Die große Vertrauenskrise (eBook)

Ein Bewältigungskompass

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
336 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31212-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die große Vertrauenskrise -  Sascha Lobo
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Das Vertrauen der Europäer in die demokratische Politik ist zerrüttet. Institutionen, die im 20. Jahrhundert zu den wichtigsten Vertrauensträgern gehörten, werden von vielen infrage gestellt. Woran liegt das? Was bedeutet das für unsere Gesellschaft? Und wie können wir damit umgehen? In den vergangenen Jahren hat sich ein dramatischer gesellschaftlicher Wandel vollzogen. Viele Menschen stehen nicht nur der Politik, sondern auch großen Konzernen, Medien und sogar der Wissenschaft mit Skepsis gegenüber. Ereignisse wie der russische Überfall auf die Ukraine oder die Pandemie haben zu einer Vertiefung dieses Trends geführt. Und sie haben Frontverläufe eines tiefgreifenden Misstrauens sichtbar gemacht, das in persönlichen Beziehungen eingesickert ist. Sogar im engsten Kollegen-, Freundes- und Familienkreis sind Risse entstanden. Sascha Lobo zeigt, dass die große Vertrauenskrise Symptom viel tiefergreifender Veränderungen ist. Erst, wer diese versteht, erkennt, warum Vertrauen zerbrochen ist - und nicht mehr wie in der Vergangenheit hergestellt werden kann. Vertrauen aber ist die Grundlage unseres Zusammenlebens. Was also tun? Wir können die Aufgaben der Gegenwart und Zukunft nur meistern, wenn wir neues Vertrauen entwickeln. Die Grundlage dafür ist ein Bewältigungskompass, der es möglich macht, die Welt besser zu verstehen. Er dient zur Orientierung in Politik, Medien, Wirtschaft oder Wissenschaft. Und er zeigt Richtungen an, die uns bei der Bewältigung des Alltags helfen können.

Sascha Lobo, geboren 1975, lebt als Publizist in Berlin und im Internet. Er ist Autor zahlreicher Bücher, Blogger und Podcaster, häufiger Gast in Fernsehsendungen und schreibt eine vielgelesene Kolumne beim SPIEGEL. Zuletzt erschien von ihm der Bestseller »Realitätsschock«.

Sascha Lobo, geboren 1975, lebt als Publizist in Berlin und im Internet. Er ist Autor zahlreicher Bücher, Blogger und Podcaster, häufiger Gast in Fernsehsendungen und schreibt eine vielgelesene Kolumne beim SPIEGEL. Zuletzt erschien von ihm der Bestseller »Realitätsschock«.

Inhaltsverzeichnis

Die Implosion des Vertrauens


Altes Vertrauen, Neues Vertrauen


Wenn sich mit der Welt auch die Gefühle ändern

Am 2.Januar 2001 treffen sich der Programmierer Ben Kovitz und der Projektmanager Larry Sanger bei einem Dinner. Sie sprechen dabei über das Projekt, an dem Sanger seit fast einem Jahr beteiligt ist: Er ist Chefredakteur einer werbefinanzierten Seite namens Nupedia, einer kostenlosen Online-Enzyklopädie. Dort können sich Autor*innen bewerben, um Artikel zu schreiben, die dann in einer aufwendigen, siebenschrittigen Überprüfung durch die Redaktion freigegeben werden. Die Seite ist ein spektakulärer Misserfolg. Ende 2000 sind nach rund zehn Monaten weniger als 20 Artikel online, davon zwei in voller, einer Enzyklopädie angemessener Länge. Das Wort »Enzyklopädie« beinhaltet den altgriechischen Begriff »enkyklios«, das so viel bedeutet wie »(all)umfassend«, insofern ist die Zahl der Artikel aus enzyklopädischer Sicht nicht überragend groß.

Sanger muss seine Ernüchterung gezeigt haben, denn Kovitz schlägt eine technische Lösung vor. Er gehört zu einer Community, die sich mit einer neuen Technologie beschäftigt, bei der man vergleichsweise einfach und vor allem schnell im Internet publizieren kann, ohne tiefergehende Programmierkenntnisse. »Wiki« heißt das Konzept, nach dem hawaiianischen Wort für schnell. Die konzeptionelle Vision dieser Software ist, dass alle Menschen ins Internet schreiben können, sogar ohne Registrierung und erst recht ohne Überprüfungen. Es ist sogar möglich, dass verschiedene Personen dieselben Inhalte bearbeiten und korrigieren. Sanger bespricht den Ansatz mit seinem Chef, Jimmy Wales, der jedoch skeptisch ist. Eine Enzyklopädie, in die alle einfach reinschreiben können? Wie sollte man da jemals auch nur einer Zeile des Inhalts vertrauen können?

Trotzdem lässt die neue Technologie beide nicht los, der Charme der Niedrigschwelligkeit, die Geschwindigkeit und wohl auch der Aufbruchsgeist, den die Software-Community versprüht. So einigen sie sich auf eine Art Experiment. Über die Wiki-Software soll man Artikelentwürfe kollaborativ erarbeiten und einreichen können, die dann von der Redaktion sorgfältig überprüft und schließlich auf Nupedia veröffentlicht werden sollen. Dafür wird eine eigene Seite ins Netz gestellt, die am 15.Januar 2001 online geht – unter wikipedia.com. Nicht einmal einen Monat später finden sich dort 200 Artikel. Und das ist erst der Anfang, denn Ende 2001 umfasst die Seite rund 18.000 Artikel. Oder präziser: Artikelentwürfe, denn offiziell ist wikipedia.com noch die Bearbeitungs- und Bewerbungsseite für Nupedia. Faktisch aber zeigt sich, dass die rasant wachsende Community Wikipedia als eigenes Projekt sieht und gar nicht mehr daran interessiert ist, dass die Artikel auf Nupedia veröffentlicht werden. Im Gegenteil. Der Gedanke, dass ein Artikel irgendwann als »fertig« markiert werden soll und dann für den Bewerbungsprozess abgeschickt wird, wonach er nicht mehr verändert werden kann und einen langwierigen Überprüfungsprozess durchläuft, erscheint den Beitragenden zunehmend unattraktiv. Irgendwie unnatürlich. Wer einmal erlebt hat, dass sich Inhalte kontinuierlich aktualisieren, ergänzen und verbessern lassen, gerade für Wissensbereiche, die sich ständig weiterentwickeln, hat größere Schwierigkeiten, Texten zu vertrauen, die zuletzt vor ein paar Jahren niedergeschrieben und überprüft wurden.

Vor allem aber erweisen sich die Befürchtungen von Sanger und Wales, dass die Qualität der Artikel mangelhaft sein könnte oder dass sogar Fälschungen auftauchen, als nicht zutreffend, jedenfalls am Anfang. Denn obwohl es keinen festgelegten Überprüfungsprozess gibt, scheint der Qualitätsstandard sehr hoch. Die meisten Einträge sind weitestgehend korrekt, und mehr noch – sie kommen in Sprache, Aufbau und inhaltlicher Tiefe den meisten Nutzenden vertrauenswürdig vor. Auf bis dahin in diesem Bereich ungekannte Weise scheinen die Online-Kollaboration, die Diskussion unter den Mitarbeitenden, die große Transparenz der Bearbeitung die Qualität der Artikel stark zu erhöhen. Und zwar bis auf ein professionelles Niveau von redaktionell erstellten Lexika. Dieser Effekt wirkt offenbar auch deutlich über die Anfangsphase hinaus, in der eine sehr eingegrenzte Gruppe die Online-Enzyklopädie editiert. Eine Untersuchung des Wissenschaftsmagazins Nature ergibt 2005, dass Wikipedia von der Qualität und der Fehlerzahl an die altehrwürdige Encylopedia Britannica heranreicht (von der heute niemand spontan weiß, ob es sie eigentlich noch gibt). Eine mehrsprachige Untersuchung der Universität Oxford ergibt 2012 sogar eine teilweise höhere Genauigkeit.

Mit der wachsenden Zahl der Artikel entwickelt sich etwas Unerhörtes: Die Öffentlichkeit beginnt entgegen den zahlreichen Ratschlägen von Fachleuten, Wikipedia zu vertrauen. Bei genauer Betrachtung sind viele der Warnungen dafür sogar ein eindeutiger Hinweis. Sie stammen nämlich vor allem von Lehrenden und sind eine Reaktion darauf, dass sehr viele Schüler*innen und Student*innen für ihre Arbeiten Wikipedia nutzen. Dabei ist zwar fast immer auch zu hören, dass man nicht alles für bare Münze nehmen dürfe, was auf Wikipedia steht. Der Hauptgrund für die Warnungen ist aber, dass oft recht plump abgeschrieben wird. Und deutlich seltener, dass alles grundfalsch wäre, was auf Wikipedia publiziert wird. Schon nach kurzer Zeit genießt Wikipedia laut einer Vielzahl von Umfragen in verschiedenen Ländern bei rund zwei Dritteln der internetnutzenden Menschen Vertrauen. Inzwischen werden in Deutschland regelmäßig Vertrauenswerte von 80 Prozent und mehr erreicht. Das übersteigt die Glaubwürdigkeit der meisten anderen Internetseiten bei Weitem. Und das trotz der Größe. Ein Grund ist vermutlich die frühe Entscheidung, Wikipedia.org von einer gemeinnützigen Organisation statt von einem Unternehmen verwalten zu lassen.

Wikipedia gehört seit Beginn der Zehnerjahre verlässlich zu den Top 20 der meistbesuchten Internetseiten der Welt. Nachvollziehbarerweise, denn viele Jobs wären ohne Wikipedia deutlich mühsamer. Die meisten Journalist*innen nutzen die Seite zum Beispiel als Ausgangspunkt für weitere Recherchen oder in verschiedenen Sprachen zum Abgleich, die Arbeit als Sachbuchautor*in wäre ohne Online-Lexikon sogar für manche kaum mehr zu bewältigen. Wikipedia ist inzwischen die größte Enzyklopädie aller Zeiten, die zudem ständig aktualisiert wird. Man könnte von einem enzyklopädischen Beinahemonopol sprechen, wenn es noch einen ernst zu nehmenden Markt gäbe.

Aber warum vertraut die Öffentlichkeit Wikipedia so sehr? Nach den klassischen Kriterien dürfte eine Seite, die wirklich alle mit wenigen Klicks verändern können, zu den am wenigsten vertrauenswürdigen Quellen überhaupt gehören. Diese große Frage hat eine noch größere Antwort: Die Erfolgsgeschichte von Wikipedia basiert auf Vertrauen, das offenbar anders als zuvor entsteht.

Wie Vertrauen entsteht


Es scheint aus Sicht der alten Welt kontraintuitiv. Früher hätte man gesagt, dass Wikipedia nicht zu trauen ist, weil alle hineinschreiben können. Heute weiß man, dass Wikipedia zu trauen ist, weil alle hineinschreiben können. Diese Unterscheidung verdeutlicht, dass Vertrauen einerseits mit menschlichem Verhalten und andererseits mit einer sich durch Technik veränderten Kommunikation zu tun hat. Genau deshalb muss diese merkwürdige Verschiebung des Vertrauens entlang des Wandels der Welt betrachtet werden. Der vielleicht wichtigste Hintergrund der großen Vertrauenskrise ist, dass sich durch Faktoren wie gesellschaftlicher Fortschritt, Internet oder Globalisierung die Art verändert hat, wie Vertrauen entsteht. Dieser Wandel des Vertrauens kann spürbar sein und offen befördert werden oder sich kaum merklich von selbst vollziehen. Er ist, auf die westlichen Gesellschaften bezogen, auch noch im Gang, sogar ganz am Anfang. Zum Verständnis der großen Vertrauenskrise ist er so zentral, dass ich dafür zwei simple, aber entscheidende Kategorien einführen und benennen möchte. Dem Charme der Einfachheit halber spreche ich von Altem Vertrauen und Neuem Vertrauen. Streng genommen müsste man es jeweils »auf alte/neue Art entstandenes Vertrauen« nennen. Aber Umständlichkeit ist keine Tugend, sondern kann Vertrauen sogar reduzieren.

Das Alte Vertrauen baut auf Institutionen, Hierarchien und Gewohnheiten auf, den gesellschaftlichen Stützpfeilern des 20. Jahrhunderts gewissermaßen. Es beruht auf finalen, verlässlichen Fakten. Das Alte Vertrauen geht von Eindeutigkeit, Berechenbarkeit und Stabilität aus. Das Neue Vertrauen dagegen ist fluider, sozialer, prozessualer. Es baut auf schneller Kommunikation auf, auf der Zusammenarbeit vernetzter Gruppen und auf dem Gefühl der Aktualität. Es bezieht die Möglichkeit mit ein, dass sich die Umstände rasch ändern können, weil sich die Geschwindigkeit des Weltenlaufs erhöht hat. Das Neue Vertrauen geht von einer gewissen Uneindeutigkeit aus, zum Beispiel wegen fehlender Informationen, von ständiger Veränderung und der Möglichkeit von Krisen. Und es arbeitet auffällig oft mit (sozial vernetzter) Technologie. An dieser Stelle ist es wichtig zu betonen, dass diese Einteilungen nicht aus sozialpsychologischer Wissenschaftsperspektive geschehen, sondern gesellschaftsdiagnostisch zu verstehen sind. Es geht darum, die Gegenwart besser zu verstehen, nicht darum, mit akademischer Scheinpräzision neue...

Erscheint lt. Verlag 5.10.2023
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Demokratie • Feel the News • Fehlerkultur • Frisur • Gegenwartsanalyse • Internet • Kompass zur Bewältigung des Wandels • Pandemie • podcaster • Realitätsschock • roter Irokese • spiegel bestseller • Spiegel Online • spon • Transparenz • Twitter • Ukrainekrieg • Verschwörungstheorien • Vertrauen • Vertrauen im sozialen Leben • Vertrauen in die Leitmedien • Vertrauen in die Politik • Vertrauen in die Wissenschaft • Vertrauenskrise • Wandel der Welt
ISBN-10 3-462-31212-X / 346231212X
ISBN-13 978-3-462-31212-6 / 9783462312126
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