Kaleidoskopische Dialektik (eBook)

Kritische Theorie nach dem Aufstieg des globalen Südens
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2013 | 1. Auflage
206 Seiten
Herbert von Halem Verlag
978-3-7445-0594-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kaleidoskopische Dialektik -  Boike Rehbein
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In der globalisierten, multizentrischen Welt des 21. Jahrhunderts muss die gewohnte europäische Sicht auf die Welt revidiert werden. Boike Rehbein untersucht die Theorie der Sozialwissenschaften auf ihre Tragfähigkeit in der multizentrischen Welt und stellt im Anschluss daran eine neue kritische Theorie vor. Die Revision der kritischen Theorie stützt sich einerseits auf eine Lektüre der Klassiker und andererseits auf die von Poststrukturalismus über Postkolonialismus bis zur Theorie aus dem globalen Süden vorgebrachte Kritik an ihnen. Der Ausgangspunkt der Revision besteht im Argument, dass die Rückkehr der multizentrischen Welt die Auflösung zahlreicher Aporien ermöglicht, in die sich die kritische Theorie sowie die eurozentrischen Sozialwissenschaften insgesamt verstrickt haben. Boike Rehbein schlägt eine Auflösung in Gestalt einer »kaleidoskopischen Dialektik« vor. Diese Form der Dialektik überwindet die Dichotomie zwischen Universalismus und Relativismus durch eine Wissenschaftstheorie von Konfigurationen, die in eine Ethik des Verstehens, der Verständigung und des Lernens eingebettet und mit sozialwissenschaftlicher Kritik verknüpft wird.

Dr. Boike Rehbein ist Professor für Gesellschaften Asiens und Afrikas an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Dr. Boike Rehbein ist Professor für Gesellschaften Asiens und Afrikas an der Humboldt-Universität zu Berlin.

[9]Die neue Ausgangslage

Wenn Philosophie „die Zeit in Gedanken gefasst“ ist, wie Hegel schrieb, dann eröffnet unsere Gegenwart dem Denken ganz neue Horizonte. Eine 200 Jahre währende euro-amerikanische Weltherrschaft und eine 2500 Jahre alte eurozentrische Tradition des Denkens werden durch den Aufstieg neuer Mächte herausgefordert.1 Die multizentrische Welt, die in den meisten Perioden der Geschichte vorherrschte, ist mit dem Wiederaufstieg Chinas und Indiens sowie dem Aufstieg neuer Zentren wie São Paulo, Johannesburg, Teheran, Abu Dhabi und Singapur zurückgekehrt. In der multizentrischen Welt ist es nicht mehr möglich, aus Arroganz und Ignoranz auf den Voraussetzungen der je eigenen Tradition zu beharren. Das gilt auch für die eurozentrische Tradition, die sich bislang für universal gehalten hat. Zu deutlich hat die postkoloniale Kritik die Blindheit der eurozentrischen Tradition für koloniale und andere hegemoniale Strukturen – im Denken und in der Wirklichkeit – aufgewiesen. Zu stark ist die ökonomische und politische Kraft Chinas oder Indiens, den Ansprüchen ihrer eigenen Traditionen Nachdruck zu verleihen. Zu offensichtlich sind die Aporien einer ausschließlich auf sich selbst bezogenen Tradition eurozentrischer Wissenschaft geworden.

Daraus erwächst die Möglichkeit, zum ersten Mal den ethnozentrischen Käfig, in dem bislang jedes sich philosophisch nennende Denken gefangen war, ernsthaft zu verlassen. Dieses Buch schlägt eine Lösung für einige philosophische und wissenschaftstheoretische Probleme vor, die innerhalb des ethnozentrischen Käfigs unlösbar blieben. Über alle politischen und strategischen Erwägungen hinaus eröffnet die neue Ausgangslage einen neuen Horizont für die Erkenntnistheorie und die Ethik. Ich argumentiere, dass der „Westen“ [10]einen großen Fortschritt machen kann, wenn er seine unhinterfragten Voraussetzungen mit den Ansätzen des „Südens“ konfrontiert.2 Das Ziel besteht darin, die eurozentrische Erkenntnistheorie und Ethik so zu transformieren, dass sie für diejenigen anschlussfähig sind, die aus den Traditionen anderer Zentren auszubrechen suchen. Man könnte das Vorhaben auch von anderen Traditionen ausgehend verfolgen, aber als Europäer bleibt mir nur dieser Weg.

Das Buch konzentriert sich aus drei Gründen auf die Sozialwissenschaften. Erstens müssen die Sozialwissenschaften zum Teil die Aufgabe der Philosophie übernehmen, die Neuordnung der sozialen Welt zu reflektieren, denn diese ist ihr disziplinärer Gegenstand. Zweitens gehörte die Dichotomie von Natur- und Humanwissenschaften zum Kernbestand der eurozentrischen Tradition. Sei es bewusst und affirmativ, sei es unbewusst oder kritisch, stets galt das naturwissenschaftliche Paradigma, insbesondere in seiner mechanistischen Variante, als Inbegriff von Wissenschaft. Die Abkehr von diesem Paradigma macht meines Erachtens eine angemessene Sozialwissenschaft erst möglich. Drittens bringt die Fokussierung eine Schärfe in der Argumentation mit sich, die in einer Generalkritik verloren ginge. Die Konzentration auf die Sozialwissenschaften in diesem Buch soll dazu führen, die Probleme der eurozentrischen Tradition weitaus genauer und deutlicher zu fassen, als das in einer Generalkritik möglich wäre.

Das zentrale Problem, das der hier vorgeschlagene Ansatz zu lösen versucht, ist der Widerstreit zwischen Relativismus und Universalismus – in Erkenntnistheorie und Ethik. Durch die scharfe und unablässige Kritik ist der Universalismus derart diskreditiert, dass er nur noch durch Ausblendung ernsthafter Schwierigkeiten oder in sehr schwacher Form zu halten ist. Die verschiedenen Post-ismen, wie Poststrukturalismus, Postmoderne und Postkolonialismus, haben gezeigt, dass der Universalismus eine göttliche Allwissenheit voraussetzt, die heute nicht mehr plausibel wirkt, oder in einen Zirkel führt, indem er sich selbst als universal begründen muss. Mit der Rückkehr der multizentrischen [11]Welt wirkt der Universalismus auch in politischer Hinsicht auf eine chauvinistische Art veraltet. Die Destruktion des Universalismus hinterlässt nun einen Relativismus, der nicht nur in einen Selbstwiderspruch führt, indem alles außer der Relativität selbst relativ sein soll, sondern auch keine Orientierung in Erkenntnistheorie und Ethik zu liefern vermag. Die postmoderne Beliebigkeit durchdringt die Bereiche der Gesellschaft, die sich dem Universalismus zu entziehen suchen. So lange der Widerstreit zwischen Universalismus und Relativismus nur aus der eurozentrischen Tradition heraus bearbeitet werden konnte, musste er in eine Aporie führen. Die neue Ausgangslage der multizentrischen Welt eröffnet eine Lösung des Problems, die ich als kaleidoskopisch bezeichnen möchte.

Der Kern des kaleidoskopischen Ansatzes besteht darin, Unvereinbares zu verknüpfen, Relatives in Relation zueinander zu setzen und zum ersten Mal einen mit Recht als hermeneutisch zu bezeichnenden Prozess in Gang zu bringen. Die Relativismen schließen sich gegeneinander ab und beharren auf ihrer Singularität, obwohl sie faktisch in Relation zu zahlreichen anderen Positionen stehen. Die Relationen gilt es klar herauszuarbeiten, anstatt sie zu leugnen. Wie die Relationen zu verstehen sind, ist ein Gegenstand dieses Buches. Der relationale Blick wird einige der ungelösten Probleme der eurozentrischen Tradition in den Hintergrund treten lassen, wenn nicht gar als Scheinprobleme erweisen. Die miteinander verwandten Dichotomien von Induktion und Deduktion, Allgemeinem und Einzelnem, Subjekt und Objekt verschwinden zugunsten gradueller Unterschiede. Die Extremformen, die in den Dichotomien vorausgesetzt werden, gibt es nicht, außer in gegenstandslosen Formalsprachen und leeren Abstraktionen. An ihre Stelle tritt ein dialektisch zu interpretierendes Kaleidoskop.

Die Dichotomie von Universalismus und Relativismus ergibt sich aus der Norm der Allwissenheit, an der sich die eurozentrische Tradition orientierte. Man ging davon aus, Erkenntnis auf unbezweifelbare Grundlagen stützen zu müssen und zu können, um die eine mit sich selbst identische und widerspruchsfreie Wahrheit zu erkennen. Die Vorstellung ist sicher insofern richtig, als Gedanken und Aussagen wahrer oder falscher sind. Sie ist jedoch insofern vollkommen abwegig, als aufeinander nicht reduzierbare und miteinander nicht kompatible Theorien existieren. Hegel hat das Problem klar erkannt und dahingehend gelöst, dass der Durchgang durch alle Theorien ihre Einseitigkeit erweisen und am Ende zu ihrer Aufhebung in einer Theorie aller Theorien [12]führen sollte. Hegel ging jedoch weiterhin davon aus, dass die Welt eine einheitliche Totalität sei, die aus einer einzigen objektiven Perspektive erkennbar ist. Damit nahm Hegel für sich die Perspektive der Allwissenheit in Anspruch und löste sich aus den gesellschaftlichen und historischen Relationen.

In Opposition zu Hegel standen die objektivistischen Ansätze, die sich mit dem perspektivischen Charakter von Erkenntnis gar nicht beschäftigten. Es ist zweifellos möglich, eine rein deskriptive Theorie der Gesellschaft im Sinne eines Modells zu konstruieren, aber diese Konstruktion wäre weder begründbar noch reflektiert. Sie wäre nur unter Vernachlässigung einer Reihe von Faktoren wissenschaftlich. Die Wissenschaftlerin oder der Wissenschaftler entnimmt alle Begriffe, Methoden, Theorien und Ziele einer vorgefundenen, gesellschaftlichen Tradition. Ferner muss der Sinn verstanden werden, den der Gegenstand sich selbst gibt. Schließlich beeinflusst die wissenschaftliche Tätigkeit den Gegenstand und ändert ihn dadurch, ja am Ende kann der Gegenstand die wissenschaftliche Tätigkeit kritisieren oder gar eine eigene Theorie vorschlagen. Die Geltung sozialwissenschaftlicher Theorien kann weder objektiv noch konstruktivistisch begründet werden, sondern bleibt immer relativ zu Geschichte und Gesellschaft. Der Anspruch auf Wertfreiheit muss daher ersetzt werden durch eine komplexe, aber vollkommen durchsichtig zu machende Schichtung von Abhängigkeiten, deren Angelpunkt die Grundidee der kritischen Theorie bleibt, nämlich die Idee eines besseren Lebens.

Aus der Idee folgen allerdings keine Normen und wissenschaftlichen Sätze, sondern sie dient als Maßstab der Kritik. Die Kritik muss die mehrfache, relationale Verstrickung von Sozialwissenschaft und Gesellschaft einbeziehen. Habermas hat der Komplexität des Problems Rechnung getragen und durch die Forderung eines Konsenses über die Maßstäbe von Sozialwissenschaft aufzulösen gesucht. Durch diese Forderung vereinfachte er die komplexe Lage der Sozialwissenschaften wieder. Die Möglichkeit des Konsenses begründete er durch eine Gesellschaftstheorie. Damit setzte er eine einheitliche Erzählung der Geschichte, einen universalistischen Wahrheitsbegriff und letztlich eine objektive Geltung seiner eigenen Interpretation voraus. Diese Voraussetzungen werden mit dem Aufstieg des globalen Südens hinfällig. Der Aufstieg macht eine Reinterpretation der eurozentrischen Geschichten, einen neuen Wahrheitsbegriff und die Relationierung der eigenen Perspektive erforderlich. Die Theorie der Sozialwissenschaften wird zu einer Theorie des Lernens, in der Verstehen, Verständigung, Erklären, Kritik und die Idee des besseren Lebens [13]zu einer Dialektik zusammengefügt werden, die ich als kaleidoskopisch bezeichne.

Im ersten Teil des Buches werde ich einige wichtige Punkte der innereuropäischen Diskussionen über die Theorie der Sozialwissenschaften zusammenfassen, um im zweiten Teil einen Ansatz vorzustellen, der die Ergebnisse der Diskussionen aufnimmt und für eine neue, im Horizont globale Theorie anschlussfähig macht. In jedem Teil wird von der formalen Struktur von Wissenschaft ausgegangen, dann das Subjekt...

Erscheint lt. Verlag 1.1.2013
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie Allgemeine Soziologie
Schlagworte Dialektische Kritik • Erkenntnistheorie • Ethik • Eurozentrische Theorie • Eurozentrische Wissenschaft • Eurozentrismus • Globale Hermeneutik • Globaler Norden • Globaler Süden • Globalisierung • Kaleidoskopische Dialektik • Karl Marx • Kritische Theorie • Multizentrismus • Philosophie • Relativismus • Soziologische Theorie • Theodor Adorno • Theorie der Sozialwissenschaften • Universalismus • Wissenschaftstheorie
ISBN-10 3-7445-0594-4 / 3744505944
ISBN-13 978-3-7445-0594-9 / 9783744505949
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