ADHS bei Klein- und Vorschulkindern (eBook)
201 Seiten
Ernst Reinhardt Verlag
978-3-497-61729-6 (ISBN)
Prof. Dr. phil. Hannes Brandau, Klinischer Psychologe, Professor für Förderpädagogik und Psychologie an der KPH Graz, Univ.-Doz. für klinische Sozialpädagogik an der Universität Graz. Prof. Dr. Manfred Pretis ist Professor für Transdisziplinäre Frühförderung an der Medical School Hamburg, Heilpädagoge und Klinischer Psychologe. Dr. med. Wolfgang Kaschnitz, Kinderarzt, Kinder- und Jugendpsychiater, Leiter der Ambulanz für lebhafte und hyperaktive Kinder der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde, Graz.
Prof. Dr. phil. Hannes Brandau, Klinischer Psychologe, Professor für Förderpädagogik und Psychologie an der KPH Graz, Univ.-Doz. für klinische Sozialpädagogik an der Universität Graz. Prof. Dr. Manfred Pretis ist Professor für Transdisziplinäre Frühförderung an der Medical School Hamburg, Heilpädagoge und Klinischer Psychologe. Dr. med. Wolfgang Kaschnitz, Kinderarzt, Kinder- und Jugendpsychiater, Leiter der Ambulanz für lebhafte und hyperaktive Kinder der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde, Graz.
1Was ist ADHS?
1.1Definition und Konzepte der Diagnose
„Ob der Philipp heute still | Doch der Philipp hörte nicht, |
wohl bei Tische sitzen will?“ | was zu ihm der Vater spricht. |
Also sprach in ernstem Ton | Er gaukelt und schaukelt, |
der Papa zu seinem Sohn, | er trappelt und zappelt |
und die Mutter blickte stumm | auf dem Stuhle hin und her. |
auf dem ganzen Tisch herum. | „Philipp, das mißfällt mir sehr!“ |
(aus dem „Struwwelpeter“, Hoffmann 1845)
Am Anfang einige bislang kaum gestellte Fragen zu diesem berühmten Textausschnitt:
■Warum blickt die Mutter auf den ganzen Tisch?
■Wie kommt es, dass Philipp nicht hört, was der Vater spricht?
■Was würden Sie anstelle des Vaters und der Mutter tun?
■Ist diese Szene auch heutzutage vorstellbar?
■Wäre das Verhalten von Philipp auch während der Völkerwanderung oder in der Urzeit ein Problem gewesen?
Waren Sie als Kind ein „Zappelphilipp?“* Testen Sie sich selbst mit dem am häufigsten verwendeten Testinstrument, dem Conners-Fragebogen (1969), der in Tabelle 1 aufgeführt ist.
Wer kennt ihn nicht, den berühmten Zappelphilipp, ständig in Bewegung, ungeduldig und unaufmerksam? Viele Etiketten wurden ihm schon umgehängt, die derzeit gängigen sind „ADHS“ und „hyperkinetische Störungen“. ADHS, Abkürzung für das Wortungetüm „Aufmerksamkeitsdefizithyperaktivitätssyndrom“, bezeichnet ein klinisches Bild, welches vor allem durch erheblich beeinträchtigte Verhaltensweisen in der
■ Aufmerksamkeit
■ Impulsivität
■ motorischen Aktivität
* Anmerkung: Leider gibt es noch keine politisch-korrekte weibliche Form für dieses Phänomen, da es in weit größerem Verhältnis Buben betrifft.
Tabelle 1: Conners-Fragebogen (Conners Parent Teacher Rating Scale – CPTRS)
Durch Summierung der Symptomschweregrade kann ein Gesamttestwert gewonnen werden. Bei einem Gesamtwert von über 14 Punkten lag bei Ihnen als Kind – so, wie Sie es jetzt als Erwachsener einschätzen – wahrscheinlich hyperaktives Verhalten vor. Vielleicht wurde es von niemandem bemerkt oder als Problem wahrgenommen.
auffallen und die in einem für den Entwicklungsstand des Kindes abnormen Ausmaß situationsübergreifend auftreten. ADHS kann Kinder von den ersten Lebensmonaten bis ins Erwachsenenalter in vielen Lebensbereichen beeinträchtigen. Da das Verhalten von Kleinkindern viel variabler ist als bei älteren Kindern, erscheint es besonders schwierig, die Diagnose bei Kindern unter vier oder fünf Jahren zu stellen. Weiterhin sind Symptome der Unaufmerksamkeit bei Kleinkindern schwer zu diagnostizieren, da diese kaum gefordert sind, ihre Aufmerksamkeit für längere Zeit auf eine Aufgabe zu fokussieren (American Psychiatric Association 1994, 119).
Trotz der oben erläuterten Einschränkungen versucht das DSM-IV, ein Klassifikationssystem psychiatrischer Störungen, klar definierte diagnostische Merkmale zur Feststellung von psychischen Störungen, im Speziellen von ADHS, zu beschreiben (American Psychiatric Association 1994, 122f).
Zur Vertiefung: diagnostische Kriterien des DSM-IV für ADHS
A. Entweder Punkt 1) oder Punkt 2) muss zutreffen:
(1) Sechs (oder mehr) der folgenden Symptome von Unaufmerksamkeit müssen während der letzten sechs Monate beständig in einem mit dem Entwicklungsstand des Kindes nicht zu vereinbarenden und unangemessenen Ausmaß vorhanden gewesen sein.
Unaufmerksamkeit:
• beachtet häufig Einzelheiten nicht oder macht Flüchtigkeitsfehler bei Schularbeiten, bei der Arbeit oder bei anderen Tätigkeiten,
• hat oft Schwierigkeiten, längere Zeit die Aufmerksamkeit bei Aufgaben oder beim Spielen aufrechtzuerhalten,
• scheint oft nicht zuzuhören, wenn andere ihn / sie ansprechen,
• führt häufig Anweisungen anderer nicht vollständig durch und kann Spiele, andere Arbeiten oder Pflichten am Arbeitsplatz nicht zu Ende bringen (nicht aufgrund oppositionellen Verhaltens oder von Verständnisschwierigkeiten),
• hat häufig Schwierigkeiten, Aufgaben und Aktivitäten zu organisieren,
• vermeidet häufig, hat eine Abneigung gegen oder beschäftigt sich häufig nur widerwillig mit Aufgaben, die länger andauernde geistige Anstrengungen erfordern (wie Mitarbeit im Unterricht oder Hausaufgaben),
• verliert häufig Gegenstände, die er/sie für Aufgaben oder Aktivitäten benötigt (z. B. Spielsachen, Hausaufgabenhefte, Stifte, Bücher oder Werkzeug),
• lässt sich öfter durch äußere Reize leicht ablenken,
• ist bei Alltagstätigkeiten häufig vergesslich.
(2) Sechs (oder mehr) der folgenden Symptome von Hyperaktivität und Impulsivität müssen während der letzten sechs Monate beständig in einem mit dem Entwicklungsstand des Kindes nicht zu vereinbarenden und unangemessenen Ausmaß vorhanden gewesen sein.
Hyperaktivität
• zappelt häufig mit Händen oder Füßen oder rutscht auf dem Stuhl herum,
• steht in der Klasse oder in anderen Situationen, in denen Sitzenbleiben erwartet wird, häufig auf,
• läuft häufig umher oder klettert exzessiv in Situationen, in denen dies unpassend ist (bei Jugendlichen oder Erwachsenen kann dies auf ein subjektives Unruhegefühl beschränkt bleiben),
• hat häufig Schwierigkeiten, ruhig zu spielen oder sich mit Freizeitaktivitäten ruhig zu beschäftigen,
• ist häufig „auf Achse“ oder handelt oftmals, als wäre er/sie „getrieben“,
• redet häufig übermäßig viel.
Impulsivität
• platzt häufig mit den Antworten heraus, bevor die Frage zu Ende gestellt ist,
• kann nur schwer warten, bis er/sie an der Reihe ist, unterbricht und stört andere häufig (platzt z. B. in Gespräche oder Spiele anderer hinein).
Einige Symptome der Hyperaktivität-Impulsivität oder Unaufmerksamkeit, die Beeinträchtigungen verursachen, treten bereits vor dem Alter von sieben Jahren auf. Die Beeinträchtigungen durch diese Symptome zeigen sich in zwei oder mehreren Bereichen (z. B. in der Schule bzw. am Arbeitsplatz und zu Hause).
Anmerkung: Das DSM bezieht sich vor allem auf Schulkinder und lässt jüngere Kinder außer Acht.
Die Symptomatik ist nicht eine vorübergehende Reaktion auf verschiedene Stressoren, sondern besteht fortwährend und situationsübergreifend. Das erscheint wichtig, da vorübergehende Unruhe (im Zusammenhang mit psychosozialen Stressoren, z.B. Scheidung der Eltern, Übersiedelung oder Geburt eines kleinen Geschwisters) keineswegs „Hyperaktivität“ darstellen, sondern im schlimmsten Fall Anpassungsprobleme sind.
Warum ist dies wichtig? ADHS kann nur dann von Seiten professioneller Helfer zielgerichtet „behandelt“ werden, wenn die Diagnose als solche auch abgesichert ist. In zwei Drittel der Verdachtsdiagnosen handelt es sich jedoch nicht um ADHS, sondern um vorübergehende Anpassungsprobleme, persönliche Verhaltensmuster in speziellen Umgebungen (z.B. immer wenn die Großmutter anwesend ist) oder einfach das Temperament des Kindes.
Die diagnostischen Kriterien werden immer wieder dem neuen Stand der Forschung angepasst und verändert. Es gab für ADHS im Laufe dieses Jahrhunderts schon viele Bezeichnungen, die zum Teil in der Diskussion der Begriffe angeführt werden. So wird im zweiten großen internationalen Klassifikationssystem der „World Health Organisation“, dem ICD-10, die Bezeichnung „Hyperkinetische Störungen“ für dasselbe Störungsbild gewählt. Der Hyperaktivität und Impulsivität werden jedoch in beiden Manualen unterschiedliche Bedeutung zugemessen. Hyperkinetische Störungen im ICD-10 (WHO 1992, 276f) werden folgendermaßen definiert:
»Die Kardinalsymptome sind beeinträchtigte Aufmerksamkeit und Überaktivität. Die beeinträchtigte Aufmerksamkeit zeigt sich darin, dass Aufgaben vorzeitig abgebrochen und Tätigkeiten nicht beendet werden. Die Kinder wechseln häufig von...
Erscheint lt. Verlag | 16.1.2023 |
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Reihe/Serie | Beiträge zur Frühförderung interdisziplinär |
Mitarbeit |
Herausgeber (Serie): Martin Thurmair |
Zusatzinfo | 18 Abb. 13 Tab. |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik ► Sonder-, Heil- und Förderpädagogik |
Schlagworte | ADHS • Aufmerksamkeit • Begleiterscheinung • Elternberatung • Erklärungskonzepte • Frühförderung • Hyperaktives Kind • Hyperaktivität • ICD • Impulsivität • Interdisziplinär • Intervention • Verhaltensmanagement |
ISBN-10 | 3-497-61729-6 / 3497617296 |
ISBN-13 | 978-3-497-61729-6 / 9783497617296 |
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