Die Kette der Infektionen (eBook)

Zur Erzählbarkeit von Epidemien seit dem 18. Jahrhundert
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
320 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491543-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Kette der Infektionen -  Andreas Bernard
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Ein völlig neuer Zugang, um u. a. die Corona-Pandemie besser zu verstehen: Der Wissenschaftshistoriker Andreas Bernard geht in seinem Buch »Die Kette der Infektionen« von der Hypothese aus, dass die Bekämpfbarkeit von Epidemien an ihre Erzählbarkeit gebunden ist. Neben dem dezidiert medizinischen Anteil am Kampf gegen Seuchen - der Entwicklung von Impfstoffen, der Erforschung von Immunität - erscheint die Frage, wie Epidemien und ihre Ausbrüche abgebildet werden, ob sie überhaupt abbildbar sind, für den Erfolg der Eindämmung zentral. Andreas Bernard macht diesen Zusammenhang, der im Hinblick auf die Corona-Pandemie seit dem Frühling 2020 immer wieder deutlich wurde, in seinen Studien zur Geschichte der Pocken, der Cholera, der Influenza, der Poliomyelitis oder der Frühzeit von Aids sichtbar. Er untersucht, inwiefern der Siegeszug der Bakteriologie im späten 19. Jahrhundert eine neue Darstellung der Ansteckungsprozesse durchgesetzt hat, deren Erzählformen und Sprachbilder heute noch gültig sind. Außerdem beschäftigt er sich mit dem Ursprung und dem Ende von Epidemien, als zwei neuralgischen Punkten der Seuchenerzählung, arbeitet die Begleitnarrative von »Immunität« seit dem 18. Jahrhundert heraus und analysiert die Bedeutung von Kommunikationsmedien wie dem Brief, dem Telegramm und den aktuellen Tracking-Apps, deren Nachrichten über die Epidemie in einen Wettlauf mit dem Voranschreiten der Krankheit treten. Andreas Bernards Buch »Die Kette der Infektionen« verbindet medizinhistorische und erzähltheoretische Forschung und schafft einen bislang kaum beachteten Zugang zur Geschichte der Epidemien, der  auch einen neuen Blick auf die Corona-Pandemie der letzten Jahre ermöglicht. 

Andreas Bernard, geboren 1969 in München, ist Professor für Kulturwissenschaften am »Centre for Digital Cultures« der Leuphana-Universität Lüneburg. Von 1995 bis 2014 war er Autor und Redakteur der »Süddeutschen Zeitung«. Derzeit schreibt er für das »ZEIT Magazin« die Rubrik »Laufende Ermittlungen - Notizen aus dem Alltag« sowie für das Feuilleton der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung«. In den Fischer Verlagen ist erschienen: »Die Geschichte des Fahrstuhls: Über einen beweglichen Ort der Moderne« (2006), »Kinder machen: Neue Reproduktionstechnologien und die Ordnung der Familie« (2014), »Komplizen des Erkennungsdienstes: Das Selbst in der digitalen Kultur« (2017) und zuletzt »Das Diktat des Hashtags. Über ein Prinzip der aktuellen Debattenbildung« (2018).

Andreas Bernard, geboren 1969 in München, ist Professor für Kulturwissenschaften am »Centre for Digital Cultures« der Leuphana-Universität Lüneburg. Von 1995 bis 2014 war er Autor und Redakteur der »Süddeutschen Zeitung«. Derzeit schreibt er für das »ZEIT Magazin« die Rubrik »Laufende Ermittlungen – Notizen aus dem Alltag« sowie für das Feuilleton der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung«. In den Fischer Verlagen ist erschienen: »Die Geschichte des Fahrstuhls: Über einen beweglichen Ort der Moderne« (2006), »Kinder machen: Neue Reproduktionstechnologien und die Ordnung der Familie« (2014), »Komplizen des Erkennungsdienstes: Das Selbst in der digitalen Kultur« (2017) und zuletzt »Das Diktat des Hashtags. Über ein Prinzip der aktuellen Debattenbildung« (2018).

Das Buch von Bernard hilft zu verstehen.

Die Parallele zwischen der modernen Krise des Erzählens und der vergeblichen Rekonstruierbarkeit von Infektionsketten in den Großstädten gehört zu den interdisziplinären Höhepunkten des Buches.

1. Erfassung und Ausrottung: Das »Smallpox Eradication Programme« der WHO


1967, neun Jahre nachdem die sowjetische WHO-Delegation eine globale Initiative zur Ausrottung der Pocken angeregt hat, werden in 31 Ländern der Erde noch über 130000 Fälle der potenziell tödlichen Infektionskrankheit vermutet.[1] Die größte Schwierigkeit, die regelmäßigen Ausbrüche in diesen Regionen unter Kontrolle zu bringen, liegt für die WHO nicht an der mangelnden Durchführung von Impfungen. Die Vakzination gegen Pocken – in Europa schon seit der Wende zum 19. Jahrhundert auf rein empirische Weise praktiziert, ohne Wissen um die Prozesse der Immunität – wird nach der Entdeckung des Pockenvirus und der Entwicklung von haltbarem Trockenimpfstoff im frühen 20. Jahrhundert weltweit eingesetzt. Auch andere Merkmale der Krankheit schaffen vergleichsweise günstige epidemiologische Voraussetzungen für die Bekämpfung der Seuche: Pocken werden nur von Mensch zu Mensch übertragen, ohne tierischen Zwischenwirt, und die Ansteckungsfähigkeit der Infizierten ist äußerlich erkennbar, an den Pusteln im Gesicht und am gesamten Körper. Dennoch haben sich im ersten Jahrzehnt nach dem Beschluss eines globalen Konzepts zur Ausrottung kaum Fortschritte ergeben. Das »Intensified Smallpox Eradication Programme«, das 1967 ins Leben gerufen und in einem Handbuch für alle WHO-Mitarbeiter in den betroffenen Ländern niedergelegt wird, führt daher zu einer Neuausrichtung der Eindämmungsstrategie. Ihr Schwerpunkt liegt neben den Impfkampagnen nun auf der Optimierung und Vereinheitlichung der bislang vernachlässigten Erfassungsarbeit.

In dem 1500 Seiten starken, monumentalen Abschlussbericht Smallpox and its Eradication, den die WHO im Jahr 1988 veröffentlicht, ist diese entscheidende Verschiebung im Kampf gegen die Pocken minuziös nachgezeichnet. »Während sich die Ausrottungskonzepte bis 1967«, so die Autoren, »ausschließlich auf Massenimpfungen konzentrierten, kamen nun Maßnahmen der Erfassung hinzu. Zuvor wurde der genauen Registrierung von Pockenfällen international und in den Ländern selbst wenig Aufmerksamkeit geschenkt; in den endemischen Ländern gab es keine nationalen Initiativen, die zur Dokumentation von entdeckten Ausbrüchen eingerichtet worden wären. Ab 1967 hingegen änderte die WHO den Indikator, der zur Messung der Fortschritte herangezogen wurde: Anstelle der Anzahl der Impfungen stand nun die Anzahl der registrierten Pockenfälle innerhalb einer Region im Zentrum des Interesses.« Gestützt wurde diese Korrektur durch aufwendige Studien in den Pockengebieten von Indien, Brasilien und Nigeria am Ende der sechziger Jahre, die ergaben, dass »sich die Fälle sogar in stark betroffenen Regionen eher in kleineren Gruppen ballten und sich nicht so schnell und weiträumig verstreuten wie allgemein gedacht«. Diese Beobachtung führte zu der Erkenntnis, »dass die Verbreitung der Pocken rascher gestoppt werden könnte, wenn man größere Bedeutung auf die Entdeckung der einzelnen Fälle legen würde«. Denn, so das WHO-Handbuch für die mobilen Kontrollteams vor Ort: »Wie akkurat die Impfkampagnen auch sein mögen – ein Land mit einem unzulänglichen Erfassungssystem kann nie ermitteln, ob die Ausrottung der Krankheit gelungen ist.«[2]

In den Schlussetappen der weltweit choreographierten Bekämpfung einer Seuche überlagert das Augenmerk auf der verlässlichen Dokumentation der Fälle die eingespielte medizinische Arbeit. Wie funktioniert das engmaschige Netz der Registrierungen genau, das die WHO ab 1967 über die betroffenen Länder legt? Eine Voraussetzung der besseren Überwachung besteht darin, dass Infizierte nicht mehr wie bislang im nächstgelegenen Krankenhaus untergebracht werden, in schlecht isolierten Stationen, wo sie mit anderen Patienten in Berührung kommen und das Virus weitergeben. Die lokalen Kontrolleinheiten der WHO sind nun vielmehr angewiesen, die Pockenkranken in Quarantänen vor Ort zu halten, unterstützt von Wärtern, die ohne Unterbrechung vor der Eingangstür des Wohnhauses wachen und, wenn nötig, »die anderen Türen vernageln«. Für die Nomadenvölker Äthiopiens und Somalias schreibt die WHO zwei Isolationsmaßnahmen der Kranken vor: entweder separate Zelte mit Küche und Latrine, umgeben »von einem Sperrgürtel aus Dornbusch«, oder »ein eigens errichtetes Lager, das nur von Pockenkranken bewohnt wird«.[3]

Was für die zentrale Dokumentation in Genf als »Ausbruch« gilt und welche Maßnahmen dieses Ereignis nach sich zieht, wird im Fortgang des verschärften Ausrottungsprogramms immer präziser definiert. Ab 1974 reicht die Erkrankung eines einzigen Menschen aus, um einen Ort 28 Tage lang (ab 1975 42 Tage lang) als Schauplatz eines »aktiven Pockenausbruchs« zu klassifizieren. Während dieser Zeitspanne besuchen die lokalen WHO-Einheiten den Ort einmal in der Woche und überprüfen die angewiesenen Maßnahmen; wenn die Pusteln am Körper des letzten Erkrankten nach dieser Frist verheilt sind und in den 48 Stunden darauf kein neuer Fall in der Umgebung bekannt wird, sollen die Kontrollteams gegenüber ihrer Bezirksleitung »beglaubigen, dass der Ort von der Liste der aktiven Ausbrüche gestrichen werden kann«.[4]

Mit hohem personellem Aufwand durchkämmt die WHO auf systematische Weise die letzten endemischen Regionen der Seuche. Ab 1973 gibt es Pockenausbrüche noch in Teilen von Bangladesch, Indien, Nepal, Pakistan, Äthiopien und Somalia; detaillierte Pläne werden erarbeitet, um »in jedem bewohnten Ort« der betroffenen Gebiete Fälle aufzudecken oder die Abwesenheit der Krankheit zu verifizieren. Es stellt sich heraus, »dass die Kontrolleinheiten in städtischen Regionen 150 Häusern am Tag oder ca. 1000 Häusern in der Woche einen Besuch abstatten« können; innerhalb von zehn Tagen gelingt es jedem der zwölfköpfigen WHO-Teams, etwa 150000 Menschen in einer Region zu befragen und wenn nötig zu untersuchen. Wird in einem Dorf oder einer Siedlung ein Pockenfall entdeckt, bleiben die Impfärzte der Kontrolleinheiten bis zu 28 Tage am Ort zurück und impfen alle Bewohner und eintreffenden Besucher. Am Beispiel Indiens heißt es in dem Abschlussbericht: »Ein gesamter Bundesstaat konnte auf diese Weise innerhalb von sieben bis zehn Tagen abgedeckt werden.« Mehr als 100000 Mitarbeiter sind in der ersten Hälfte der siebziger Jahre alleine in diesem Land für die WHO im Einsatz.[5]

Elementare Bedeutung für das Erfassungssystem kommt dabei, wie der Band Smallpox and its Eradication ausführt, der Verlässlichkeit der gesammelten Daten zu. Jede Kontrolleinheit sendet einmal in der Woche einen Bericht über die entdeckten Pockenerkrankungen an die Bezirksleitung; diese Zahlen werden wiederum an die regionale und anschließend an die nationale Gesundheitsbehörde weitergeleitet. In Indien besteht dieses Netzwerk Anfang der siebziger Jahre aus über 8000 Kontrollteams, rund 400 Bezirksleitungen und 31 Regionalbehörden, die ihre gebündelten Berichte nach Neu-Delhi schicken. Die nationalen Behörden schließlich übermitteln die Pockenfälle in ihrem Land »einmal in der Woche per Telex oder Post an die WHO-Zentrale« in Genf. Jede Woche erscheinen diese aktuellen Daten in der Zeitschrift Weekly Epidemiological Record.[6]

Für die Geschichte der Pocken (oder der »Blattern«, wie sie in Deutschland auch lange Zeit hießen) ist es folgerichtig, dass gerade die möglichst lückenlose Registrierung der Fälle in den 1970er Jahren die weltweite Ausrottung gewährleisten soll. Mitte des 18. Jahrhunderts, in der Zeit der größten Ausbrüche in Europa, wurde die Krankheit zu einem Katalysator der neu entstehenden Wissenschaft der Bevölkerungsstatistik. Die verheerende Ansteckungskrankheit war vor der Entdeckung der Vakzination in manchen Jahren für zehn Prozent aller Todesfälle in London, Paris oder Berlin verantwortlich, und frühe Medizinalstatistiker wie Johann Peter Süßmilch leiteten die Notwendigkeit, die losen Sterberegister in den Kirchenbüchern und Hospitälern zu bündeln und auf ihre Regelmäßigkeiten und Sprünge hin zu befragen, ausdrücklich von dieser Seuche ab, die sämtliche Bewohner einer Region ereilen und miteinander in Beziehung setzen konnte. Die Kategorie der »Bevölkerung«, als ein ganzheitliches, statistisch analysierbares Wissensobjekt, bildete sich im 18. Jahrhundert gerade im Kampf gegen die Pocken heraus, in der Ambition, die Verbreitungswege der Erkrankungen durch die akribische Sammlung und Interpretation von Daten genauer zu verstehen.[7]

Wenn der Generaldirektor der WHO das Ende der Pocken 1980 als »Triumph des Managements«[8] beschreibt, greift er die früh erkannte Bedeutung der Menschenerfassung für die Bekämpfung von Epidemien auf. Die globale Arbeit der Ausrottungskampagne profitiert dabei von bestimmten Eigenheiten dieser Krankheit, die das Aufspüren von gegenwärtigen und ehemaligen Fällen erleichtern. Im Unterschied zu den anderen großen Seuchen seit dem 19. Jahrhundert – der Cholera, dem Gelbfieber, dem Typhus, der Grippe – lässt sich sowohl die akute Infektion eines Menschen als auch die überstandene Erkrankung an äußeren Körperzeichen ablesen, an den infektiösen Pusteln auf der Haut...

Erscheint lt. Verlag 29.11.2023
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Ansteckung • Bakterien • Bekämpfung • Biologie • Cholera • Covid • Eindämmung • Eindämmung von Krankheiten • Epedemien in der Geschichte • Epidemie • Grippe • Hygiene • Infektion • Influenza • Louis Pasteur • Medizin • Miasma • Mikroben • Patient Null • Pocken • Robert Koch • Seuche • Seuchenbekämpfung • Typhus • Übertragung • Virus
ISBN-10 3-10-491543-1 / 3104915431
ISBN-13 978-3-10-491543-2 / 9783104915432
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