Diversitätsorientierte Soziale Arbeit (eBook)
234 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-040802-9 (ISBN)
Prof. Dr. jur. Wolfgang Deichsel, Jurist und Soziologe, war Rechtsanwalt, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Aufbau- und Kontaktstudium Kriminologie der Universität Hamburg sowie Hochschullehrer des Rechts und Gründungsprorektor an der Evangelischen Hochschule Dresden.
Prof. Dr. jur. Wolfgang Deichsel, Jurist und Soziologe, war Rechtsanwalt, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Aufbau- und Kontaktstudium Kriminologie der Universität Hamburg sowie Hochschullehrer des Rechts und Gründungsprorektor an der Evangelischen Hochschule Dresden.
1 Bedarf es einer Neuausrichtung hin zu diversitätsorientierter Sozialer Arbeit? Hypothetische Suchbewegungen
In Natur und Kultur, in der Gesellschaft, in Wirtschaft und Politik, in den persönlichen und individuellen Lebensumständen ist ein fortschreitender Prozess der Diversifizierung hin zu sehr unterschiedlichen Diversitätsformen festzustellen. Dieser erfasst auch Soziale Arbeit, ihre vielseitige Rahmung, Tätigkeitsfelder und Handlungsmethoden.
Andererseits bestehen Zweifel, ob das Verständnis von Sozialer Arbeit, ihre Analyse und ihre hieraus folgenden Handlungskonzepte diesem unabweisbaren und auch brüchigen Wandlungsprozess gerecht werden.
Wegen immer schon bestehender und jetzt sich weiter diversifizierender Vielfalt sozialarbeiterischer Tätigkeitsfelder kann die Neuausrichtung hin zu diversitätsorientierter Sozialer Arbeit nur beispielhaft an Sozialen Problemen, Kriminologie und Strafrecht, allerdings einem ihrer zentralen Querschnittsthemen mit hohem Diversitätspotenzial, auch mit Geltungsanspruch für ihre anderen Bereiche exemplifiziert werden.
Offene Suchbewegungen, zunächst auf Handlungshypothesen zielend, immer mehr aber auch auf die Herausbildung kategoriengeleiteter wissenschaftlicher Hypothesen, sind zunächst semantischer, begriffskonzeptioneller Art. Der Begriff der »Diversität« ist alles andere als klar definiert. Er wird als Mode- bzw. Trendbegriff inflationär gebraucht und ist von anderen Begrifflichkeiten abzugrenzen. Als polysemes Wort enthält Diversität mehrere Bedeutungen, die nach ihrem jeweiligen Verwendungskontext variieren. Sie kann nicht außerhalb von »frames« (= Rahmen) gedacht, ausgesprochen und behandelt werden. Die Bedeutung des »Framing« von Begrifflichkeiten gilt sicherlich sowohl für das herkömmliche Verständnis der Straffälligenhilfe wie für das hier vorgeschlagene Gegenkonzept diversitätsorientierter sozialproblembezogener-kriminologischer Sozialer Arbeit. Straffälligenhilfe ist normativ gerahmt durch einen im Mittelpunkt von Strafrecht und Kriminalstrafe stehenden Menschen, durch Verantwortungszuschreibung und ein in guter christlicher Tradition stehendes, aber wissenschaftlich überholtes Hilfeverständnis. Diversitätsorientierte Soziale Arbeit demgegenüber ist empirisch-normativ, anerkennend-wertschätzend, systemisch-anschlussfähig, aber auch (heraus)fordernd kontextualisiert.
Wenn Diversität zunächst auf Pluralität, Vielfalt oder Heterogenität gerichtet ist, so sind auch die hieraus zu ziehenden Ableitungen auf diese selbst plural, vielfältig, heterogen. Diese Heterogenität zeigt sich insbesondere auch darin, dass Vielfalt, Vielfältigkeit zunächst als positiv betrachtet werden, dann aber andererseits Diverses, Diversitäten nicht nur auf das Gute verweisen, sondern eben auch auf eine Ambiguität, eine Fragilität, eine »fragility of goodness«, um dieses personenzentrierte Verständnis von Martha Nussbaum (2001) in gesellschaftstheoretische Bezüge zu übernehmen.
Indem sich im Bereich von Strafrecht und Kriminologie die reduktionistische Begrifflichkeit der Straffälligenhilfe hin zu emergentistischer diversitätsorientierter Sozialer Arbeit ausweitet bzw. sich öffnet, können sich durch diese begrifflichen Dehnungen oder gar Blähungen leicht die Konturen des Sachverhalts auflösen.
Dies kann einmal durch fehlende Kriterien zur Abgrenzung von konkurrierenden Begrifflichkeiten wie Unterschiedlichkeit und Verschiedenheit, Differenz und Divergenz, im Bedeutungskorridor der Vielfalt, Vielfältigkeit, Pluralität, von der Homogenität über Andersartigkeit hin zur Heterogenität und gar zum »totaliter aliter« (= vollkommen anders) mit Paradigmawechsel geschehen. Oder aber auch über den in der Logik bekannten Fehlschluss der Verallgemeinerung, wonach ein zunächst aussagefähiger Begriff zum Catch-all-Begriff wird, eine anfangs sinnvolle Erklärungsstrategie dann ihren Sinn verliert, wenn sie auf alles und jedes zur Anwendung kommt. Diese Gefahr besteht in der Diversitätsdiskussion dann, wenn die Differenz von Differenz und Diversität nicht gesehen wird bzw. verschwimmt, indem das jedem, ganz besonders aber gerade diversitätssorientiertem Denken unterliegende Differenzieren schon als Diversität verstanden wird.
Auch könnte Diversität einem popularity bias unterliegen, indem ihre Popularität den vernunftbezogenen Blick auf Inhalte trügt. Anders als ein der Aufklärung eher zugängliches Vorurteil entzieht sich ein bias dieser leichter durch seinen noch stärker unbewussten Charakter. Auch hieraus ergibt sich das Anliegen rationaler Aufklärung, denn wenn Differenz Diversität zugrunde liegt, dann kann ihr Begriff selbst nicht ohne erkennbare Differenzen auskommen.
Es bedarf daher über eine Vorausverständigung hinaus einer ständigen, die Ausführungen begleitenden Reflexion der Begrifflichkeit der Diversität mitsamt ihrer impliziten Vorverständnisse und Zuschreibungen, ihrer thematischen Eng- wie Weitführungen, ihren blinden Flecken und interessenbezogenen Instrumentalisierungen. Eine lexikalische Spurensuche ergibt, dass etymologische Wörterbücher und Glossare erst in jüngerer Zeit, den Aufstieg bzw. die Ausweitung der Diversitätsdiskussion hiermit dokumentierend, etymologische Zugänge zu einem Begriffsverständnis von Diversität und damit zu einer möglichen Sachverhaltserschließung enthalten. So im Duden (2020, 207):
»Das Substantiv Diversität (›Vielfalt, Vielfältigkeit, Verschiedenheit‹) ist seit der 1. Hälfte des 17. Jhs belegt u. geht wie engl. diversity und franz. Diversite auf lt. diversitas zurück. Dieses ist über das Adjektiv diversus ›verschieden‹ auf das Verb divertere ›auseinandergehen, voneinander abweichen‹ zurückführbar«.
Diese etymologische Definition kann nur ein erster Anker für ein Diversitätsverständnis sein, das durch zwei begriffliche Komponenten geprägt ist, einmal adjektivisch vielfältig, verschieden, zum anderen verbal formuliert unterscheidend, auseinandergehend, voneinander abweichend. Über die erste eher deskriptive und positiv konnotierte Komponente hinausgehend, wird die zweite analytische Komponente des Andersseins im Vordergrund stehen, wobei dann jeweils gegenstandsbezogen zu bestimmen sein wird, nach welchen Kriterien und wie diese essenziell und substanziell, d. h. wesentlich und inhaltsreich, differenziert werden kann bzw. wird.
Die Doppelbedeutung von Diversität findet sich auch im englischen Wortgebrauch, aus dem sie sich als sehr alte Begriffsquelle ableitet.
»Das englische Wort, um das es hier geht, findet sich gemäß Oxford English Dictionary zum ersten Mal im Jahre 1340 und meint von dort an mehrheitlich die Bedingung und die Beschaffenheit des Andersseins. Nicht also das abstrakt andere oder einfach die Vielfalt sind hier gemeint ...« (Ehret 2011, 44)
Ausgehend von Biodiversität im Sinne des US-amerikanischen Evolutionsbiologen Edward O. Wilson, »Die biologische Vielfalt ist unsere wertvollste, aber am wenigsten geschätzte Ressource«, gilt es, Soziodiversität in ihren Verästelungen im Sozialen mit Blick auf die Bedeutung für diversitätsorientierte Soziale Arbeit nachzugehen.
Der sich graduell vollziehende Übergang bei Diversität von bloßer Vielfältigkeit hin zum Anderssein hat im Hinblick auf diversitätsorientierte Soziale Arbeit als Bezugssubjekte die Menschen, Mandanten/Mandantinnen wie die professionell Handelnden im triangulären Spannungsfeld von Sozialen Problemen, Kriminologie und Strafrecht. Um diesem Anliegen gerecht werden zu können, bedarf es als weiterer Bezugsobjekte empirische wie normative Phänomene, wissenschaftliche Analysen, Organisationen und Mitarbeiterteams, Handlungsstrategien, um mit deren eigener Diversität ein vertieftes Verständnis wie eine wirksame Förderung subjekthafter Diversität zu ermöglichen. »Als Referenzfolie dienen die Vielfaltsdimensionen bzw. gesellschaftlich exponierten Differenzkategorien: ethnische Herkunft, Geschlecht, Behinderung, Alter und sexuelle Orientierung« (Bretländer/Köttig/Kunz 2015, 7), erweitert um solche der prekären Lebenslage und der Vulnerabilität (▸ Kap. 5.1). Inwieweit der Adressatenkreis von Diversität über ein auf Individuen und Kollektive gerichtetes subjektbezogenes Verständnis hinaus zu ziehen ist, wird in der Diversitätsdiskussion allerdings uneindeutig und vage gehandhabt.
Die mit diesem vorläufigen Begriffsverständnis als Kompass ausgerichteten Suchbewegungen beginnen daher in Kap. 2 mit Konzepten, Gestaltungsmöglichkeiten, Potenzialen und Entwicklungsverläufen von Diversität im Rahmen ihrer Vielfalt und Vielfältigkeit wie Andersartigkeit, bezogen auf sehr unterschiedliche Anwendungsfelder und Gesellschafts-, Ökonomie- wie Politikbereiche mit ihren Potenzialen, aber auch Konfliktzonen.
Dies wird zielorientiert das Feld für diversitätsorientierte Soziale Arbeit (▸ Kap. 3) bereiten bzw. hierauf...
Erscheint lt. Verlag | 9.8.2023 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik ► Sozialpädagogik |
Schlagworte | Kriminalität • Soziale Arbeit • Vulnerabilität |
ISBN-10 | 3-17-040802-X / 317040802X |
ISBN-13 | 978-3-17-040802-9 / 9783170408029 |
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