Nachhaltigkeit und Demokratie (eBook)
243 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-77448-9 (ISBN)
Was bedeutet das Ziel der Nachhaltigkeit für unsere Demokratie? Angeblich besteht ein Gegensatz zwischen dem Anspruch auf individuelle Freiheit einerseits und der ökologischen Notwendigkeit der kollektiven Selbstbeschränkung andererseits. Um einen Weg aus diesem vermeintlichen Dilemma aufzuzeigen, greift Felix Heidenreich in seinem grundlegenden Buch auf die republikanische Tradition der Demokratietheorie zurück. Wo der Liberalismus die Freiheit als individuelle Ungebundenheit feiert, konzipiert der Republikanismus Freiheit als kollektive Selbstbindung. Demokratie besteht dann nicht darin, einem Minimum an Regelungen unterworfen zu sein, sondern sich selbst als Koautor:in kollektiver Selbstbindungen zu verstehen, die den Aufbau nachhaltiger Lebenswelten ermöglichen.
Felix Heidenreich ist wissenschaftlicher Koordinator am Internationalen Zentrum für Kultur- und Technikforschung (IZKT) der Universität Stuttgart und chercheur associé am CEVIPOF in Paris.
352 Warum geschieht so wenig? Fünf idealtypische Antworten
Längst ist der Nachhaltigkeitsdiskurs in der breiteren Öffentlichkeit fest etabliert und wird durch viele staatliche, nichtstaatliche und parastaatliche Institutionen, NGOs, Nachhaltigkeitsbeiräte (wie den Rat für Nachhaltige Entwicklung [RNE] in Deutschland), aber auch durch politische Stiftungen und von der Politik selbst vorangetrieben. In großer Zahl benutzen Zeitschriften, Fernsehsender und Bürgerbeteiligungsformate das Wort »Nachhaltigkeit« werbewirksam in ihren Selbstdarstellungen. Und auch im wissenschaftlichen Feld werden die möglichen Konsequenzen einer Transformation zu einer nachhaltigen Gesellschaft intensiv diskutiert, insbesondere im Rahmen der Debatte um die »Transformationswissenschaft«.[1] Es handelt sich also um einen beinahe unüberschaubaren Diskurs, den ich in diesem Kapitel ein wenig entwirren möchte, indem ich fünf idealtypische Antworten herausarbeite, und zwar auf die Frage, warum angesichts der sich anbahnenden ökologischen Krise so wenig geschieht und wie man das ändern könnte. Meine Rekonstruktion zielt in keiner Hinsicht auf Vollständigkeit, zumal die Debatten in den jeweiligen nationalstaatlich verfassten Öffentlichkeiten unter je spezifischen Bedingungen stattfinden, sondern auf systematische Nützlichkeit. Sie soll ein geordnetes Spektrum an Problembeschreibungen und daraus resultierenden Handlungsoptionen präparieren und zugleich die entsprechenden Ansätze auf ihre Plausibilität prüfen.
362.1 Antwort 1: Fernstenethik als Moral für die technisierte Welt (Jonas)
Ein erster Typus von Ansätzen interpretiert die ökologische Krise der Gegenwart als Ausdruck einer moralischen Krise.[2] Sie liege darin begründet, dass in den hochentwickelten Gesellschaften der Gegenwart die technischen Möglichkeiten, das Niveau sozialer Komplexität und die ethischen Leitvorstellungen nicht mehr zusammenpassen. Paradigmatisch formuliert wird diese These von Hans Jonas in seinem berühmten Werk Das Prinzip Verantwortung von 1979, das international bis heute eine herausragende Wirkung entfaltet.[3]
Die historische Diagnose, die Jonas in diesem Buch formuliert, lautet, dass es gegenwärtig (das heißt: Mitte des 20.Jahrhunderts) im Wesentlichen zwei Moralkonzeptionen gibt, die mit Blick auf die aktuellen Problemlagen gleichermaßen unbefriedigend bleiben.[4] Das ist zum einen die Nächstenethik tribal organisierter Gesellschaften, welche die Verantwortung auf jene Personen bezieht, die dem Handelnden bekannt oder direkt präsent sind. Der Aufruf, 37gegenüber dem Nächsten gut zu handeln oder die eigene polis auch unter Einsatz des eigenen Lebens gegen äußere Feinde tapfer zu verteidigen, ist jedoch nur unter der Bedingung linearer, übersichtlicher, ja »anschaulicher« Kausalketten erfolgversprechend. Der Handelnde muss den Nächsten sehen, auf ihn einwirken können (in der neutestamentlichen Variante einer Nächstenethik); er muss wissen, wer Feind und wer Freund ist und welche Tugendvorstellungen in seiner Gemeinschaft gelten (in der Aristotelischen Variante einer Nächstenethik). Diese Bedingung ist in hochkomplexen modernen Gesellschaften nicht mehr gegeben. Sowohl die christliche als auch auf Aristoteles zurückgehende antike Tugendethik können folglich nur unter vormodernen Bedingungen als Skript sozialer Koordination dienen, so Jonas.
Die zweite Moralkonzeption im Angebot ist die Prinzipienethik, die laut Jonas in Reaktion auf gewisse Schwächen der Nächstenethik entstanden ist. Wenn in Platons Politeia unklar wird, was genau es heißt, jedem das Seine zu geben, müssen Ideen, abstrakte Prinzipien an die Stelle einer intuitiv verfahrenden Nächstenethik rücken. Gerechtigkeit besteht dann darin, der Idee des Guten entsprechend zu verfahren und dafür auch negative praktische Folgen in Kauf zu nehmen, also beispielsweise einen Justizirrtum zu ertragen, wie es Sokrates in der literarischen Inszenierung durch Platon in der Apologie und den Dialogen Kriton und Phaidon vorlebt. Dass Cicero den Begriff der Pflicht (officium) unter den Bedingungen eines komplexer werdenden römischen Imperiums einführt, kann Jonas zufolge ebenfalls als Indiz dafür gelesen werden, dass vor allem die Zunahme an sozialer Komplexität die Umstellung von einer folgenzentrierten Nächstenethik auf eine die Folgen tendenziell ignorierende Prinzipienethik nötig macht. Kants praktische Philosophie stellt nach Jonas den modernen Idealtypus einer solchen Prinzipienethik dar, die ganz explizit den Blick auf die unübersichtlichen empirischen Verhältnisse verweigert, stattdessen kategorisch argumentiert und daher die Folgen des eigenen Handelns nur bezogen auf die ethischen Prinzipien berücksichtigen muss. Dass Kant in seiner Replik auf Benjamin Constant »Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen« vorschlägt, lieber die »Menschheit überhaupt« zu retten (indem man unter allen Umständen die Wahrheit sagt) als einen einzelnen Menschen (indem man lügt), kann nach den historischen Erfahrungen des 20.Jahr38hunderts nur als Indiz für die Schwierigkeiten einer Prinzipienethik gedeutet werden.[5]
Jonas schlägt vor diesem Hintergrund eine Art Synthese aus folgenprüfender Nächstenethik und universalistischer Moral vor, die er Fernverantwortung beziehungsweise Fernstenethik nennt. Die Fernstenethik ist universalistisch, insofern sie die Menschheit als Ganzes im Auge hat, und sie ist eine Verantwortungsethik, insofern sie die konkreten, empirischen Folgen für die lebenden und künftig lebenden Menschen (nicht für die »Menschheit überhaupt«) im Auge behält. Gerade was die empirischen Folgen des menschlichen Handelns betrifft, hat die moralphilosophische Perspektive eine stark zeitdiagnostische Ausrichtung: Die Tragödie besteht darin, so Jonas, dass wir die Folgen unseres Handelns in vielen Fällen nicht oder nur unzureichend überschauen. Für Jonas war es vor allem die Kernenergie, an der sich zeigt, dass in modernen Hochtechnologiegesellschaften der Zusammenhang zwischen Handlung und Handlungsfolge(n) zeitlich und räumlich ins Unüberschaubare entgrenzt ist. Ähnliches lässt aber auch über klimabezogenes Handeln sagen.
Im Rahmen seiner Verantwortungsethik entwickelt Jonas einen neuen, für die »technologische Zivilisation« adaptierten kategorischen Imperativ, der zur Fernverantwortung anleiten soll. Er lautet: »Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden!«[6] Unklar bleibt indes, an wen genau sich dieser Imperativ richtet.[7] In der Tat wechselt Jonas oft zwischen einem »Ich« und einem »Wir« der Verantwortung. Sein neuer kategorischer Imperativ richtet sich rein grammatisch zwar an ein einzelnes Subjekt, aber Jonas schreibt: »Es ist ferner offensichtlich, daß der neue Imperativ sich viel mehr an öffentliche Politik als an privates Verhalten richtet, welches letztere nicht die kausale Dimension ist, auf die er anwendbar ist.«[8] Die ausführliche Diskussion des »Staatsmanns« im dritten Kapitel 39von Das Prinzip Verantwortung legt nahe, dass sich Jonas an verantwortliche Politiker richtet.[9] Mögliche politische und institutionelle Konsequenzen deutet er lediglich an, ohne sie wirklich zu entfalten.
Ich habe bereits auf die enorme Wirkung hingewiesen, die Jonas’ Überlegungen bis heute entfalten. Seine moralphilosophische Perspektive prägt insbesondere eine Strömung des aktuellen Nachhaltigkeitsdiskurses, deren international bekanntester Vertreter der Philosoph Vittorio Hösle ist. Hösle appelliert nicht nur seit den 1980er Jahren an die individuelle Verantwortung – beispielsweise in seinen stark rezipierten Moskauer Vorlesungen – und wirbt für eine Suffizienzrevolution, die vor allem durch die Zügelung der Bedürfnisse der Individuen angestoßen werden soll, wobei in diesem Zusammenhang die...
Erscheint lt. Verlag | 15.5.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung |
Schlagworte | aktuelles Buch • bücher neuerscheinungen • Liberalismus • Neuerscheinungen • neues Buch • Ökologie • Republikanismus • STW 2388 • STW2388 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2388 |
ISBN-10 | 3-518-77448-4 / 3518774484 |
ISBN-13 | 978-3-518-77448-9 / 9783518774489 |
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