Das andere Gesicht (eBook)

Depressionen im Rampenlicht

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
352 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31170-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das andere Gesicht -  Katty Salié
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»Wir sind wieder mehr, wir sind jetzt schon zwei«, sagte Torsten Sträter zu Kurt Krömer, als der sich in seiner Sendung zu Depressionen bekannte. Am Tabu der Krankheit wird gekratzt. Und doch trauen sich noch immer viele Menschen nicht, offen darüber zu sprechen.  Katty Salié weiß aus eigener Erfahrung, wie es sich anfühlt, wenn das Leben plötzlich schwer wird und man nicht mehr funktioniert. Und man sich gleichzeitig dafür schämt, denn schließlich steht man auf der Sonnenseite des Lebens. Doch Erfolg und Prominenz schützen nicht vor Depressionen, betroffen sind auch die, von denen man es vielleicht am wenigsten erwartet. In diesem persönlichen Buch beschreibt Katty Salié ihre Krankheit und spricht mit vielen prominenten Menschen über deren Erfahrungen. So entsteht ein Kompendium von Lebensgeschichten, die durch die Krankheit verbunden sind. Katty Salié im Gespräch mit: - Torsten Sträter - Till Räther - Gesine Schwan - Atze Schröder - Sophie Passmann - Zoë Beck - Ronja von Rönne - Sabine Magnet - Benjamin Maack - Miriam Davoudvandi - Teresa Enke - depridisco

Katty Salié, geboren 1975, studierte französische Literaturwissenschaft, Geschichte und Medienwissenschaft in Paderborn und Brüssel und absolvierte die RTL Journalistenschule. Sie moderierte zunächst für das Jugendradio Fritz sowie für 1 Live. Seit 2012 präsentiert sie das ZDF-Kulturmagazin Aspekte. Sie lebt mit ihrer Familie in Köln. 

Katty Salié, geboren 1975, studierte französische Literaturwissenschaft, Geschichte und Medienwissenschaft in Paderborn und Brüssel und absolvierte die RTL Journalistenschule. Sie moderierte zunächst für das Jugendradio Fritz sowie für 1 Live. Seit 2012 präsentiert sie das ZDF-Kulturmagazin Aspekte. Sie lebt mit ihrer Familie in Köln. 

1


Ich beginne mit dem Schreiben dieses Buches im Dezember 2022.

Zu einer Zeit, in der die Pandemie gerade noch einmal Schwung holt und trotzdem nur noch die wenigsten Menschen Gesichtsmasken tragen oder sich in den eigenen vier Wänden verschanzen. Fast drei Jahre lang hat es uns in Schach gehalten, das Coronavirus, hat uns verängstigt, geschwächt, manche – viele! – getötet. Selbst wenn nun die soundsovielte Variante im Anmarsch sein sollte, die Leute haben die Nase voll – sie können schlicht nicht mehr. Und so gehen sie wieder zu Konzerten, ins Theater, ins Kino und in Restaurants. Wohl auch, weil sie dringend Zerstreuung brauchen, um all die anderen Krisen auszuhalten.

 

Die Klimakrise.

Der Krieg in der Ukraine – mitten in Europa.

Die Energiekrise, die unglücklich mit der Inflation zusammenfällt.

 

Die Krisen aufzuzählen, hat einen Holzhammereffekt. Mit jeder Krise gibt’s einen weiteren Schlag auf den Kopf, sodass man tiefer sinkt in den Boden, in den Treibsand der Ohnmacht, bis sich die Fläche über einem schließt.

 

So geht es nicht nur mir. In den letzten zwei Jahren hat sich die kollektive psychische Gesundheit der Deutschen verschlechtert. Laut Robert-Koch-Institut ist die Zahl der Bürger*innen, die unter depressiven Symptomen leiden, von Pandemiejahr zu Pandemiejahr angestiegen: von 9 Prozent im Sommer 2020 auf bis zu 17 Prozent in 2022. Auch Angstsymptome treten häufiger auf: Während im Zeitraum von März bis September 2021 noch 7 Prozent der Bevölkerung bei repräsentativen Befragungen eine Belastung durch Angst angegeben haben, stieg dieser Anteil im Frühjahr 2022 auf 11 Prozent.[5]

 

Gleichzeitig fehlt es in Deutschland an Therapieangeboten, was zu irre langen Wartezeiten auf die wenigen freien Plätze führt. Besonders desaströs scheint die Lage laut des Deutschen Ethikrates in der Kinder- und Jugendhilfe zu sein – ausgerechnet in dem Bereich also, in dem sich pandemiebedingt die Zahl der Essstörungen, Süchte, Angsterkrankungen und Depressionen enorm erhöht hat.

 

Noch so ein Holzhammerschlag.

 

Aber ich will nicht versinken. Ich will schreiben. Also grabe ich mich wieder aus und schaue mich um.

Ich sitze am Wohnzimmertisch vor dem Laptop, der Hund liegt mir zu Füßen, die Weihnachtssterne baumeln im Fenster, der Ofen bollert. Und ich schreibe ein Buch über Depressionen.

Ich also auch.

Und das fühlt sich …

Hm …

Wie fühlt sich das an? Um das zu formulieren, hänge ich mindestens fünfzig Buchstaben lang in der Luft und starre ins Ofenfeuer. Dann kann ich die Lücke schließen:

 

Richtigbefreiendnötigeigenartigunheimlichanmaßendgefährlich.

 

Ich fasse zusammen: eigentlich gut – und doch wieder nicht.

 

Im Übrigen ist eigentlich ein Wort, das ich eigentlich aus meinem Wortschatz streichen möchte. Ein Wort, das man nicht braucht, wenn man klar ist. Wenn man weiß, wer man ist und was man will, wenn man seine Wahrheit lebt. Eigentlich ist ein Wort, das Unsicherheit markiert. Ein Wort, das relativiert wie ein Aber – und abschwächt, an einem Punkt, an dem Stärke gebraucht wird.

 

Wenn jemand fragt: »Geht es dir gut?« und ich antworte: »Eigentlich schon«, dann meine ich natürlich nicht: »Ja, mir geht es richtig gut.« Ich umschreibe mit dem »eigentlich«, dass es mir nicht durchweg gut geht. Sondern nur so semigut. Dass ich in dieser Frage unentschieden bin. Dass ich ambivalent fühle. Mir geht es gut, und doch gibt es da etwas, das dieses Empfinden trübt.

 

In unserer Gesellschaft, in der alle keine Zeit haben, auch wenn sie sich nach dem Befinden des Gegenübers erkundigen, ist das keine gute Antwort.

In unserer Gesellschaft, in der alle funktionieren, weil sie müssen oder zumindest denken, sie müssten UNBEDINGT funktionieren, in unserer Gesellschaft, in der sich alle vergleichen und sehen: Bei allen anderen läuft es – wenn man Instagram, Facebook, Twitter glauben mag – durchweg rund – in dieser Gesellschaft ist es gefährlich, das Fass der Ambivalenz zu öffnen. Fast schon wie die Büchse der Pandora.

 

Denn: Wenn ich mit meinem »Eigentlich geht es mir gut« um die Ecke biege, könnte das Gegenüber durchaus erschrecken und denken: »Au weia! Sie hat eigentlich gesagt – nun muss ich nachfragen, mich empathisch zeigen und noch mehr Minuten meiner kostbaren Zeit investieren – da wird mir glatt der Coffee to go kalt …«

 

Das Gegenüber könnte sich fürchten, vor thematischen Ungeheuern, die sich anschicken, ins Gespräch zu poltern: »Eigentlich geht es mir gut. Und trotzdem fühle ich mich hin und wieder beschissen. Und schäme mich dafür, denn ich will nicht als Mimose gelten, nicht als leistungsunfähig oder unsozial. Zumal ich weiß, anderen geht es wesentlich schlechter, es gibt Krieg und Hungersnöte auf der Welt, und ich heule hier rum, dabei habe ich gar keinen echten Grund und deshalb fühle ich mich schuldig, schuldig im Sinne der Anklage, eine selbstbezogene privilegierte Mimose zu sein. Deshalb: doch, eigentlich geht es mir gut … Also echt … Also super! Also ganz, ganz toll!!«

Breites falsches Grinsen, das Wasser in den Augen schnell weggeblinzelt.

 

Und das Gegenüber könnte dann dastehen, mit dem kalten Kaffee in der Hand und Ratlosigkeit im Blick. Und beim nächsten Mal einen Bogen um mich machen.

 

Ambivalenz ist anstrengend.

 

Das spüre ich auch jetzt, wo ich in den Startlöchern stehe, dieses Buch hier zu schreiben. Einerseits und andererseits.

 

Einerseits: möchte ich das gern machen. Weil es mich interessiert als Journalistin. Weil ich Themen gerne ordentlich durcharbeite. Weil ich meine Themen gern ordentlich durcharbeite. Weil es mir hilft als Mensch. Und anderen vielleicht auch. Das ist gut.

 

Andererseits: zucke ich zurück. Abgesehen von der Scham, die ich immer noch empfinde, wenn ich über die Krankheit spreche, über MEINE Krankheit, abgesehen von den generellen Versagensängsten, die immer mal wieder an der Tür meines Oberstübchens dauerklingeln und Sachen grölen wie: »Kannst du überhaupt schreiben? Kannst du überhaupt irgendetwas??«, weiß ich, dass es schon viele getan haben: über Depressionen sprechen, über Depressionen schreiben – von einigen will ich schließlich erzählen. Es gibt bereits großartige, emotionale und auch wissenschaftlich akribisch fundierte Bücher. Ich finde sie toll, ich finde sie hilfreich, ich gehe in die Knie vor all dem Fachwissen und all dem Mut. Und ich bin mir sicher, dass vielleicht gerade jetzt, wo ich loslege, noch ein paar mehr Menschen Bücher über Depressionen schreiben. Es ist Zeitgeist. Ein unheimlicher, monströser Geist.

 

Da schleicht sich die Frage an: Braucht es dann ausgerechnet dieses, MEIN Buch? Müssen sich womöglich alle, die nach Krömer noch mit dem Thema um die Ecke biegen, von Kritiker*innen den Vorwurf gefallen lassen, Mitläufer*in zu sein? Nur auf den Zug aufspringen zu wollen, um Kasse zu machen? Depressionen: Der letzte Schrei! Und zwar einer, der immer lauter wird. Und jetzt schreie ich mit.

 

Und da passiert es: Während Fragen und Zweifel sich im Oberstübchen breitmachen, kommt von hinten – wie ein kerniger Türsteher – die Bockigkeit angewalzt und kehrt den ganzen Mist entschlossen aus den Hirnwindungen.

 

Nix da! Ich will mich auf eine Seite der Ambivalenz schlagen und entscheide: Es kann gar nicht genug Bücher über Depressionen geben! Eben weil so viele Menschen diesen Gedankenterror kennen und tagtäglich aushalten. Sich klein fühlen. Sich falsch fühlen. Das alles für sich behalten und damit immer schwerer werden. Die sich mit vielen Eigentlichs durchs Leben und durch Gespräche lavieren, nur um nicht ehrlich sagen zu müssen: »Mir geht es heute schlecht – richtig übel sogar, das ist Symptom meiner Krankheit.«

Der Comedian Maxi Gstettenbauer hat im November 2022 ein Buch über seine Depression veröffentlicht.

Vor dem Erscheinen hat ihn der Tagesspiegel gefragt: »Sehen Sie die Gefahr der Vereinnahmung?«, und der Kölner Stadt-Anzeiger bohrte nach, ob er wohl nur Aufmerksamkeit wolle. Nein, wolle er nicht – jedenfalls nicht für sich, gerne aber für die Tatsache, dass die Krankheit immer noch nicht ernst genommen werde. Was sich in der Kritik widerspiegele. Dem Tagesspiegel erwiderte Gstettenbauer ganz konkret:

Ich habe nach wie vor das Gefühl, dass die Krankheit mich instrumentalisiert. Und will etwas dazu beitragen, dass Menschen sich nicht für ihre Depression verurteilen. Nicht denken, dass sie was falsch machen. Eines der stärksten Symptome ist das Gefühl von Isolation. Das Nicht-darüber-Sprechen trägt dazu bei.[6]

Die Krankheit instrumentalisiert ihn – nicht umgekehrt. I feel him. Und verdammt...

Erscheint lt. Verlag 5.10.2023
Zusatzinfo 7 farbige Illustrationen
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Atze Schröder • Depressionen • Gesine Schwan • Journalistin • Kurt Krömer • Moderatorin • Prominente • Rampenlicht • Sophie Passmann • Tabu • Till Räther • Torsten Sträter • zdf aspekte
ISBN-10 3-462-31170-0 / 3462311700
ISBN-13 978-3-462-31170-9 / 9783462311709
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