende156
4.Erweiterung und neue Perspektiven 1969–1975163
Wendepunkt Haager Gipfel163
Die Vollendung des Gemeinsamen Marktes169
Die erste Erweiterung175
Das Projekt der Währungsunion186
Die Politische Zusammenarbeit194
Krise und Neustart202
5.Jahre der Konsolidierung 1976–1984211
Der Weg zur Direktwahl211
Das Europäische Währungssystem218
Die Süderweiterung230
Die Verteidigung der Détente239
Thatcher, Genscher und Colombo248
6.Jahre des Ausbaus 1984–1992259
Die Einheitliche Europäische Akte259
Das Binnenmarkt-Projekt269
Das Projekt der Wirtschafts- und Währungsunion277
Europäische Sicherheit und deutsche Einheit287
Der Weg nach Maastricht297
7.Von Maastricht nach Nizza 1992–2001310
Die Umsetzung der Währungsunion310
Die Norderweiterung323
Der Weg nach Amsterdam329
Sicherheits- und Ostpolitik342
Der Nizza-Komplex353
8.Verfassungsstreit und »Euro-Krise« 2001–2012358
Die Osterweiterung358
Der Verfassungsvertrag370
Von Prodi zu Barroso378
Die Verfassungskrise388
Die »Euro-Krise«400
9.Der Ansturm der Populisten 2012–2020415
Juncker-Kommission und Griechenland-Krise416
Ukraine-Krise und Flüchtlingskrise425
Brexit-Referendum und »illiberale Demokratie«436
»Pulse of Europe« und »La République en marche«443
May, von der Leyen, Johnson453
Schlussbetrachtung: Die Zukunft der Union464
Nachwort zur 1. Auflage473
Nachwort zur 2. Auflage476
Anmerkungen477
Das Europäische Parlament 1979–2019523
Die Präsidenten der Hohen Behörde und der Kommissionen525
Abkürzungen527
Quellen und Literatur529
Personenregister 559
Sachregister566

»Loth legt mit diesen Erweiterungen einen sehr konzisen Überblick der zurückliegenden Jahre vor. Die Ergänzung der seit 2014 publizierten Fachliteratur rundet diese sehr nützliche Gesamtdarstellung ab, die auch in der erweiterten Auflage ein unverzichtbarer Begleiter der Geschichte der europäischen Integration bleibt.« Bastian Matteo Scianna, H-Soz-Kult, 04.12.2020

»Wer sich fortan mit der ›unvollendeten Geschichte‹ der Einigung Europas beschäftigen möchte, kommt an diesem Opus magnum nicht vorbei«
Ulrich Lappenküper

»Ein aufklärerisches Werk. Pflichtlektüre für alle, die an der unvollendeten Geschichte Europas (ver-)zweifeln.« Rolf Steininger, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.04.2014

»Der Historiker Wilfried Loth erinnert in seinem Buch ›Europas Einigung‹ daran, dass ›Krisen eine ständige Begleiterscheinung der Entstehung und Entwicklung der Europäischen Union‹ waren. Europapolitik sei bis heute immer ›die Kunst des Möglichen‹.« Handelsblatt Online, 23.04.2014

»Diese Darstellung ist jedem, Europaenthusiast oder -kritiker, nur als Pflichtlektüre anzuraten. Für eine sachliche Debatte über Europas politische Zukunft ist sie unabdingbar.« NZZ, 24.07.2014

»Wilfried Loth protokolliert akkurat und detailreich die Entstehungsgeschichte der EU.« Klaus Pokatzky, Deutschlandradio Kultur, 19.03.2014

»Warum die EU heute so funktioniert wie sie funktioniert, leitet der Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Duisburg-Essen akribisch aus ihrer Geschichte her.« Handelsblatt, 11.04.2014

»Seit Jahrzehnten ist auf einen Historiker Verlass, wenn es um grundsolide, kenntnisreiche, aus den Quellen und einem weitgespannten Fundus von Sekundärliteratur erarbeitete Beitrage zur Darstellung des Weges der europäischen Einigung geht. Mit der respektgebietenden Kombination von aufgeklärter Sachlichkeit und nie versiegender Empathie begleitet Wilfried Loth Weg und Werk der europäischen Einigungsgeschichte. […] Wilfried Loths neues Buch gehört in jede anständige Bibliothek.« Ludger Kühnhardt, Politische Vierteljahresschrift, 01.05.2015

»Die Europäische Union ist kompliziert, die Interessenlage vielseitig, und die Entscheidungsprozesse sind selten transparent. Wer dennoch wissen will, warum das so ist und wie die Europäische Union funktioniert, der sollte das neue Buch des Historikers Wilfried Loth lesen.« Jörg Münchenberg, Deutschlandfunk, 10.03.2014

Prolog: Churchills Kongress Den Haag, 7. Mai 1948: An diesem Tag trafen sich 722 repräsentative Persönlichkeiten aus 28 europäischen Ländern am niederländischen Regierungssitz, um über Wege zu einer Einigung Europas zu diskutieren. Sechs ehemalige Premierminister europäischer Länder nahmen an der Veranstaltung teil, ebenso wie 14 aktive und 45 ehemalige Minister sowie westdeutsche Ministerpräsidenten, führende Abgeordnete, Wirtschaftsführer, Gewerkschafter, Kirchenführer, zahlreiche Professoren sowie einige Intellektuelle und Künstler. Winston Churchill, der britische Premier der Kriegsjahre und nunmehrige Oppositionsführer im Londoner Unterhaus, hielt die Eröffnungsansprache; etwa 40.000 Menschen kamen zu einer öffentlichen Kundgebung am dritten Verhandlungstag. Dieser Kongress, der bis zum 10. Mai dauerte, war ein Lichtblick in der Ruinenlandschaft, die der Zweite Weltkrieg in Europa hinterlassen hatte. Er führte zur Konstituierung der Europäischen Bewegung und mittelbar auch zur Gründung des Europarates. Vier Antriebskräfte Der Haager Kongress stand damit am Anfang von Verhandlungen über die Schaffung europäischer Institutionen, die – anders als die Verhandlungen über »eine Art föderativer Verbindung« zwischen den europäischen Völkern, die der französische Außenminister Aristide Briand im September 1929 der Vollversammlung des Völkerbunds vorgeschlagen hatte – erfolgreich waren und jene Gemeinschaft ins Leben riefen, die heute als »Europäische Union« das Leben der Europäer in starkem Maße beeinflusst. In ihm verdichteten sich Bewegungen, die auf die Überwindung der Funktionsdefizite der Nationalstaaten und des nationalstaatlichen Ordnungssystems in Europa zielten und die zum Teil schon in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg entstanden waren. Sie wurden von vier ganz unterschiedlichen Motiven angetrieben, zwischen denen freilich ein enger Zusammenhang bestand. Zunächst war dies das Problem der zwischenstaatlichen Anarchie, Auslöser aller »klassischen« Friedenssicherungspläne von Dante bis Kant: Als die Entwicklung der modernen Kriegstechnik Millionen von Menschen zu Kriegsopfern werden ließ und die wirtschaftlichen Schäden im Zeitalter der Kabinettskriege ungeahnte Ausmaße annahmen, wurde dieses Problem immer drängender. Die Erfahrung des verheerenden Ersten Weltkriegs führte darum zu einer Fülle europäischer Friedensinitiativen, von denen der »Paneuropa«-Feldzug des Grafen Richard Coudenhove-Kalergi und Briands Europaplan nur die spektakulärsten waren. Als die Friedensordnung von Versailles ab 1938 schrittweise zerbrach, erhielt diese Bewegung einen weiteren Schub. »Man kann es vor aller Welt mit tiefster und unbeugsamster Überzeugung aussprechen«, schrieb etwa im Frühjahr 1941 der französische Sozialistenführer Léon Blum, Ministerpräsident der Volksfront-Regierungen von 1936 bis 1938: »Aus diesem Krieg müssen endlich durch und durch starke internationale Einrichtungen und eine durch und durch wirksame internationale Macht hervorgehen, sonst wird er nicht der letzte gewesen sein.« Ein besonderer Aspekt des Problems der Friedenssicherung war die deutsche Frage: Wie sollte man sich Deutschland, das seit 1871 die stärkste Nation in der Mitte des europäischen Kontinents war, entfalten lassen, ohne gleichzeitig unter eine Hegemonie der Deutschen zu geraten? Oder umgekehrt: Wie ließen sich die Deutschen kontrollieren, ohne durch einseitige Diskriminierung neuen Revanchismus hervorzurufen? »Um den Widerspruch zu lösen«, so wiederum Blum stellvertretend für viele Autoren des Widerstands gegen die deutsche Besatzung und das nationalsozialistische Regime, und »um die Unschädlichkeit Deutschlands in einem friedlichen und gesicherten Statut zu erreichen, gibt es einen einzigen Weg: die Eingliederung der deutschen Nation in eine internationale Gemeinschaft.« Dies bedeutete also etwa nicht nur eine Kontrolle des Ruhrgebiets, sondern eine gemeinsame Lenkung der gesamten europäischen Schwerindustrie – und ebenso nicht nur eine Beschränkung der deutschen Militärhoheit, sondern ein gemeinsames Kommando für alle europäischen Streitkräfte. Nach den Erfahrungen des Scheiterns der Friedensordnung von Versailles und des Aufstiegs des Nationalsozialismus war dies ein Argument, das besonders viel Plausibilität für sich beanspruchen konnte. Ein dritte Schwäche des Nationalstaatensystems ergab sich aus der Entwicklung der Produktivkräfte des industriellen Zeitalters: Die nationalen Märkte in Europa wurden – je länger, desto deutlicher – für rationale Produktionsweisen zu eng. Ihre wechselseitige Abschottung war nur temporär und sektoral sinnvoll; langfristig führte sie zu einem Verlust an Produktivität. Das hatte einen volkswirtschaftlichen und einen machtpolitischen Aspekt; vor allem in Gestalt der US-amerikanischen Konkurrenz waren beide seit den 1920er Jahren präsent. Entsprechend zahlreich waren die Einigungsinitiativen im wirtschaftlichen Bereich. Auch hier sorgte die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs für einen zusätzlichen Motivationsschub: Während die Europäer ihre Ressourcen im Zweiten Weltkrieg weitgehend verschlissen, weiteten die USA ihr Produktionsvolumen um mehr als das Doppelte aus, was durch ihre Funktion als wichtigster Materiallieferant der Anti-Hitler-Koalition ebenso begünstigt worden war wie durch die Abwesenheit der europäischen Länder vom Weltmarkt. Ein vierter Motivationskomplex für europäische Einigungsinitiativen ist damit ebenfalls schon angesprochen: das Streben der Europäer nach Selbstbehauptung gegenüber den neuen Weltmächten. Sowohl die Sorge vor einer wirtschaftlichen und politischen Übermacht der USA als auch die Furcht vor einer Expansion der bolschewistischen Revolution waren schon in den 1920er Jahren Motive für europäische Einigungspläne. Beide wurden durch die machtpolitischen Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs verstärkt. Mit den USA als Weltführungsmacht und der Sowjetunion als stärkster Militärmacht des europäischen Kontinents verloren bisherige Interessendivergenzen zwischen europäischen Nationalstaaten an Bedeutung – zugunsten des gemeinsamen Interesses an Autonomie und an der Vermeidung eines militärischen Konflikts zwischen den beiden Hauptsiegern des Krieges. »Sich einigen oder untergehen«, wie es 1939 der Führer der britischen Labour Party, Clement Attlee, Premierminister der Jahre 1945 bis 1951, so einprägsam formulierte, wurde damit zu einer in mehrfacher Hinsicht plausiblen Parole – und zwar schon unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg und sichtbar werdend in der Kritik an dem Ungenügen der Friedensordnung von Versailles; dann erneut, seit mit dem Münchener Abkommen deutlich wurde, dass die Ordnung von Versailles nicht mehr hielt; und schließlich verstärkt, seitdem sich 1943 der Sieg der Anti-Hitler-Koalition abzeichnete. Diese Parole faszinierte in den unterschiedlichsten politischen Lagern, sie verband über nationale Grenzen hinweg, und sie war – das muss der späteren Fixierung auf den Ost-West-Konflikt und der daraus resultierenden ahistorischen Position gegenüber den Ländern, die bis 1990 zum sowjetischen Block gehört hatten, entgegengehalten werden – auch keineswegs nur ein westeuropäisches Phänomen. Die europäischen Verbände hatten ihre Sektionen genauso in Prag und in Budapest wie in Paris oder in Brüssel. Die zahlreichen Einigungspläne, die in der Résistance, dem Widerstandskampf gegen den Nationalsozialismus, überall in Europa entwickelt worden waren, verdichteten sich bei Kriegsende freilich nicht sogleich zu einer konkreten Einigungspolitik. Stalin blockierte jede Art von Zusammenschlüssen im östlichen Europa (und zwar so konsequent, dass die entsprechenden Pläne ganz aus der Erinnerung verschwunden sind); gleichzeitig drohte jeder Schritt zur Einigung im Westen Europas die Spaltung des Kontinents in Ost und West zu vertiefen. Damit wurde es fragwürdig, mit Einigungsinitiativen dem Ziel der Friedenssicherung gerecht zu werden. Entsprechend schreckten jetzt viele Handlungsträger vor substanziellen Entscheidungen zurück, darunter auch – und das war angesichts der Machtverhältnisse unter Hitlers Gegnern in Europa entscheidend – die britische Regierung unter Winston Churchill. Frankreich verstrickte sich unter der Führung von Charles de Gaulle zudem in die Forderung nach Abtrennung der linksrheinischen Territorien und des Ruhrgebiets vom deutschen Staatsverband, die bei den britischen Verbündeten wenig Gegenliebe fand. Churchill war dann aber der erste europäische Politiker von Rang, der das Thema der europäischen Einigung nach dem Ende des Krieges wieder auf die Agenda der internationalen Politik setzte. Nachdem er im Juli 1945, just nach seinem mühsam errungenen Sieg über Hitler, von den Wählern in die Opposition geschickt worden war, begann er im Winter 1945/46, sich Sorgen über die Gefahr einer Expansion des sowjetischen Machtbereichs über den »Eisernen Vorhang« hinaus zu machen. In einer spektakulären Rede in Fulton im amerikanischen Bundesstaat Missouri am 5. März 1946 warnte er zum ersten Mal öffentlich vor den »expansionistischen und Bekehrungstendenzen« Sowjetrusslands und des internationalen Kommunismus. Um die Gefahr einer solchen Expansion zu bannen, erschien es ihm jetzt notwendig, die Einigung jener europäischen Länder in die Wege zu leiten, die außerhalb des sowjetischen Machtbereichs verblieben waren. Ihren Zusammenschluss betrachtete er als Voraussetzung nicht nur für die wirtschaftliche Gesundung Europas, sondern auch für eine Stabilisierung der Demokratie. Darum forderte er in einer weiteren Rede am 19. Oktober 1946, diesmal vor Züricher Studenten, »eine Art Vereinigte Staaten von Europa zu schaffen«, beruhend auf einer »Partnerschaft von Frankreich und Deutschland«. Großbritannien sah er dabei eher unter den »Förderern des neuen Europa« als unter seinen Mitgliedern; freilich sollte es eine höchst aktive Rolle bei seiner Konstituierung spielen. Um die Mobilisierung der öffentlichen Meinung voranzutreiben, beauftragte Churchill seinen Schwiegersohn und engen politischen Mitstreiter Duncan Sandys mit der Organisation einer überparteilichen Gruppe repräsentativer Persönlichkeiten, die den europäischen Einigungsgedanken in Großbritannien fördern sollten. Sandys’ Bemühungen trugen bald Früchte: Am 16. Januar 1947 konnte er ein provisorisches »British United Europe Committee« präsentieren, dem neben konservativen Abgeordneten (unter anderen Robert Boothby) auch Labour-Politiker und Gewerkschaftsvertreter (Gordon Land, George Gibson, Victor Gollancz), Vertreter der liberalen Partei, der Kirchen und der Wissenschaft (darunter Bertrand Russell) angehörten; die britischen Föderalisten waren unter anderen mit Frances L. Josephy vertreten. Allerdings sprach sich das Exekutivkomitee der regierenden Labour Party gegen das Unternehmen aus, weil es weder Churchills Idee einer westlichen Blockbildung fördern noch dem damaligen Oppositionsführer eine Plattform für innenpolitische Erfolge bieten wollte. Infolgedessen entwickelten sich die Aktivitäten der Gruppe, die sich dann am 14. Mai 1947 definitiv als »United Europe Movement« (UEM) konstituierte, vorwiegend im konservativen und liberalen Milieu. Parallel zum UEM organisierten der ehemalige belgische Ministerpräsident Paul van Zeeland und Joseph Retinger, langjähriger Mitarbeiter des polnischen Exilpremiers Władysław Sikorski, in Belgien, Luxemburg, Großbritannien und Frankreich eine »Independent League of European Co-operation« (ILEC), die an die europäischen Zollunions-Komitees der 1920er und 1930er Jahre anknüpfte. Am 7. März 1947 konnten sie die Konstituierung eines provisorischen Zentralkomitees auf internationaler Ebene bekannt geben. Die Gruppe versammelte einflussreiche Wirtschaftswissenschaftler, Bankiers und Manager, denen die Behinderung des Wiederaufbaus durch nationale Wirtschaftsgrenzen in Europa Sorgen machte. Sie teilten zwar keineswegs alle Churchills Furcht vor einer sowjetischen Expansion. Da sie aber auf einen raschen Beginn wirtschaftlicher Integration ohne Rücksicht auf sowjetische Vorbehalte drängten und ebenso wenig auf eine bestimmte Integrationsmethode festgelegt waren wie der britische Oppositionsführer, waren sie für eine Zusammenarbeit mit der Sandys-Gruppe geradezu prädestiniert. Manche Politiker, so der ehemalige Direktor des Internationalen Arbeitsamtes, Harold Butler, und der spätere britische Premierminister Harold Macmillan, wurden in beiden Organisationen zugleich aktiv. Im Gefolge der Churchill-Rede wurde schließlich auch Coudenhove-Kalergi, der Begründer der Paneuropa-Bewegung, wieder in der europäischen Politik tätig. Zunächst schlug er Churchill eine Wiederbelebung der Paneuropa-Union »unter unserer gemeinsamen Führung« vor. Nachdem dieser aber zurückhaltend reagiert hatte, organisierte Coudenhove im November 1946 eine Umfrage unter den Parlamentariern des westlichen Europa. Über 4.000 Abgeordnete wurden gebeten, sich – zustimmend oder ablehnend – zu der Frage zu äußern, ob sie »eine europäische Föderation im Rahmen der Vereinten Nationen« befürworteten. Damit sollte die Einigungsbereitschaft in den Ländern des westlichen Europa demonstriert und Druck auf die Regierungen ausgeübt werden, endlich mit Initiativen zur Schaffung eines westlichen Europas zu beginnen. Die zustimmenden Abgeordneten wurden aufgefordert, in den Parlamenten überparteiliche Komitees zu bilden, die sich dann im Juni 1947 zu einem Europäischen Kongress in Genf treffen sollten. Die Aktion zeigte freilich, dass die Idee eines Zusammenschlusses, der das östliche Europa von vornherein ausschloss und so die einsetzende Spaltung Europas vertiefte, im Winter 1946/47 noch nicht sonderlich populär war. Nur wenige Abgeordnete waren bereit, sich mit einem solchen Konzept zu identifizieren. Bis Ende April 1947 gingen nur 660 Antworten bei Coudenhove ein (wovon 646 positiv waren) – kaum mehr als ein Achtel der insgesamt erbetenen Antworten. Die ambitiösen Kongresspläne mussten daher zunächst vertagt werden. Ähnlich erfolglos verliefen die Bemühungen René Courtins, des Mitherausgebers von Le Monde, in Frankreich ein Parallelkomitee zu dem britischen UEM zustande zu bringen. Die französischen Europa-Anhänger scheuten zumeist das Risiko, mit Churchills Westblock-Konzeption in Verbindung gebracht zu werden. Die Stimmen, die eine Einigung auch ohne sowjetische Zustimmung befürworteten, wurden zwar allmählich zahlreicher, doch überwog die negative Reaktion auf Churchills Vorstoß insgesamt bei weitem. Die meisten Europäer sahen ein vereintes Europa als »Dritte Kraft«, die unter der Führung des von Labour regierten Großbritannien zwischen den rivalisierenden Weltmächten USA und Sowjetunion vermitteln und so eine Spaltung Europas vermeiden sollte. Auch die Anhänger der organisierten föderalistischen Bewegung, die sich im Dezember 1946 als »Union Européenne des Fédéralistes« (UEF) konstituierte, hofften auf ein letztlich sozialdemokratisch strukturiertes Europa, das gegenüber den USA wie der Sowjetunion Eigenständigkeit bewahren konnte: »Wir wollen«, hieß es in ihrer ersten Programmerklärung, verabschiedet in Amsterdam am 15. April 1947, »nicht ein dahinsiechendes Europa als Spielball widerstreitender Interessen, beherrscht durch entweder einen angeblich liberalen Kapitalismus, der die menschlichen Werte der Macht des Geldes unterordnet, oder einen Staatstotalitarismus, dem jedes Mittel recht ist, sein Gesetz auf Kosten der Menschenrechte und der Rechte der Gemeinschaften durchzusetzen. Wir wollen ein Europa als offene Gesellschaft, d. h. dem Osten wie dem Westen gegenüber freundschaftlich gesinnt, bereit, mit allen zusammenzuarbeiten.«

Erscheint lt. Verlag 1.2.2025
Verlagsort Frankfurt
Sprache deutsch
Maße 160 x 234 mm
Gewicht 932 g
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Zeitgeschichte ab 1945
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung Europäische / Internationale Politik
Schlagworte Brexit • Corona • Deutschland • EEA • EG • EGKS • EU • Euro • Euro-Krise • Europa • europäische Bewegung • Europäische Gemeinschaft • Europäische Integration • Europäische Kommission • Europäische Union • Europäische Wirtschaftsgemeinschaft • Europarat • EWG • EWS • Frankreich • Griechenland-Krise • Großbritannien • Italien • Montanunion • Römische Verträge • Schengener Abkommen • Schuman-Plan • Vertrag von Maastricht
ISBN-10 3-593-51971-2 / 3593519712
ISBN-13 978-3-593-51971-5 / 9783593519715
Zustand Neuware
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