Migrantenmutti (eBook)
208 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-3324-0 (ISBN)
»Elina Penners Sprache ist genau das, was wir brauchen. Klüger, lustiger, unentbehrlich.« Yasmine M'Barek.
In Elina Penners fulminantem Sachbuchdebüt geht es um Dinge, die auf den ersten Blick wenig kontrovers anmuten: den Kauf eines Schulranzens, das Sitzenbleiben der Kinder am Tisch nach dem Essen oder Medienkonsum. All das wird von Eltern mit Migrationshintergrund, Alleinerziehenden oder Eltern aus der sogenannten »Arbeiterschicht« oft anders gehandhabt als von ihren »bessergestellten« Pendants. Pointiert zeigt Elina Penner, wie politisch Elternschaft ist.
»Elina Penners Texte ziehen Leser:innen in den Bann, indem sie ohne Brüche von einem sehr direkten, ungefilterten Ton in kluge und warme Reflexionen wechselt. So macht sie die allgegenwärtigen Widersprüche unseres Denkens und Alltags sichtbar.« Teresa Bücker.
Elina Penner, 1987 noch gerade so als Sowjet-Bürgerin geboren, erklärt seit über 30 Jahren, wieso sie mennonitisch-plautdietsche Deutsche und nicht Russin ist. Dank ihres 2022 erschienen Debütromans »Nachtbeeren« wird das mit dem Erklären weniger. Da sie Gegensätzliches liebt, hat sie sowohl in Bayern als auch in Berlin studiert. Die USA hat sie dann irgendwann ganz verlassen und lebt seit Jahren wieder in der ostwestfälischen Heimat, von wo aus sie höchst erfolgreich das Online-Magazin »Hauptstadtmutti« betreibt. Wie gesagt, Gegensätzliches. Texte von ihr erscheinen bei Der Spiegel, Vogue, 11 Freunde.
Fernsehen
Wir haben ja keinen Fernseher. Ich korrigiere, wir besitzen kein Fernsehgerät, mit dem wir lineares Fernsehen konsumieren könnten. Das war mal eine bewusste Entscheidung. Genauso, wie ich zu Beginn meiner Mutterschaft recht vehement die Salzkristalle vom Laugengebäck mit einer Handbewegung abrasierte, war es mir mal wichtig zu betonen, dass wir keinen Fernseher haben.
Bis zu einem gewissen Grad ist es mir das noch heute. Nach »Wir haben ja keinen Fernseher« müsste allerdings der Satz folgen: »Wir haben einen Beamer.« Und mehrere Laptops. Und wir gucken das, was alle gucken. Bzw. wir streamen, bzw. bingen eher noch. Ich habe außerhalb meines Elternhauses noch nie einen eigenen Fernseher besessen, was nicht mal ansatzweise bedeutet, dass ich nicht ferngeschaut hätte. Bevor diverse Streaming-Plattformen unser aller Leben vereinfachten, musste meine Generation noch illegal streamen und downloaden, inklusive jedem erdenklichen Trojaner und Virus. Früher haben wir das Risiko in Kauf genommen, nur um die aktuelle Folge Gossip Girl zu sehen.
Serien zu bingen ist also nichts, was uns diese Plattformen gebracht haben, wir bingen, seitdem das Internet uns lässt. Und für Fernsehkinder wie mich gilt das seit ihrer Kindheit. Die Lieder von Rolf Zuckowski werden mich niemals da berühren können, wo »Mila ist 12 Jahre alt und lebt im fernen Japan« ein Gefühl auslöst, das ich nur als völlige Ekstase beschreiben kann. Ihr könnt mich nachts um zwei Uhr wecken, ich werde nichts von Pythagoras wissen, aber bis zum letzten »Irgendwann ist sie ein Superstar« mitsingen können, Wort für Wort. Wie soll man das erklären, was passiert, wenn »Hurra« erklingt und ich sofort weiß, dass jeden Tag ein anderes Spiel zu Ende ist, und bevor man nach Haus’ geht, reicht man sich einander die Hände und hat was gelernt? Ob am Boden oder oben. Dieses Pink, Orange und Grün kann mich bis heute mehr verzaubern als ihr Geheimnis. Sie waren für mich da, wenn ich sie gebraucht habe. Pluto und Goofey, alle waren bei mir. Der erste Anglizismus meines Lebens sagte mir, dass Sailor Moon wie ein Mann fighten kann. Ich habe den Mondstein festgehalten und wollte ihm folgen, meinem Traum von Gerechtigkeit. Ich kannte sie, die Melodie, die Katzen haben mich gerufen zum Mitternachtstanz. Wie selbstverständlich waren später auf meinen ersten selbstgebrannten CDs neben nicht-amerikanischem Hip Hop auch die Intros zu meinen Lieblingsserien aus der Kindheit, völlig unironisch.
Ich verbinde diese Songs, die Serien, die Farben mit meiner Kindheit. Genau wie das Ping der Mikrowelle oder die Tür, die aufgeht, wenn meine Mutter nach Hause kam, voll beladen mit Einkaufstaschen. Kinder gucken aus dem gleichen Grund Fernsehen wie Erwachsene auch: um sich berieseln zu lassen und um sich auszuruhen.
Bevor ich wusste, dass Deutsche Bürgi-Familien über ein Problem mit kindlichem Fernsehkonsum verfügen, wusste ich, dass gläubige Mennoniten keinen Fernseher haben. Entfernte Verwandte oder gute Freunde meiner Eltern hatten wirklich kein TV-Gerät, und ich akzeptierte das als etwas, was fromme Christen halt so handhaben. Ich wusste nicht, dass man sich gegen das Fernsehen aus »Bildungsgründen« (der Sorge um die Entwicklung des eigenen Nachwuchses) entscheiden kann. Es war mir einfach nicht klar, dass es wohl allgemeiner Konsens ist, dass Fernsehen angeblich »dumm«[2] macht, nun, zumindest nicht klüger.
Bis ich Mutter wurde. Schnell war klar, wenn mein holder Nachwuchs keinen Zucker und kein Salz haben durfte, durfte er definitiv auch nicht fernsehen. Das flackernde Licht? Die sich viel zu schnell bewegenden Bilder? Zu laut, zu grell, zu viel von allem. Die Recherche, die ich als junge Mutter betrieb, führte in ein bodenloses Loch der Ratschläge. Eine Grauzone gab es nicht wirklich, Fernsehen war des Teufels. Hier waren sich die Bürgi-Großstadtfamilien um mich herum mal mit den strenggläubigen Mennoniten einig.
Sollte man dem eigenen Kleinkind irgendwann einmal sogenannte Screentime erlauben, dann am besten mit einer Stoppuhr und nur mit Sendungen aus der Liste der zugelassenen, also pädagogisch wertvollen Serien. Diese Liste existiert wirklich, man erhält sie beim Kauf des ersten Wollwalkanzugs oder Lastenrades. Kauft man beides, gibt es auch Konzerttickets für Deine Freunde dazu. Aber eigentlich sollte das Kind die ersten Jahre (Plural!) seines Lebens nicht in den Genuss des Bewegtbildes kommen.
An dieser Stelle lachen alle Eltern, die mindestens ein Kind haben, das, sagen wir mal, schon laufen kann, laut auf. Denn spätestens mit 18 Monaten kann dieses Kind Bücher aus Regalen reißen, auf Fensterbänke klettern, oder wie im Falle meines sehr großen ersten Kindes, Wohnungstüren öffnen. Duschen? Kochen? Mal schnell aufs Klo? Boah, es gibt da so drei bis sechs Monate im Leben eines Kleinkindes und seiner Eltern, da geht das de facto gar nicht, nicht ohne Konsequenzen. Drei bis sechs Monate? Der Protest ist mir sicher. Manche behaupten ein bis zwei Jahre. Doch das können wir dann im Kapitel zu »Erziehung« diskutieren.
Lasst uns festhalten, dass ich hier gerade nur die absoluten Basics menschlicher Existenz aufgezählt habe, die natürlich auch Müttern erlaubt sein sollten. Väter sind hier ausgenommen, die gehen duschen, kacken und trainieren, als wären sie Menschen, und nicht ebenfalls Eltern.
Wohnräume kann man durchsichern, aber lasst es euch sagen, der ein oder andere Wonneproppen kriegt sogar Backofensicherungen auf. Sprich, für manche Eltern sind fünf Minuten Peppa Wutz oder zehn Minuten Oonas und Babas Insel die einzige Möglichkeit, etwas in Ruhe zu erledigen.
Oder sich selbst eine Pause zum Klarkommen zu gönnen. Beides legitim. Ich kann nach zwei Kindern sagen, dass der Zeitpunkt, an dem sie sich dann mal endlich fürs Fernsehen interessiert haben, für uns der Gamechanger war. Soweit ich das mitkriege, interessieren sich nämlich die wenigsten wirklich kleinen Kinder für Bewegtbilder, zumindest nicht länger als ein paar Minuten.
Es gibt aber nicht nur die Eltern, die es ablehnen, dass ihr Nachwuchs fernsieht, sondern auch solche, die ihre Glaubenssätze wiederum in Content verwandeln. Dieser Content findet heutzutage in den sozialen Netzwerken statt. Da ich alt bin und keine Ahnung von TikTok habe, konzentriere ich mich auf Instagram.
Instagram ist nicht die reale Welt und anstelle von einem Spiegel, der uns dort vorgehalten würde, glaube ich, dass viele Accounts so was wie den Turmbau zu Babel vorspielen: Sie gerieren sich als die Art von Eltern, die sie und wir gerne wären, warum auch immer; ihre Kinder sind die Art von Kindern, die wir gerne hätten, deren Verbreitung aber stark eingeschränkt scheint. Wenn auf Insta also (meist) Frauen in Handykameras sprechen und davon berichten, wie sie Medienkonsum handhaben, dann muss man ein paar Dinge beachten.
Erstens: Sie könnten lügen. Das ist die naheliegendste, realistischste Annahme für so ziemlich alle Menschen, die im Internet etwas über ihren Lebensstil berichten. Da hat sich viel getan in den letzten Jahren, sicherlich, dennoch.
Zweitens: Es ist ihr Job. Influencen ist ein Job. Bäcker backen Brot, Pilotinnen fliegen Flugzeuge, Influencer*innen produzieren Content. Deshalb bevorzugen viele auch den Begriff des Content Creator. Es ist Arbeit und im Fall von so einigen Insta Moms ist nun mal das Zuhause der Arbeitsplatz, die Erziehung der Kinder Teil der medialen Selbstdarstellung und eure Reaktion Grundlage ihres Einkommens. Wirklich, die klügsten Content Creator wissen, dass es völlig egal ist, ob ihr sie feiert oder verabscheut, every klick is a good klick. Wenn eine Person es also durchzieht, dass ihre Kinder vor dem dritten Lebensjahr keine App öffnen, keine Serie und keinen Film schauen dürfen, und sie dann darüber im Internet spricht, dann weiß sie, dass ihr darauf reagieren werdet. Clickbait. Ihr werdet es entweder screenshotten und einer anderen Person schicken, oder einen Post direkt teilen und euch vielleicht darüber lustig machen, oder ihr schreibt ihr bzw. noch besser, kommentiert den Post. Hauptsache ihr reagiert, und solange Kooperationen abhängig von Story Views und Interaktionsraten bezahlt werden, werden Menschen, die Content produzieren, versuchen, diesen so zu steuern, dass er bei der...
Erscheint lt. Verlag | 19.9.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
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Schlagworte | Alleinerziehende • Arbeiterschicht • Armut • Diskriminierung • Einschulung • Eltern mit Migrationshintergrund • Elternschaft • entspannte Elternschaft • Erziehung • Gesellschaftskritik • Hauptstadtmutti • Humor • Klassenbewusstsein • Klassismus • Klischees • Kolumnen • Migrantenmutti • Migrationshintergrund • Mütterblog • Mutterschaft • Nachtbeeren • Ninia La Grande • politische Essays • Rassismus • struktureller Rassismus |
ISBN-10 | 3-8412-3324-4 / 3841233244 |
ISBN-13 | 978-3-8412-3324-0 / 9783841233240 |
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