Stoppt Ableismus! (eBook)
288 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01656-9 (ISBN)
Anne Gersdorff ist studierte Sozialarbeiterin und Referentin für die Sozialheld*innen. Darüber hinaus gibt sie freiberuflich diskriminierungssensible Workshops zum Thema Inklusion und Behinderung und engagiert sich in der Behindertenbewegung u. a. bei AbilityWatch. Sie selbst sitzt im Rollstuhl und erlebt in ihrem beruflichen und privaten Alltag immer wieder Diskriminierungen.
Anne Gersdorff ist studierte Sozialarbeiterin und Referentin für die Sozialheld*innen. Darüber hinaus gibt sie freiberuflich diskriminierungssensible Workshops zum Thema Inklusion und Behinderung und engagiert sich in der Behindertenbewegung u. a. bei AbilityWatch. Sie selbst sitzt im Rollstuhl und erlebt in ihrem beruflichen und privaten Alltag immer wieder Diskriminierungen. Karina Sturm ist Journalistin, die ihr Fachwissen mit ihren persönlichen Erfahrungen im Bereich chronische Krankheit und Behinderung kombiniert. Sie schreibt für nationale und internationale Publikationen, darunter z. B. «Die Neue Norm» und das «ABILITY Magazine», über alle Themen rund um chronische Krankheit und Behinderung.
Kapitel 1 Was ist Ableismus?
Was ist das eigentlich: Behinderung?
Martin: Ich war schon immer ein Sportfan. Alles, was als «extrem» angesehen wurde, stand auf meiner Wunschliste, und seit meinem 18. Geburtstag habe ich Bungeejumping, Freeclimbing, Tiefseetauchen, Kitesurfen und Wingsuitfliegen ausprobiert. Meine Familie und Freund*innen waren nicht gerade begeistert, aber was soll ich machen? Alltägliche Sportarten wie Fußball haben mich schon immer gelangweilt. Klar bergen solche Aktivitäten auch immer ein Risiko, aber an so etwas denkt man doch nicht wirklich. In meinen 20ern habe ich mich absolut unverwundbar gefühlt. Krank sein? Das kannte ich nur aus Erzählungen. Mehr als eine jährliche Erkältung hatte ich nie. Und selbst wenn ich erkältet war, bin ich noch zur Arbeit und zum Sport gegangen. Keine große Sache, oder? Bis ich dann mit meinem Motorrad eine Kurve ein klein wenig zu eng genommen habe, dem entgegenkommenden Auto ausweichen musste, von der Fahrbahn abkam und einmal quer über die Leitplanke in einen Baum geschleudert wurde. Ich kam erst eine Woche später im Krankenhaus wieder zu mir und war querschnittsgelähmt. Plötzlich war alles anders. Ich musste lernen, einen Rollstuhl zu benutzen und wie ich meine Blase und meinen Darm entleere und kontrolliere. Dass mir so etwas passieren würde, das hätte ich mir nie vorstellen können. Es hat eine Weile gedauert, mein neues Leben zu akzeptieren, es war emotional wirklich hart, doch heute lebe ich glücklich mit meiner Frau und zwei Kindern in einem kleinen Vorort von München.
Was du gerade gelesen hast, entspricht der landläufigen Klischeevorstellung eines behinderten Menschen: ein vollständig querschnittsgelähmter Rollstuhlfahrer, der durch einen Unfall seine Behinderung erwarb. Doch Behinderung ist kein statischer Zustand, sondern ein Spektrum, eine Bandbreite an Erscheinungen, die sich von Mensch zu Mensch unterscheiden und sich sogar für ein und dieselbe Person ständig verändern kann.[1] Was «Behinderung» bedeutet und welche Behinderungen es gibt, das erfährst du in diesem Kapitel.
Denk mal drüber nach
Wie sieht ein Mensch mit Behinderung in deiner Vorstellung aus?
Behinderung: Ein Definitionsversuch
Behinderung ist ein Wort mit unterschiedlichen Bedeutungen und umfasst ein breites Spektrum, das viele Menschen – behindert oder nicht behindert – nur schwer voll umfassen können. Menschen mit Behinderung können jedes Alter und Geschlecht haben und aus ganz unterschiedlichen Umfeldern kommen. Behinderung kann sichtbar sein (zum Beispiel durch Hilfsmittel wie einen Rollstuhl oder Assistenzhund), sie kann aber auch unsichtbar sein, wie im Fall von chronischen Schmerzen oder psychischen Erkrankungen. Manche Menschen werden mit einer Behinderung geboren; die meisten erwerben diese erst im Laufe ihres Lebens. Sie kann die Folge einer chronischen Krankheit sein – sowohl körperliche als auch psychische Erkrankungen können zu einer Behinderung führen –, doch nicht alle chronischen Krankheiten müssen zwangsläufig eine Behinderung nach sich ziehen, und nicht jede Behinderung ist die Folge einer zugrunde liegenden chronischen Erkrankung. Überfordert? Na, das können wir aufklären. Schauen wir zuerst auf die verschiedenen Definitionen von Behinderung. Aber Vorsicht, je nach Studie und Forschungsfrage ändert sich die Definition von «Behinderung», was auch zu veränderten Zahlenverhältnissen führen kann. Studien können deshalb nur für sich selbst stehen und sind innerhalb des Buches nicht vergleichbar.
Denk mal drüber nach
Was bedeutet «gesund» oder «krank» beziehungsweise «behindert» oder «nicht behindert» für dich?
Viele Autor*innen und Organisationen haben sich schon daran versucht, «Behinderung» zu definieren. Unabhängig von der genauen Definition ist allen gemein: Ein erheblicher Teil der Weltbevölkerung lebt mit einer Behinderung. Weltweit sind 15 Prozent aller Menschen behindert.[2] [3] Eine Studie, die die «westliche Hemisphäre» in den Blick nimmt, kommt sogar auf 20 Prozent.[4] Menschen mit Behinderung bilden damit weltweit eine der größten marginalisierten Gruppen.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Gesundheit bzw. Behinderung mittels der «internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit», kurz: ICF.
Die ICF unterscheidet dabei verschiedene Komponenten:
-
Körperfunktion
-
Körperstruktur
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Teilhabe
-
Umwelteinflüsse
-
Wechselwirkung zwischen den Komponenten[5]
Weiterhin leben Menschen laut der UN-Konvention der Rechte behinderter Menschen (UN-BRK) mit einer Behinderung, wenn sie «langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können».[6]
In Deutschland gilt laut Sozialgesetzbuch IX als behindert, wer eine «körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigung hat, die denjenigen in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können».[7] «Beeinträchtigt» ist, dessen «Körper und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen».[8] Beispielsweise wäre ein amputierter Finger eine solche Beeinträchtigung.
Behinderung und Beeinträchtigung werden häufig synonym verwendet. Streng genommen sind sie das aber nicht. Wird eine Person als beeinträchtigt beschrieben, dann liegt der Fokus rein auf dem körperlichen bzw. psychischen Faktor.[9] Behinderung geht darüber hinaus. Sie hat eine soziale Komponente, wie zum Beispiel die Erfahrung mangelnder Barrierefreiheit. Das heißt, man gilt erst als behinderter Mensch, wenn es zu einer Interaktion zwischen der Beeinträchtigung und den Barrieren in der Umwelt kommt.[10] Das bedeutet auch, dass die Gesellschaft eine Mitverantwortung, wenn nicht den Großteil der Verantwortung an einer Behinderung trägt.
Um die Erfahrungen von Menschen mit Behinderung zu erklären und zum besseren Verständnis von Behinderung beizutragen, wurden in der Vergangenheit verschiedene «Modelle» entwickelt. Diese haben sich vor allem seit der UN-Behindertenrechtskonvention deutlich verändert. Dabei wurde der Versuch unternommen, Behinderung(en) zu kategorisieren. Dies sollte die Möglichkeit eröffnen, das Nachdenken und Diskutieren über Behinderungen zu erleichtern, und natürlich haben diese Kategorien Einfluss darauf genommen, wie Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft wahrgenommen und behandelt werden.
Eines der verbreitetsten dieser Modelle ist das schon erwähnte medizinische Modell, in dem Menschen hauptsächlich im Hinblick auf ihre Erkrankungen oder Diagnosen und Beeinträchtigung kategorisiert werden.[11] Das medizinische Modell schaut ausschließlich auf angebliche Defizite und auf Abweichungen von der Dominanzgesellschaft und beurteilt danach Behinderungen. Ziel aller sich daraus ergebenden Bemühungen ist die Angleichung der betroffenen Menschen an die Dominanzgesellschaft, zum Beispiel durch Therapien und Behandlungen, außerdem der Schutz bestehender gesellschaftlicher Normen. Die soziale Komponente – die gesellschaftlichen Gründe, warum eine Person durch ihre Behinderung nicht am Leben teilhaben kann – wird im medizinischen Modell nicht berücksichtigt.
Verständlicherweise wurde dieses Modell deshalb von Behindertenrechtsaktivist*innen kritisiert und ihm das soziale Modell von Behinderung entgegengesetzt.[12] Dieses lenkt den Fokus von der behinderten Person zurück auf die Gesellschaft und verdeutlicht, dass der alleinige Fokus auf medizinische Beeinträchtigungen zu kurz greift. Wir sind alle Teil dieser Gesellschaft, aber Menschen mit Behinderung werden durch die auf die Dominanzgesellschaft zugeschnittene Umwelt behindert! Denn nicht ein Rollstuhl behindert die nutzende Person. Auch nicht die Tatsache, dass sie*er vielleicht nicht aufstehen und/oder gehen kann. Was die Person behindert, sind die Stufen vor einem Lokal, der defekte Fahrstuhl bei der U-Bahn oder die Tatsache, dass man sich für eine Bahn- oder Taxifahrt einen Tag vorher ankündigen muss.
Ein weiteres, eher neues Modell von Behinderung entstand mit dem menschenrechtlichen Modell, das den Staat und die Zivilgesellschaft in die Pflicht nimmt.[13] Es sieht Behinderung als Teil menschlicher Vielfalt und verpflichtet den Staat, Gesetze zu entwerfen, um Barrieren für Menschen mit Behinderung abzuschaffen und ihnen so die Teilhabe am Leben zu ermöglichen. In eine ähnliche Richtung weist das in Deutschland wichtige kulturelle Modell, das die Kategorien «gesund», «behindert» und «chronisch krank» in Frage stellt. Vertreter*innen dieses Modells gehen davon...
Erscheint lt. Verlag | 30.1.2024 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Ableismus • Ableismus bekämpfen • Aktivismus • Barrierefreiheit • Barrieren im Arbeitsmarkt • Behindertenrechte • Behinderung • Bürgerrechte • chronische Erkrankungen • Diskriminierung • Gesellschaft • Gleichberechtigung • Gleichstellung • Handbuch • Handbuch zum Abbau von Ableismus • Inklusion • Integration • Leben mit Behinderung • Mobilität • praxisorientiert • Ratgeber • Rollstuhl • Selbstbestimmtes Leben • Sichtbare Behinderung • Soziale Gerechtigkeit • Teilhabe • Unsichtbare Behinderung |
ISBN-10 | 3-644-01656-9 / 3644016569 |
ISBN-13 | 978-3-644-01656-9 / 9783644016569 |
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