Vom Verschwinden der Arten (eBook)
256 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12137-7 (ISBN)
Friederike Bauer, geboren 1963, studierte Amerikanistik, Kommunikationswissenschaft, und Politik in München, Los Angeles und Morelia. Sie arbeitete 14 Jahre lang bei der FAZ, zunächst als Volontärin, später als Redakteurin, Korrespondentin und als Mitglied des Kommentierungsteams. Danach war sie in der Entwicklungszusammenarbeit tätig. Seit 2011 arbeitet sie als freie Journalistin, Autorin und Redenschreiberin. Ihr besonderes Augenmerk gilt der Außen- und Entwicklungspolitik sowie dem Thema Nachhaltigkeit. Sie ist Autorin diverser Bücher.
Friederike Bauer, geboren 1963, studierte Amerikanistik, Kommunikationswissenschaft, und Politik in München, Los Angeles und Morelia. Sie arbeitete 14 Jahre lang bei der FAZ, zunächst als Volontärin, später als Redakteurin, Korrespondentin und als Mitglied des Kommentierungsteams. Danach war sie in der Entwicklungszusammenarbeit tätig. Seit 2011 arbeitet sie als freie Journalistin, Autorin und Redenschreiberin. Ihr besonderes Augenmerk gilt der Außen- und Entwicklungspolitik sowie dem Thema Nachhaltigkeit. Sie ist Autorin diverser Bücher. Katrin Böhning-Gaese, geboren 1964, ist Wissenschaftliche Geschäftsführerin des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung-UFZ und Professorin an der Goethe-Universität Frankfurt. Sie erforscht seit 30 Jahren die Wechselwirkungen zwischen Mensch und Natur und die Bedeutung der Biodiversität. Für ihre Spitzenforschung und ihr Engagement im Bereich der Politik- und Gesellschaftsberatung wurde sie 2021 mit dem Umweltpreis der Deutschen Bundesstiftung Umwelt ausgezeichnet.
Kapitel 2
Das große Sterben
Eine schleichende Entwicklung
Indiens Geier zählten noch vor rund dreißig Jahren zu den häufigsten Greifvögeln der Welt – und hatten über Jahrtausende hinweg die Funktion einer Art Gesundheitspolizei: Sie fraßen Aas, darunter auch verendete »heilige« Kühe, die sich aus religiösen Gründen zahlreich auf Indiens Straßen finden. Bis in den Neunzigerjahren das Schmerzmittel Diclofenac in der Tiermedizin populär wurde. Schon bald setzten es Milchbäuer*innen und Halter*innen von Zug- und Lastentieren ein, weil das Medikament sehr kostengünstig ist. Allerdings hat es auch einen fatalen Nebeneffekt: Es löst bei Geiern Nierenversagen aus und ist so giftig wie Zyankali für den Menschen[1], [2]. Innerhalb von 15 Jahren sanken die Bestände dreier Geierarten in Indien um mehr als 95 Prozent. Infolgedessen wurden Kühe nicht mehr wie früher auf natürlichem Wege beseitigt.
Und – vielleicht noch schwerwiegender – die Zahl verwilderter Hunde nahm zu, weil sie mehr Aas fressen konnten. Da Hunde auch Menschen beißen, kam es zu einem deutlichen Anstieg von Tollwutfällen. So hat der Rückgang der Geierpopulationen, was an sich schon beklagenswert wäre, wahrscheinlich auch noch den Tod von fast 50 000 Menschen verursacht[3]. In der Europäischen Union ist das Mittel ebenfalls für die Veterinärmedizin freigegeben. Der erste tote Geier, der nachweislich an Diclofenac gestorben ist, wurde im September 2020 in Katalonien gefunden. Nun steht zu befürchten, dass es auch in Südeuropa, wo das Mittel derzeit vor allem auf dem Markt ist, zu einem Geiersterben kommen könnte – mit noch unabsehbaren Folgen[4].
Das Beispiel zeigt, welche Wirkungen schon das Aussterben ganz weniger Arten mit sich bringen kann. Und es zeigt auch, dass sich Effekte nicht im Vorhinein abschätzen lassen, weil so ein Verlust eine Kettenreaktion auslösen kann. Nun ist das Verschwinden von Arten nicht per se beunruhigend. Sterben gehört zum Leben, auch zur Natur. Tiere und Pflanzen leben in einer sich ständig wandelnden Umwelt. Entweder sie passen sich an, oder sie werden von besser angepassten Arten verdrängt, zum Beispiel weil die Klimabedingungen und Lebensräume sich verändern. Insofern ist das Auftauchen und Verschwinden von Arten nichts Ungewöhnliches, sondern der Normalfall, und gehört seit jeher zum Lauf der Natur und der Evolution. Allerdings ist die Geschwindigkeit, mit der das gerade geschieht, atemberaubend und bewegt sich außerhalb dieser Norm. Sie ist, das kann nicht oft genug betont werden, mindestens zehn bis hundert Mal höher als in der Zeit, bevor der Mensch die Welt dominierte, und deshalb ein klarer Hinweis darauf, dass wir die Verursacher dieses Sterbens sind. Wäre die Erdgeschichte ein Tag mit 24 Stunden, dann würde der moderne Mensch erst einige Sekunden auf diesem Planeten leben. Doch schon in dieser kurzen Zeit hat er bereits drei Viertel der Erde genutzt und übernutzt, den größten Teil davon in den vergangen siebzig Jahren[5], [6], [7].
Dabei wissen wir noch nicht einmal, wie viele Arten es auf der Welt eigentlich gibt. Als wahrscheinlichste Zahl gelten um die acht Millionen[8], es könnten aber auch fünf, zehn, zwölf oder 15 Millionen sein. Tatsächlich verstreicht praktisch keine Woche, in der nicht eine neue Art entdeckt wird. Allein die Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung hat im Jahr 2021 fast 300 Arten neu beschrieben[9]. Dazu gehörte zum Beispiel ein Mini-Frosch, der nur zwischen 27 und 33 Millimeter misst und nun Phrynoglossus myanhessei heißt. Er lebt in Myanmar und wurde längere Zeit übersehen, weil er aufgrund seiner äußerlichen Ähnlichkeit einer anderen weitverbreiteten Art – Phrynoglossus martensii – zugeordnet wurde. Dass es sich um eine neue Art handelte, fiel erst auf, als sich herausstellte: Diese Tiere quaken völlig anders. Eine molekulargenetische Analyse bestätigte die Vermutung – es wurde eine neue Art beschrieben. Solche Funde in der Natur gibt es praktisch permanent, weil ein Großteil aller Arten noch nicht identifiziert ist. Bei der Namensgebung stehen dann übrigens auch immer wieder Prominente Pate. So heißt ein Käfer Agra schwarzeneggeri weil er einen außergewöhnlich entwickelten Bizeps aufweist. Ein paar schleimige Käfer, slime mold beetles, wurden in den USA 2005 nach drei damals wenig beliebten Politikern Agathidium bushi, Agathidiium cheneyi und Agathidium rumsfeldi, Bush, Cheney und Rumsfeld, benannt[10].
Eine Million Arten vom Aussterben bedroht
Aber genauso schnell, wie neue Arten entdeckt und klassifiziert werden, vergeht die Pracht auch schon wieder: Nach Angaben des Weltbiodiversitätsrats (Intergovernmental Platform on Biodiversity and Ecosystem Services – IPBES) sind heute »mehr Arten als je zuvor weltweit vom Aussterben bedroht«, nämlich eine Million von geschätzten acht Millionen. Und das nicht erst in einer fernen Zukunft, sondern bereits in den kommenden Jahrzehnten. Wenn wir nicht massiv gegensteuern, so der Weltbiodiversitätsrat, wird das globale Artensterben in naher Zukunft dramatische Ausmaße annehmen. Das sind düstere Aussichten und zeigt klar die Notwendigkeit zum Handeln.
In der jüngsten Menschheitsgeschichte sind noch relativ wenige Arten als ausgestorben dokumentiert, jedenfalls in den letzten, vergleichsweise gut untersuchten 500 Jahren. Zu ihnen gehören der schon erwähnte Dodo auf Mauritius, der Lappenhopf auf Neuseeland, die Floreana-Riesenschildkröte auf Galapagos und die Rieseneidechsen auf den Kanarischen Inseln[11]. Auch wenn solche Zahlen wegen der vielen unbekannten Arten mit großer Vorsicht zu genießen sind, lässt sich festhalten, dass zum Beispiel bei den Säugtieren in den vergangenen fünf Jahrhunderten »nur« zwischen ein und zwei Prozent verloren gegangen sind[12], ähnliches gilt auch für Vögel. Das wäre an sich eine gute Nachricht. Aber sie ist trügerisch: Denn erstens sind bereits während der Eiszeit und bis zum Jahr 1500 Hunderte von Säugetieren und Vögeln ausgestorben, viele davon groß und imposant, wie das Mammut, Wollnashorn, der Riesenhirsch, der Höhlenlöwe, die Säbelzahnkatze, auch die bis zu drei Meter großen Riesenkängurus Australiens oder riesige Lemuren und Elefantenvögel auf Madagaskar. Und zweitens wissen wir oft gar nicht, was bereits verloren wurde, vor allem bei den vielen kleinen Tier- und Pflanzenarten. Etwa ein Drittel aller Wälder sind schon verschwunden[13]. Was darin gelebt hat, ist zu einem großen Teil nicht bekannt. Und schließlich schrumpft seit einigen Jahrzehnten der Bestand vieler Arten dramatisch; und mit ihm steigt das Risiko des Totalverlustes rapide an. Der Schwund findet also noch unterhalb der Aussterbeschwelle statt, ist deshalb aber nicht ungefährlich, nur noch nicht überall spür- und erfassbar oder gar dokumentiert.
Einigermaßen belastbare Daten über die Veränderungen der Bestände sind erst seit zirka 1970, also seit etwa fünfzig Jahren, und nur für wenige Artengruppen und Länder verfügbar: Das Aussterben von Arten ist der Endpunkt dieser unheilvollen Entwicklung, vorher schrumpfen die Bestände – und zwar in den letzten Jahrzehnten ganz massiv: In dieser Zeit sind über zwei Drittel der erfassten Säugetiere, Amphibien, Reptilien, Fische und Vögel verschwunden[14]. Und das betrifft nicht nur seltene Arten, sondern mittlerweile auch die häufigen, insbesondere die in der Agrarlandschaft. In Deutschland zum Beispiel sind in ganzen Regionen sogar Feldlerchen, Schwalben, Kiebitze, Rebhühner oder Stare gefährdet[15]. Vögel, die noch vor einigen Jahrzehnten überall zu entdecken waren. Besonders dramatisch ist der Rückgang beim Kiebitz: seit 1980 um 93 Prozent, beim Rebhuhn um 91 Prozent und bei der Turteltaube um 89 Prozent[16]. Auch Stare gelten in Deutschland mittlerweile als gefährdet. Sie zählen eigentlich zu den am weitesten verbreiteten Vogelfamilien der Welt und umfassen fast 120 Arten[17]. Unsere Stare sind wegen ihrer großen, spektakulären Formationsflüge bekannt, sie leben eigentlich in Wäldern oder im Grasland, aber heute wegen der zum Teil alten und höhlenreichen Bäume auch in Parks und auf Friedhöfen. Sie sind wichtige Schädlingsbekämpfer und dazu berüchtigte Kirsch- und Traubenräuber. Doch mittlerweile brüten in Deutschland nur noch geschätzte drei bis vier Millionen Paare und damit etwa...
Erscheint lt. Verlag | 22.4.2023 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Artenerhalt • Artengeschichte • Artenschutz • Artensterben • Artenvielfalt • Bestseller • Bienen • Bienensterben • Biodiversität • Buch • Erderwärmung • Erdgeschichte • Erdversiegelung • Erhaltung der Pflanzen • Evolution • Evolutionsgeschichte • Green Bonds • Insektensterben • Klimakatastrophe • Klimakrise • Klimapolitik • Klimaschutz • Klimawandel • Massenaussterben • Massensterben • Nachhaltigkeit • Naturschutz • Ökolandbau • Ökosystem • Pflanzenvielfalt • Ratgeber • Sachbuch • Umwelt • Umweltbewegung • Umweltverschmutzung • Umweltzerstörung |
ISBN-10 | 3-608-12137-4 / 3608121374 |
ISBN-13 | 978-3-608-12137-7 / 9783608121377 |
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