Veganarchismus
Verlag Graswurzelrevolution
978-3-939045-48-9 (ISBN)
Veganismus ist heute längst in aller Munde und nichts Aufsehenerregendes mehr. Ein Großteil seiner politischen Dimension ist über die Jahre allerdings auf der Strecke geblieben. Nicht selten wird er zum hippen Lifestyle erkoren, mit Esoterik in Verbindung gebracht oder von Personen postuliert, die bei aller Tierliebe zu Menschenhasser:innen geworden sind. Dass (auch) Anarchist:innen bzw. linksradikale Personen deshalb dem Veganismus gegenüber erst einmal skeptisch sind, ist gut nachzuvollziehen. Diese Skepsis darf aber weder zur pauschalen Verurteilung vegan lebender Menschen führen noch sollte sie als Ausrede dienen, selbst keine Rücksicht auf Tiere zu nehmen.Der Autor bringt in seinem Essay schlaglichtartig auf den Punkt, dass Anarchist:innen im Widerspruch zu ihrem eigenen Anliegen handeln, wenn sie Tierprodukte konsumieren. Er macht deutlich, dass ein Anarchismus, der nicht allein den Menschen in den Mittelpunkt stellt, also folglich auch Tiere in sein Befreiungsanliegen mit einbezieht, sowohl inhaltlich konsequent als auch aktuell dringend geboten ist. Gemäß dem schon von Louis Michel ausgerufenen Motto: "Alles, alles muss befreit werden."Der Text richtet sich aber auch an einen Großteil der Tierbewegung. Herrschaftsverhältnisse im anarchistischen Sinne werden innerhalb dieser Bewegung allein von den Tierbefreier:innen hinterfragt - allen anderen fehlt bestenfalls (noch) der Blick für die Verwobenheit der verschiedenen Diskriminierungs- und Unterdrückungsformen in unserer Gesellschaft, im schlechtesten Fall partizipieren sie aber aktiv daran bzw. streiten für deren Aufrechterhaltung.Dieser Essay möchte deshalb auch viele bereits vegan lebende Menschen dazu anregen, über die Tierfrage hinaus Herrschaftsverhältnisse infrage zu stellen.
Vorwort
Einleitung
Differenzierungsversuch: Veganismus und Tierbewegung
These I: Das Anliegen der Tierbefreiung ist ein um Tiere erweiterter Anarchismus
These II: Die Verwobenheit der Unterdrückungs- und Diskriminierungsmechanismen machen Tierbefreiung zum notwendigen Bestandteil anarchistischer Bestrebungen
These III: Die Normalität und Alltäglichkeit gewalttätigen Verhaltens gegenüber nicht-menschlichen Tieren kann dazu beitragen, dass die Hemmschwelle zur zwischenmenschlichen Gewalt sinkt
These IV: Postmoderner Anarchismus ist post-anthropozentrisch
Reaktionen auf potentielle Einwände
Fazit/Zusammenfassung
Literatur
Einleitung Unsichere Werkverträge, mieseste Unterbringungen und gravierende Arbeitsschutzmängel: Was auch vor Corona schon Alltag in der Fleischindustrie war, ist durch den pandemiebedingten gesellschaftlichen Ausnahmezustand offen zutage getreten und hat Einzug in den öffentlichen Diskurs gehalten. Die jetzt offen diskutierte Unzumutbarkeit der Arbeitsbedingungen unter anderem in Schlachthöfen ruft zurecht auch viele linksradikale bis anarchistische Gruppen auf den Plan, die mit ihren Forderungen bis hin zur Enteignung der Fleischunternehmen wichtige Akzente setzen. Auch die nicht abreißenden Hinweise auf den der Tierindustrie innewohnenden Rassismus sind von kaum zu überschätzender Bedeutung. Umso tragischer finde ich es, dass sich ein Sprecher des linksradikalen Bündnisses »Shut Down Schweinesystem« in einem Radiointerview (1) nicht nur mit Tierrechtsaktivist*innen entsolidarisiert, sondern ihnen außerdem vorwirft, sie würden die Leiden der Tiere für schwerwiegender halten als jene der in der Tierindustrie arbeitenden Menschen. Auf die Frage, ob sich die Gruppe bewusst unter anderem nicht mit Tierrechtler*innen zusammentut, antwortet er: „Es ist schon so, dass wir einen maßgeblich anderen Fokus als die Tierrechtsbewegung fokussieren. Wir finden es auch problematisch, dass in einer Situation, wo es massiv ausbeuterische Arbeitsverhältnisse gibt und wo Menschenleben so sehr untergeordnet werden unter einen ökonomischen Profit […] all das dann mit [einem] Tierwohl[anliegen] gleichzusetzen – da werden Maßstäbe vermischt und vertauscht und das sehen wir sehr kritisch. Unser Anspruch als Kampagne ist es weniger, sich neben Tönnies jetzt auch noch am Tierrechtsaktivismus abzuarbeiten.“ Für mich persönlich war diese Aussage, von der ich durch Zufall erfahren habe, wohl der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Als ich mir das Interview angehört habe und letztlich von der zitierten Aussage Kenntnis nahm, hat mich das wirklich frustriert. Ich möchte den Sprecher der Gruppe, die tolle Arbeit geleistet hat und weiterhin aktiv ist, persönlich überhaupt nicht angreifen und freue mich über die vielen wichtigen Dinge, die er im Interview anspricht; die offene und pauschale Entsolidarisierung von den Tieraktivist*innen vor Tönnies aber ist und bleibt schon ein starkes Stück – das aber leider durchaus symptomatisch ist für die Perspektive vieler linker bis anarchistischer Gruppen auf die Tierbewegung (2). Ein erstes Problem scheint darin zu bestehen, dass leider oft vorschnell alle Menschen, die sich für nicht-menschliche Tiere (3) einsetzen, als einer einheitlichen Bewegung zugehörig verstanden werden: Es wird meist kaum zwischen den verschiedenen Strömungen und deren variierenden Methoden und Zielen differenziert; Tierschützer*innen, Tierrechtler*innen und Tierbefreier*innen werden in einen Topf geworfen, sodass etwas völlig Ungenießbares entsteht, zu dem lieber erst einmal Abstand gehalten wird. Zu Beginn des Essays ist mir deshalb daran gelegen, ein wenig Klarheit in das Begriffssammelsurium rund um das Thema Veganismus, Tierschutz, Tierrechte und Tierbefreiung zu bringen. Die verschiedenen Strömungen der Tierbewegung werden differenziert und in ein Verhältnis zueinander gesetzt. Im Anschluss daran möchte ich vier Thesen formulieren, aus denen eine Wesensverwandtschaft zwischen Anarchismus und Tierbefreiung hervorgehen soll beziehungsweise zum Ausdruck bringen, inwieweit Tierbefreiung und Anarchismus nicht getrennt voneinander gedacht werden können. In der ersten These wird die Behauptung verteidigt, dass Tierbefreiung eigentlich nichts anderes ist als ein um den Aspekt Tiere erweiterter Anarchismus: Tierbefreier*innen wollen wie Anarchist*innen die Überwindung aller Herrschaftsverhältnisse zugunsten einer solidarisch organisierten Gesellschaft. Anders als viele Anarchist*innen aber streben Tierbefreier*innen danach, nicht allein zwischenmenschliche Ausbeutung aufzuheben, sondern neben Menschen auch alle anderen Tiere aus Herrschaftsverhältnissen zu befreien. Zur Diskussion dieser ersten These war es notwendig, Anarchismus auf den Begriff zu bringen, was in diesem Rahmen natürlich nicht zufriedenstellend gelingen kann. Deshalb habe ich ohne Anspruch auf Vollständigkeit lediglich einige anarchistische Prinzipien benannt, die meiner Meinung nach den meisten anarchistischen Strömungen gemein sind. Die zweite These untersucht, inwieweit die Überwindung zwischenmenschlicher Herrschaftsverhältnisse darauf angewiesen sein könnte, ein neues Mensch-Tier- beziehungsweise Mensch-Natur-Verhältnis zu etablieren. Es wird die Behauptung aufgestellt, dass viele zwischenmenschliche Diskriminierungsverhältnisse in einem Zusammenhang mit der Art und Weise stehen, wie Menschen mit Tieren und der Natur umgehen beziehungsweise dass eine tiefenkulturelle Abgrenzung von allem Tierlichen als eine Art Blaupause auch für interhumane Ausbeutungs- und Unterdrückungsmechanismen fungiert (Stichwort: Animalisierungsstrategie). Außerdem wird auf die formale Ähnlichkeit verschiedener Diskriminierungsformen hingewiesen. Abschließend wird dafür plädiert, sich mit den im Kapitalismus massiv ausgebeuteten Tieren zu solidarisieren, statt sich an ihrem Missbrauch zu beteiligen. Die dritte These beschäftigt sich mit dem kontrovers diskutierten human-animal-violence-link, also der Vermutung, dass Gewalt gegen Tiere die Hemmschwelle zur Gewalt gegen Menschen sukzessiv herabstuft. Ist diese Annahme korrekt, müsste darüber diskutiert werden, inwieweit es sich eine nach anarchistischen Prinzipien organisierte Gesellschaft überhaupt erlauben könnte, systematische Tierausbeutung zu betreiben. Die vierte und letzte These hinterfragt, inwieweit der klassische Anarchismus angesichts post-struktureller Lebensrealitäten noch zeitgemäß ist und schlägt als Erneuerung eine Abkehr vom Anthropozentrismus vor. Im Anschluss dieser vier Thesen möchte ich kurz auf einige Einwände eingehen, denen ich in persönlichen Gesprächen über das Titelthema oft begegnet bin. Die jeweiligen Argumente wurden mit wechselnden Schwerpunkten und unterschiedlicher Gewichtung in persönlichen Gesprächen vorgetragen; aus Gründen der Übersichtlichkeit habe ich aus den diversen Formulierungen drei in diesem Sinne künstliche Behauptungen gegen die Notwendigkeit verfasst, als Anarchist*in auch vegan zu leben – um ihnen dann inhaltlich zu begegnen. Diese Abhandlung verstehe ich als essayistische Auseinandersetzung mit einem Thema, mit dem ich in meinem Leben immer wieder in Berührung komme: Oft schon habe ich erlebt, wie Anarchist*innen eine pauschale Ablehnung gegenüber vegan lebenden Menschen beziehungsweise dem Veganismus selbst vertreten haben; andererseits ist mir durchaus auch leidig bekannt, dass eine herrschaftskritische Grundhaltung bedauerlicherweise nicht mehrheitsfähig in der Tierbewegung ist (und da spreche ich nicht einmal von den explizit rechten Umtrieben, die sich – insbesondere im Tierschutz – immer wieder konstatieren lassen). Ich begreife die folgende Untersuchung in erster Linie als einen Diskussionsbeitrag, der sich für die Berücksichtigung von Tieren in anarchistischen Kontexten ausspricht. Anmerkungen 1 Das Interview ist zu finden unter: www.hertz879.de/sendung/interview-shut-downschweinesystem/, die zitierte Stelle beginnt ungefähr bei 9:25 [zuletzt abgerufen am 21.10.2020] 2 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Begriff Tierbewegung liefert Emil Franzinelli in der Ausgabe 76 des Magazins „Tierbefreiung“ (Titelthema: Die moderne Tierbewegung). In seinem Artikel „Die moderne Tierbewegung. Der schützende Rahmen der Einzelbewegungen und deren Profile“ differenziert er zwischen Tierschutz, Tierrecht und Tierbefreiung, die jeweils unter dem Meta-Begriff Tierbewegung (als Dachbewegung) geführt werden. Dieser Einteilung möchte ich mich in der Folge anschließen. 3 In der Folge werde ich aus Gründen der Praktikabilität und Lesbarkeit nur noch von Tieren statt von nicht-menschlichen Tieren schreiben. Die zumindest einmalige Verwendung des sperrigen Terminus war mir jedoch wichtig, um auf die schnell in Vergessenheit geratene Tatsache hinzuweisen, dass auch Menschen Tiere sind.
EinleitungUnsichere Werkverträge, mieseste Unterbringungen und gravierende Arbeitsschutzmängel: Was auch vor Corona schon Alltag in der Fleischindustrie war, ist durch den pandemiebedingten gesellschaftlichen Ausnahmezustand offen zutage getreten und hat Einzug in den öffentlichen Diskurs gehalten. Die jetzt offen diskutierte Unzumutbarkeit der Arbeitsbedingungen unter anderem in Schlachthöfen ruft zurecht auch viele linksradikale bis anarchistische Gruppen auf den Plan, die mit ihren Forderungen bis hin zur Enteignung der Fleischunternehmen wichtige Akzente setzen. Auch die nicht abreißenden Hinweise auf den der Tierindustrie innewohnenden Rassismus sind von kaum zu überschätzender Bedeutung. Umso tragischer finde ich es, dass sich ein Sprecher des linksradikalen Bündnisses »Shut Down Schweinesystem« in einem Radiointerview (1) nicht nur mit Tierrechtsaktivist*innen entsolidarisiert, sondern ihnen außerdem vorwirft, sie würden die Leiden der Tiere für schwerwiegender halten als jene der in der Tierindustrie arbeitenden Menschen. Auf die Frage, ob sich die Gruppe bewusst unter anderem nicht mit Tierrechtler*innen zusammentut, antwortet er: "Es ist schon so, dass wir einen maßgeblich anderen Fokus als die Tierrechtsbewegung fokussieren. Wir finden es auch problematisch, dass in einer Situation, wo es massiv ausbeuterische Arbeitsverhältnisse gibt und wo Menschenleben so sehr untergeordnet werden unter einen ökonomischen Profit [...] all das dann mit [einem] Tierwohl[anliegen] gleichzusetzen - da werden Maßstäbe vermischt und vertauscht und das sehen wir sehr kritisch. Unser Anspruch als Kampagne ist es weniger, sich neben Tönnies jetzt auch noch am Tierrechtsaktivismus abzuarbeiten."Für mich persönlich war diese Aussage, von der ich durch Zufall erfahren habe, wohl der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Als ich mir das Interview angehört habe und letztlich von der zitierten Aussage Kenntnis nahm, hat mich das wirklich frustriert. Ich möchte den Sprecher der Gruppe, die tolle Arbeit geleistet hat und weiterhin aktiv ist, persönlich überhaupt nicht angreifen und freue mich über die vielen wichtigen Dinge, die er im Interview anspricht; die offene und pauschale Entsolidarisierung von den Tieraktivist*innen vor Tönnies aber ist und bleibt schon ein starkes Stück - das aber leider durchaus symptomatisch ist für die Perspektive vieler linker bis anarchistischer Gruppen auf die Tierbewegung (2). Ein erstes Problem scheint darin zu bestehen, dass leider oft vorschnell alle Menschen, die sich für nicht-menschliche Tiere (3) einsetzen, als einer einheitlichen Bewegung zugehörig verstanden werden: Es wird meist kaum zwischen den verschiedenen Strömungen und deren variierenden Methoden und Zielen differenziert; Tierschützer*innen, Tierrechtler*innen und Tierbefreier*innen werden in einen Topf geworfen, sodass etwas völlig Ungenießbares entsteht, zu dem lieber erst einmal Abstand gehalten wird. Zu Beginn des Essays ist mir deshalb daran gelegen, ein wenig Klarheit in das Begriffssammelsurium rund um das Thema Veganismus, Tierschutz, Tierrechte und Tierbefreiung zu bringen. Die verschiedenen Strömungen der Tierbewegung werden differenziert und in ein Verhältnis zueinander gesetzt. Im Anschluss daran möchte ich vier Thesen formulieren, aus denen eine Wesensverwandtschaft zwischen Anarchismus und Tierbefreiung hervorgehen soll beziehungsweise zum Ausdruck bringen, inwieweit Tierbefreiung und Anarchismus nicht getrennt voneinander gedacht werden können.In der ersten These wird die Behauptung verteidigt, dass Tierbefreiung eigentlich nichts anderes ist als ein um den Aspekt Tiere erweiterter Anarchismus: Tierbefreier*innen wollen wie Anarchist*innen die Überwindung aller Herrschaftsverhältnisse zugunsten einer solidarisch organisierten Gesellschaft. Anders als viele Anarchist*innen aber streben Tierbefreier*innen danach, nicht allein zwischenmenschliche Ausbeutung aufzuheben, sondern neben Menschen auch alle an
Erscheinungsdatum | 27.02.2023 |
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Reihe/Serie | Auf den Punkt |
Verlagsort | Heidelberg |
Sprache | deutsch |
Maße | 140 x 210 mm |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Soziologie ► Makrosoziologie | |
Schlagworte | Anarchismus • Gewaltfreiheit • Herrschaft • Klima • Soziale Bewegung • Tierrecht • Tierschutz • Veganismus |
ISBN-10 | 3-939045-48-9 / 3939045489 |
ISBN-13 | 978-3-939045-48-9 / 9783939045489 |
Zustand | Neuware |
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