Noch nicht mehr (eBook)

Die Zeit des Ruhrgebiets

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
192 Seiten
Tropen (Verlag)
978-3-608-12243-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Noch nicht mehr -  Per Leo
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Das Ruhrgebiet: Wie aus dem rauchenden Pott das Land der Zeit wurde Worin besteht die Einheit des Ruhrgebiets? Seit jeher lässt sich darauf keine eindeutige Antwort finden. Doch nach dem Ende der Montanindustrie hat sich die Fragestellung verschoben - von der Realität der Arbeitswelt hin zur Identität im Wandel. Zwischen produktiver Zerstörung und unvollendetem Projekt war, so zeigt dieser Essay, an Emscher und Ruhr das Neue von heute immer schon schnell das Alte von morgen.   Wo einst Zechen, Hochöfen und Arbeitersiedlungen Stoff für Reportagen lieferten, regt der vollzogene Strukturwandel heute eher zum Nachdenken an. Der Philosoph Wolfram Eilenberger hat kürzlich behauptet, das post-industrielle Ruhrgebiet existiere noch gar nicht. Der Historiker Per Leo setzt nun dagegen, dass es sich im Moment des Niedergangs neu erfand: als Laboratorium einer Geschichtskultur »von unten«. Wie eine Vergangenheit erforschen, die kaum schriftliche Quellen hinterlassen hat? Kann die Vorgeschichte eines Nachlebens Erinnerung sein? Ist, frei nach dem Düsseldorfer Beuys, jeder Ruhrmensch ein Historiker? Dieses Buch begibt sich auf Spurensuche und fördert dabei überraschende Antworten zutage

Per Leo, geb. 1972, wurde mit einer Arbeit über die Geschichte des Antisemitismus in Deutschland promoviert. Sein Debütroman »Flut und Boden« stand auf der Shortlist des Leipziger Buchpreises. Der von ihm mitverfassten Leitfaden »Mit Rechten reden« wurde zum vieldiskutierten Bestseller. Leo lebt als freier Autor und Schatullenproduzent in Berlin.

Per Leo, geb. 1972, wurde mit einer Arbeit über die Geschichte des Antisemitismus in Deutschland promoviert. Sein Debütroman »Flut und Boden« stand auf der Shortlist des Leipziger Buchpreises. Der von ihm mitverfassten Leitfaden »Mit Rechten reden« wurde zum vieldiskutierten Bestseller. Leo lebt als freier Autor und Schatullenproduzent in Berlin.

»Per Leo schreibt eloquent, assoziativ, pointiert, auch polemisch. […] Der Essay setzt Noten für eine Melodie, die noch nicht gefunden ist.«
Andreas Rossmann, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08. November 2023

»Per Leo schreibt eloquent, assoziativ, bildreich, pointiert, auch polemisch. […] Der Essay setzt Noten für eine Melodie, die noch nicht gefunden ist.«
Andreas Rossmann, Geschichtskultur Ruhr, Ausgabe 01/2024

Prolog: Frei nach Tolstoi


Glückliches Bielefeld. Wenn im Rest des Landes der ebenso unverwüstliche wie schlichte, man könnte auch sagen: der recht deutsche Witz die Runde macht, eine Stadt namens Bielefeld existiere gar nicht, dann ruft das bei den Bielefeldern ja höchstens ein Schulterzucken hervor. Sie wissen eben, dass manche Leugnung mehr über den Leugner als über das Geleugnete verrät. To be or Bielefeld – Bielefeld gibt es nicht, also bin ich: Wer das nötig hat, denkt der Bielefelder, der erhöht sich selbst doch auf Haaresbreite über den Meeresspiegel. Außerdem weiß man in Bielefeld die Wirklichkeit auf seiner Seite.

Ein Ehepaar kehrt zurück aus dem Sommerurlaub. Wird nun die Frau, wie die Protagonistin eines schlechten Romans, beim Passieren des Ortsschildes zu ihrem Mann sagen: »Schau mal, Schatz, da sind wir ja schon in Bielefeld, wo wir bekanntlich trotz aller Nachteile wohnen. Weißt du, als ich gerade seinen Namen las, da wurde mir ganz warm ums Herz. Es macht mir nämlich gar nichts aus, dass die alliierten Bomber unsere Stadt dem Erdboden gleichgemacht haben. Im Gegenteil, so kann man sie wenigstens nicht mit dem schönen Bad Salzuflen verwechseln. Und dass wir ununterbrochen ganz normal sind, das unterscheidet uns doch aufs Angenehmste vom katholischen Paderborn. Auch haben wir uns noch nie so peinlich benommen wie Detmold, als es 2010 partout nicht Kulturhauptstadt Europas werden wollte. Blass, wie es ist, nenne ich darum Bielefeld ohne Zögern meine Heimat.«

Man steckt nicht drin im anderen, aber ein vernunftbegabtes Wesen, das tatsächlich solche Sätze sagt, ist noch schwerer vorstellbar als ein Schriftsteller, der sie sich bloß ausdenkt. Die meisten Orte sind schließlich im Laufe der Zeit so mit ihrem Namen verwachsen, dass man dessen Bedeutung nicht mehr wortreich herbeireden muss. Bielefeld ist eben Bielefeld, weswegen man einfach »Bielefeld« sagt, wenn man Bielefeld meint oder etwas Informatives über Bielefeld mitteilen möchte. Zum Beispiel im Hinblick auf seine zahlreichen Fließgewässer. Schaue man genauer hin, so lockt etwa der lokale Naturschutzverein, könne man in Bielefeld »jede Menge faszinierende, glitzernde und plätschernde Natur im Stadtgebiet entdecken, meist am Stadtrand«.[1] Nun muss man andernorts zwar weder an den Stadtrand radeln noch allzu genau hinschauen, um sich vom glitzernden Nass faszinieren zu lassen – aber wer hat, der hat. Und wer sich seiner selbst gewiss ist, braucht auch keinen Vergleich zu scheuen. Darum war es höchstens ein bisschen geschummelt, jedenfalls nicht gelogen, als man um 1900 – der ortsansässige Apotheker August Oetker hatte gerade die Backpulververmarktung revolutioniert – eine Postkarte mit der Aufschrift drucken ließ: Bielefeld, das westfälische Venedig.

Und so ließen sich noch viele informative Sätze über die mittelgroße Stadt an der Lutter bilden, die belegen, dass man dort quasi alles kennt, nur den Selbstzweifel nicht. Zum Beispiel: Ohne die innovative Kombination von Modernisierungstheorie und Fußnotenvermehrung, derer sich die Bielefelder Schule der Sozialgeschichte rühmt, hätte die Historiographie ihr vorwissenschaftliches Stadium womöglich nie verlassen. Oder: Die Landesplanung stuft Bielefeld als Oberzentrum ein, worunter man in der Raumordnung und der Wirtschaftsgeographie einen zentralen Ort der höchsten Stufe versteht, usw.

Doch genug von Bielefeld. Am Ende ist Bielefeld, frei nach Tolstoi, allen anderen glücklichen Städten – Venedig, Barcelona, Bad Salzuflen, Kirchheim a. d. Weinstraße – viel zu ähnlich, um einen Nicht-Bielefelder auf Dauer zu interessieren. Überlassen wir Bielefeld also den Scherzbolden und den Krimi-Autoren. Lassen wir Bielefeld hinter uns. Folgen wir der bald immer stärker befahrenen A 2 weiter nach Westen. Biegen wir auf die A 42 ab. Oder auf die A 40, die früher mal Ruhrschnellweg hieß. Lauschen wir unseren Herzen. Und wir werden merken, wie sich allmählich das Glück verzieht. Als hätte der Himmel seine Stubenfenster aufgerissen, wird die Luft nun mit jeder Minute reiner, bis sie schließlich, kurz hinter Dortmund, ganz frei ist vom Feinstaub der Selbstzufriedenheit, von den Abgasen des Lokalstolzes, vom Smog des gemütlichen Eigensinns. In dem zerklüfteten Ballungsraum, der sich hier jetzt auftut und bis ins Rheinland erstreckt, ist man nämlich alles Mögliche – gradlinig und schräg, herzlich und herzschwach, positiv bekloppt und negativ bescheuert, nur eines sicher nicht: heiter und gelassen selbstbewusst.

Hier wissen die Städte, wie sie heißen, aber nicht, wer sie sind. Zu unvollendet, um sich selbst in der Differenz zu finden, zu träge, um sich zur Megacity zu vereinen, hat keine von ihnen die Gravitationskraft eines Zentrums, während die geballte Saugkraft aller verhindert, dass irgendwo auch nur eine Mitte entsteht. Ihre Namen tragen diese Städte wie eine Geschmacksverirrung der Eltern. Man teilt sie aus infrastrukturellen Gründen und zu Verwaltungszwecken mit, aber erst in Verbindung mit Stadtteilnamen wie Borbeck, Schalke, Witten oder Hochlamarck, mit Institutionskürzeln wie Uni, Fernuni, PH oder KWI, vor allem aber mit Vereinsbezeichnungen wie VfL 1848, FC 04, BVB 09, MSV oder Rot-Weiß erreichen sie auch die Herzen ihrer Bewohner. Ohne die Hilfe solcher Stützwörter fehlt ihnen einfach der Klang, den Namen wie »Paris«, »Venedig« oder »Bielefeld« ganz mühelos erzeugen, sobald sie auch nur ausgesprochen sind.

Was die Liebeslieder der Fankurven am Wochenende auf Sportplatzgröße verkleinern, das hebt im Alltag der Titel einer Region auf das Niveau von Fotobildbänden und Reiseführern. Als wollten sie den schwachen Sound ihrer Eigennamen frisieren, betonen diese Städte nämlich bei jeder Gelegenheit ihre geographische Verwandtschaft. Das klingt zwar noch immer nicht altehrwürdig oder gediegen, aber immerhin nach Großfamilie. Bottrop im Ruhrgebiet, Bruder von Gelsenkirchen im Ruhrgebiet, Cousin von Bochum im Ruhrgebiet, hört gerne zu, am liebsten in Gesellschaft von Schwager Moers im Ruhrgebiet, wenn Tante Duisburg im Ruhrgebiet mit ihrer Bläsercombo ein Konzert gibt; besucht zu Weihnachten und Ostern pflichtschuldig Oma Essen im Ruhrgebiet, obwohl ihr Lebensabschnittspartner, der Prominentenanwalt Mülheim an der Ruhr im Ruhrgebiet, einen ganz schön nerven kann; liegt sich seit Ewigkeiten mit Castrop-Rauxel im Ruhrgebiet wegen einer Lappalie in den Haaren; fährt jeden Sommer mit den Geschwistern Dortmund und Hagen am Rande des Ruhrgebiets in den Urlaub, meist nach Sylt oder auf die Malediven; und sagt über Recklinghausen im Ruhrgebiet: backt extrem leckere Zitronenrolle, aber die langen Haare standen ihr besser.

Man kann sich vielleicht vorstellen, was hier los war, als kürzlich behauptet wurde, das Ruhrgebiet existiere gar nicht. So eine Verwandtschaft ohne Behördenstempel ist ja eine sehr flüchtige Angelegenheit. Erst recht, wenn man bedenkt, dass der westliche Teil der Region historisch zum Rheinland, der östliche zu Westfalen gehört, ihr südlicher Teil den nördlichen an Alter und Wohlstand übertrifft und sie außerdem von drei Kreisstädten aus extern verwaltet wird. Wo der Name »Bielefeld« wie eine Rinde mit der Stadt gewachsen ist, da hängt der Name »Ruhrgebiet« an 53 Städten wie eine Maurerhose ohne Gürtel. Rutscht sie runter, fühlen sich alle nackt. Und außerdem war es kein Witz. Wie auch? Aufgestellt hatte die negative Existenzbehauptung ja kein Geringerer als einer der – laut Verlagswerbung – »besten Philosophen des Landes«, also ein von Berufs wegen ernsthafter Mensch. Und geäußert hatte er sie auch nicht in Form einer plumpen Verneinung, sondern in bestem Philosophendeutsch.

Das Wort »Ruhrgebiet«, so Wolfram Eilenberger kurz und bündig, sei ein »sprachliches Zeichen ohne bestimmbaren Referenten«.[2] Bämm! Das saß. Und es kam im Geltungsbereich des unbestimmbaren Referenten gar nicht gut an. Abgesehen von den üblichen Querulanten und zwölf Hochbegabten, wurde der Philosophensatz dort nämlich einhellig zurückgewiesen. Von den einen mit wütendem Trotz, von den anderen mit zerknirschtem Schweigen. Ein bisschen fühlte man sich allerdings auch ertappt. Nicht wie ein Hochstapler mit falschem Namen, schließlich war niemand betrogen worden – eher wie ein Partytänzer, der plötzlich die Blicke der anderen spürt und ahnt, dass seine Einbildungskraft mal wieder besser in Form war als sein Rhythmusgefühl.

Mal wieder? Mal wieder.

Der spitze Zweifel eines auswärtigen Beobachters war im – sogenannten?! – Ruhrgebiet ja keine neue Erfahrung. Schon 1958 hatte der spätere Nobelpreisträger Heinrich Böll geschrieben, die »Provinz« namens Ruhrgebiet sei...

Erscheint lt. Verlag 14.10.2023
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Bergbau • Eilenberger • Essay • Kohlekumpel • Metropole Ruhr • Metropolschreiber Ruhr • Neuerscheinung 2023 • Neuerscheinung Sachbuch • neuerscheinung sachbuch 2023 • Philosophie • Ruhrgebiet • Ruhrpott • Wandel • Zeche
ISBN-10 3-608-12243-5 / 3608122435
ISBN-13 978-3-608-12243-5 / 9783608122435
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